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Zwölfter Gesang

Noten: Johannes Brahms

 



Schriebl, so hieß das Gehöfte, und Siemon, so hießen die Leute,
Die es gepachtet hatten seit vielen Jahren und dort im
Schweiße des Angesichts die kärgliche Erde bebauten.
Stundenweit über dem Dorf und der jetzigen Grenze des Hochwalds
Lag die bescheidene Wirtschaft am Rand eines uralten Schlages,
Dessen Strünke und Wurzeln wie Riesengebeine der Vorzeit
Stürme- und güsseverwittert verkarstendes Erdreich bedeckten.
Aber jenseits des Schlages begannen die Almen und Matten,
Die sich, von Krummholz bestanden und niedern Wacholdergesträuchen,
Schimmernd zum Rücken empor des gewaltigen Volland erhoben,
Bloß ums Gehöfte herum, als freilich nur dürftiger Windschutz,
Ragten vereinzelte Lärchen aus sumpfig verdunkeltem Moosgrund,
Sonst doch nirgends ein Baum, der aufrecht den Stürmen noch Trotz bot.

Und es war im November. Die mächtig umgebenden Höhen
Glänzten seit Wochen im Schnee, und dennoch waren die Lüfte
Über dem Passe gelinde. Den nächtlich sich bildenden Rauhreif
Schmelzte die Sonne noch immer an jedem Morgen, die Matten
Tauten dann glitzernd auf, von den oberen Hängen herunter
Rieselten Adern und Bächlein, die Stapfen der werdenden Rinder
Sprenkelten schwärzlichen Brauns die wasserdurchsickerten Gründe,
Und vor dem Hause ein Quell, aus bemoost und umrindetem Holzrohr,
Schwatzte mit plätscherndem Fall in das Glucksen und Raunen der Läufte.

Hier nun lebte geborgen seit jener Nacht des Entsetzens
Cordula, gerne gesehn und betreut von den biederen Leuten,
Denen sie fleißig half, soweit es ihr Zustand noch zuließ.
Und er beirrte sie kaum. Sie trug des werdenden Lebens
Last mit der spielenden Kraft des sehnig-geschmeidigen Körpers,
Der an die Arbeit gewöhnt und in steter Bewegung geübt ist.
Nichts von der fahlen Erschlaffung, die vielen Erwartenden eigen!
Straffer war ihre Gestalt vom rüstigen Schaffen im Freien,
Frischer ihr Angesicht in der köstlichen Bergluft geworden,
Magdlicher blühte die Stirn ihr, und ruhiger weilten die Augen,
Wenn auch vom Wissen umflort um die tückischen Launen der Menschen.

Siemons hatten ein Kind, eine spätgeborene Tochter,
Die schon seit ihrer Geburt an beiden Beinen gelähmt war.
Cordula kannte sie lange und hatte die Kranke auch früher
Öfters im Jahre besucht, jetzt aber schloß sie die Ärmste
Ganz in ihr mütterlich Herz und lehrte sie immer des Abends,
Eh sie mit ihr in der Kammer zu Bett ging, lesen und schreiben.
Festliche Zeit für das Kind! Da mochte draußen der Nachtwind
Leise die Hütte umwehn oder heulend als Sturm sich gebärden,
Oben im niederen Dachraum, durchduftet vom harzigen Holzrauch,
Blühte die Andacht auf aus Cordulas altem Gebetbuch,
Und dem vergilbten Kalender aus Olims Zeiten entstiegen
Bunt vor der Seele des Kindes die magischen Bilder des Lebens.
Wenn dann die Kleine endlich, zum Schlummer versorgt und gebettet,
Selig in Träume entrückt war, da schob die ältere Freundin
Näher zum eigenen Pfühl das leise brodelnde Lämpchen,
Nähte aus allerhand Leinwand, die Mutter Siemon gespendet,
Winziges Wäschezeug und versann sich bis tief in die Nacht noch:
Sanft war das Leben mit ihr ja nicht verfahren, für Liebe
Hatte sie Schande geerntet, für Arbeit und Plage, nur Armut;
Aber stille davon! Des Mädchens tapferes Herz schied
Alles, was Gift war, aus, und wenn dann der Morgen herankam,
Sanken die Lider auch ihr, der Auslaufbrunnen am Hause
Schläferte silbernen Wohllauts die bangen Gedanken zur Ruhe,
Schauder der Frühe verkühlten das pochende Fieber der Schläfen,
Und sie erwachte gestärkt nach kurzem Schlummer zum Tage.

Unten im Dorfe die Leute wußten um Cordulas Zuflucht,
Doch auf den Schriebl herauf kam niemand von ihnen in diesen
Zeiten des winternden Jahres. Nur einmal am Feste Martini
Brachte ein Kind einen Brief von der Krankenkassa der Landstadt:
Alle Spitäler belegt mit blessierten Soldaten, für junge
Mütter nirgends ein Raum, noch geeignete Nahrung; da sei es
Immer das Bessere noch, das Ereignis lieber zu Hause
Abzuwarten. Zu Hause? Da schluchzte freilich das Mädchen
Manchmal bitterlich auf und fühlte sich elend und mutlos,
Aber auch dieses verging, und als nach gesegneten Tagen
Köstlichen Friedens auch jener des Abschieds vom Schriebl herankam,
War sie schon wieder beruhigt und heiter-gewärtiger Seele.

Zögernd erhob sich der Morgen in jener Frühe; des Nachts war
Bis zum Gehöfte herunter Neuschnee reichlich gefallen,
Nebel umhingen das Haus und verhüllten die Tiefen und Höhen.
Cordula hatte ihr Bündel schon gestern heimlich gerüstet,
Schlich auf behutsamen Zeh'n aus der Kammer des schlafenden Kindes,
Stärkte sich noch auf den Weg am geheizten Herde und nahm dann
Urlaub von ihren Wirten. Es waren nur wenige Worte,
Die da gewechselt wurden: »Vergeltsgott!« und »Glück auf die Reise!«,
Aber oben im Dache umhielten zwei kränkliche, blasse
Händchen ein altes Gebetbuch, ein plötzlich von Ahnung erwachtes
Antlitz erhob sich mühsam, gewahrte Kammer und Bettstatt
Leer und – lauschte noch lang auf ein Etwas, das immer noch nachklang,
Während das Mädchen schon längst an jene Stelle gekommen,
Wo man zum letzten Mal noch, bevor es zu Tal geht, den Schriebl
Ferne erblicken konnte. Da hatte die purpurne Sonne
Weichenden Dünsten obsiegt, nur rosig-vergehende Wölkchen
Hafteten noch im Geklüfte, die schneeüberbreiteten Gipfel
Brannten wie glühender Stahl in die glanzlos schwärzliche Bläue,
Aber die Täler erfüllte nun umso dichterer Nebel.
Und durch dies Element, dies feindlich-drohende, mußt nun,
Cordula, du hinab, deinem irdischen Schicksal entgegen!
Noch, noch gehst du im Lichte und atmest silberne Wölkchen
In die kristallene Klarheit der eisigen Lüfte, doch jetzt schon
Nur mehr wenige Schritte, dann legen sich Schleier um Schleier
Immer dichter um dich, kaum siehst du den Weg mehr, des Tages
Köstliche Bläue verlischt, und fröstelnd-dämmrige Nacht wird!

Und der Abstieg begann. Über nässeschlüpfrig Gerölle,
Gräserdurchwachsene Halden und sumpfig-durchsickerten Moosgrund
Ging's eine Weile hinab, beschwerlich; dann aber tauchte
Mählich vor Cordulas Blick die oberste Vorhut des Walds auf:
Einzelne Schattengespenster verwetterter Lärchen, dann Birken,
Starrend im gelblichen Braun des frostüberdauernden Laubes,
Ebereschen sodann mit farblos-verschrumpften Behängen
Sonst so leuchtender Beeren, und endlich, nachdem sie durch junge
Pflanzungen lange geschritten, enttrat auf einmal dem Nebel
Wie eine finstere Wand die Fichtenflanke des Hochwalds.
Und hier war auch das Kreuz, ein uralt-vermodertes Holzkreuz,
Welches den Heiland trug und bei dem die Wege sich teilten:
Einer hinab in das Dorf und, dieses umgehend, der andre.

Cordula zögerte nicht und wandte sich dorfwärts; denn was sie
Dort auch immer erlebt an Traurigem, Bitterm und Bösem,
Ohne Abschied vom Pfarrer wollte sie nicht in die Fremde;
Aber je länger sie hinschritt, umso beklommener ward ihr.
Freilich war es kein Grauen vor Wesen und wirklichen Dingen,
Das sie nun überlief in dieser verhangenen Wildnis,
Doch der Weg, den sie jetzt ging, er war der nämliche Abstieg,
Den sie im Frühling dereinst am Tag vor Fronleichnam genommen –
Alpenrosen im Arme und Himmelschlüssel in Händen!
Und die Erinnerung kam aus Korallentiefen der Seele:
Damals erklangen die Wipfel von reizender Lockung, aus Büschen
Flötete Antwort zurück, und Heidel- und Preiselbeerkräuter
Würzten mit prickelnden Düften den liebenden Aushauch der Erde;
Jetzt doch nirgends ein Laut lebendigen Regens, nur manchmal
Über der lastenden Wolke Gekrächze sich sammelnder Krähen.
Damals ging es hinab zu Fahnen und Farben, im Herzen
Hochzeitliches Geläute, und selbst noch im Zweifel war Hoffnung;
Jetzt doch, grau war die Welt, die Hoffnung zuschanden, der Zweifel
Schlimmste Gewißheit geworden und nirgends Anhalt und Zuflucht! –
Cordula, schmerzhafte Magd, wo führt dein Weg hin? Wo wird dir,
Wenn deine Stunde genaht, die Bürde des heiligen Lebens
Abzusetzen erlaubt sein? Glaubst du noch immer an Menschen,
Welche die Hungrigen speisen, die Dürstenden tränken und wunden
Füßen ein Labsal bereiten? Ist dir da unten bei jenen,
Welche dich ausgetrieben mit Schimpf und Verachtung, ist dort dir
Irgend ein Stall so gewiß, bei Ochs und Esel ein Kripplein,
Wo du dein Kindlein bettest, und wär' es auf Stroh nur und Lumpen?
Aber die Engel lobsängen: Ehre sei Gott in der Höhe!
Aber die Könige kämen mit Gold und Myrrhen und Weihrauch,
Anzubeten das Kind: den du dir gebarst, deinen Heiland! –

Da erwachte die Magd und hemmte die Schritte und lauschte:
»Anzubeten das Kind? Den du dir gebarst, deinen Heiland?« –
Ewiger Muttertraum! – War dies eine wirkliche Stimme,
Die es ihr zugeraunt, um sie zu versuchen, gewesen?
Wohl, laut schlug ihr das Herz, und noch ein anderer Pulsschlag
Rief sie geheimnisvoll aus tiefsten Verließen des Bluts an,
Aber der Wald war still, nur Nässe tropfte in allen
Bäumen von Zweigen zu Zweigen, an jeder einzelnen Nadel
Hing die kristallene Träne und zögerte, eh sie herabfiel.
Da doch, indes sie noch stand und horchte und schaudernd um sich sah,
Kam's durch die tosende Stille der lautlos flutenden Nebel
Wie aus der anderen Welt, wie ein Atemholen von fernen
Ehern-beseelten Lungen: Geläute! Wirklich Geläute?
Heute am Werktag vor Mittag? Das war kaum möglich, und dennoch:
Anderes konnt' es nicht sein, was da klang, als Übelbachs Glocken!

Und nun ging sie nicht lang mehr, da war auch die Wolke durchschritten;
Dämmernde Schleier verzogen, die Wipfel der finsteren Fichten
Wurden allmählich sichtbar und Himmelsahnung darüber.
Schon begann auch der Hohlweg, der erlenumbuschte, die Wiesen
Senkten sich sanfter hinab, die gepflügten Felder von unten
Stiegen bräunlich heran, aus kahlem Wipfelgewirre
Hob sich die Spitze des Kirchturms, und Cordula stand bei dem Bänkchen
Unter der einsamen Fichte, wo einst am Tag vor Fronleichnam
Thomas, der Pächter vom Volland, für immer Abschied genommen,
Stand und blickte hinab auf die Dächer des Dorfes und sah den
Platz vor der Kirche erfüllt von ungewöhnlichem Leben:

Übelbach war auf den Beinen! Ein schwärzlich Gewimmel von Menschen
(Weiber und Kinder zumeist, in ihren Werktagsgewändern)
Hielt sich in Gruppen beisammen, um wieder einmal nach etwas –
Ob es nun Hochzeit galt oder Kindstauf' oder Begräbnis! –
Klatschend und tratschend zu gaffen. Da brachte auf einmal ein dünnes,
Helles Trompetensignal Bewegung unter die Leute:
Alles drängte zur Mitte des Platzes, Feuerwehrhelme
Funkelten plötzlich auf, das Messing von Blasinstrumenten
Schimmerte zwischen den Köpfen, und unter Glockengeläute,
Während mauerngedämpft die Orgel erbrauste, marschierte
Über den Kirchenplatz, die Hüte mit glitzernden Buschen
Über und über geschmückt, ein Zug von Männern und machte
Front mit dem Rücken zum Schulhaus und stand in Reihe und Glied da.
Jetzt erst entsann sich das Mädchen, und plötzlich erkannte sie deutlich
Meister Oremus, den Schmied, der die anderen hoch überragte,
Zaunschirm, den Feuerwehrhauptmann, Hitzgern, den Maurer, und ganz am
Linken Flügel der Front, das Haupt wie gewöhnlich ein wenig
Spöttisch zur Seite geneigt, den mephistophelischen Schreiner!
Aber die andern Rekruten waren halbwüchsige Burschen,
Kaum erst der Schulbank entwöhnt, aus dem weitern Gebiet der Gemeinde!
Da doch verstummten die Glocken, Kommandorufe ertönten,
Letztes Winken geschah, und unter Trompetengeschmetter,
Unter Tschinellengeklirre und Trommelgepolter begab sich
Dieser traurige Zug von alternden Männern und Knaben,
Mit Hurra und Hallo von den Gassenkindern begleitet,
Unbeholfenen Marschschritts dem unteren Teile des Dorfs zu.

Übelbach, Örtchen im Glück, wer wird dir von nun an die Schuhe
Fertigen, wer deinen Giebeln die Flammen wehren, wenn Zaunschirm,
Schuster und Feuerwehrhauptmann, im Feld ist? Wer deinen Pferden
Eisen an Hufe schlagen und wer deinen rissigen Mauern
Mörtel geben und Halt, wenn Oremus, der Hufschmied, und Hitzgern
Unter die Streiter gegangen? Doch wer vor allem wird deinen
Toten die Särge zimmern, auf daß man sie christlich begrabe,
Wenn Herr Hiebaum, der Schreiner – ? Allein, was scheren dich Tote,
Übelbach, Dörfchen im Glück? Dir bleiben ja Lebende reichlich,
Die deinen Aufschwung besorgen! Der lendengewaltige Selcher,
Hahn im Korbe nunmehr bei dem Weib des Gendarmen, vergießt auch
Fürder das Blut seines Stechviehs – zu deinem Vorteil und seinem!
Frischenschlager, der Bäcker, bäckt weiter für Schieber und Dirnen,
Die dich im Winter nun auch zum Liebesneste erkoren,
Kuchen und duftendes Weißbrot zur übrigen Friedensverpflegung!
Johann Baptist Populorum sowie seine staatlich geprüfte
Gattin vertreiben auch weiter im großen Stile die Mittel
Für und gegen das Leben an Leute, welche bei Geld sind,
Und sie alle zusammen, durchwegs die rüstigsten Männer,
Streuen nahrhaften Sand auch fürder ins Aug des Gesetzes,
Daß es geschlossen bleibe und ihre Geschäfte nicht störe!
Und was den Gastwirt betrifft, deinen Ortsvorsteher, so hat er
Seinen Andreas, den Sohn, auch diesmal wieder vom Kriegsdienst
Freibekommen, damit – der Pschunder auf Erden nicht ausstirbt!

Und die Musik verlor sich die Straße zum Bahnhof hinunter,
Wurde zum bloßen Geräusche, aus dem nur manchmal der lange
Ruf eines einzelnen Hornes, vom Wind auf die Flügel genommen,
Immer ferner erklang zum Pochen der türkischen Trommel,
Bis auch dieses verwehte. Dann lag das Dorf und die Landschaft,
Jenes wie ausgestorben mit leergewordenen Gassen,
Diese nur himmelbelebt von Schwärmen krächzender Krähen,
Unter dem düstern Gewölke in winterlich-schweigendem Grau da,
Und über Wiesen hinab, vom erhabenen Platz bei der Fichte,
Kommst nun auch, Cordula, du dem Tal zu, um Abschied zu nehmen:
Abschied vom Dorfe im Glück, dem Ort deines Schicksals, und jenem
Einzigen Menschen in ihm, der immer dein gütiger Trost war.
Nur noch wenige Schritte, so tritt er dir lächelnd entgegen,
Lädt dich zu sitzen ein, und während die tickenden Uhren
Rings an den Wänden, auf Kasten und Simsen vertraulich beredt sind,
Spricht er von diesem und jenem mit dir und vermeidet behutsam,
Dich um etwas zu fragen. Du aber hast nur den einen
Wunsch, ihm alles zu sagen, oh alles, damit dieser Eine,
Der dir noch gut ist auf Erden, wisse, daß du nicht schlecht bist!
Dann doch, wenn dieses geschehen und du ihm alles gebeichtet,
Wem sich die Härte gelöst hat, der Panzer wider Verachtung
Unberufener Richter, die Notwehr wider Verfolgung,
Wirst du zu Füßen ihm knieen, und er, er wird dich erheben
Und mit dem Worte des Heilands: »Dein Glaube hat dir geholfen!«
Wird er dir kraft seines Amtes, zu binden oder zu lösen,
All deine Fehle verzeihen und segnen die Frucht deines Leibes ...

Und schon nahte die Magd den Wirtschaftsgebäuden des Pfarrhofs,
Denen der ländliche Duft von Ställen und Scheunen entströmte,
Und sie steht vor der Einfahrt des brettergebildeten Hoftors
Lauschend und pochenden Herzens. Da wird es drinnen lebendig.
Wittern die Hunde dich schon, o Cordula, daß sich im Hofe
Helles Gebelle erhebt und freudiges Winseln und Springen
Wider die trennende Planke und Kratzen an ihr mit den Pfoten?
Und du entriegelst das Tor und stehst nun im Hofe, und jauchzend
Springen die Rüden dich an. Die abgemagerten Tiere
Lecken dir Hände und Füße, und mühsam nur kannst du dich ihres
Heftigen Andrangs erwehren. Da tritt aus der niedrigen Stalltür,
Um nach dem Grund des Gebelles zu schauen, mit hölzernen Schritten,
Weit nach vorne gekrümmt, eine Narbe über dem Auge,
Vitus, der Arme im Geiste, und sieht und erkennt dich, und Lachen,
Weinen und wieder Lachen und Weinen erschüttert die treue
Stammelnde Kreatur wie Sturmwind. Da wollen die rauhen
Abgerissenen Laute und viele wirre Gebärden,
Wollen dir alles erzählen und finden nur sinnlosen Ausbruch,
Welchem du nichts entnimmst und den du ratlos beschwichtigst,
Bis dich der Knecht an der Hand nimmt und hinter sich her in das Haus zieht.
Und du trittst in die Küche. Da brennt kein Feuer im Herde,
Und vom Geräte entblößt sind die Kasten, Gesimse und Wände.
Und du stehst in die Kammer der Greisin, und schaurige Kälte
Schlägt aus dem Raum dir entgegen, in dessen verwahrloster Ecke
Nur mehr ein eisernes leeres, matratzenberaubtes Gestell steht.
Und du irrst durch die Gänge gespenstisch hallender Schritte,
Drückst auf die Schnallen der Türen, die alle verschlossen, und endlich
Hältst du vor der Kanzlei. Da hängt an der Türe ein Zettel:
»Komme in einer Stunde«, und neben der Tür auf dem Gange
Steht ein Tisch, den du kennst, und auf dem Tische, da liegt ein
Staubiges Durcheinander von Uhren und Teilen von Uhren,
Winzige Schräubchen und Rädchen, Gläser und Scherben von Gläsern
Und, inmitten des Wustes, verwaist und zwecklos geworden,
Allerhand einfaches Werkzeug, wie es der Pfarrer benützt hat,
Wenn er in einsamen Nächten die müden metallenen Herzchen
Wieder in Gang zu setzen mit liebendem Eifer bemüht war.
Und da fühlst du auf einmal, wie schwer dein Körper geworden,
Fühlst, wie matt deine Kniee, wie wund deine Füße und daß du –
Oh, wie warst du doch reich noch vor Augenblicken gewesen! –
Ohne Segen und Trost nun hinaus in die feindliche Welt mußt!

Lange brauchte die Magd, um sich allmählich zu fassen,
Dann verließ sie den Pfarrhof, und über den Platz vor der Kirche
Schritt sie, von niemand begegnet, dem Wiesenende des Dorfs zu.
Barhaupt geht sie einher in der mütterlich-hohen Beschwernis
Ihres gesegneten Leibes. Die schimmernde Fülle des Haares
Krönt wie ein Leuchten ihr Haupt, und die herber geschlossenen Lippen
Zeichnen den schmerzlichen Mund in das strenger gewordene Antlitz.
Dir aber, Cordula, folgt in rührend linkischer Ehrfurcht
Vitus, der Arme im Geiste. Er trägt dein bescheidenes Bündel –
Oh, wie noch süßer ist dies, als im Umgang die Trommel zutragen! –
Wie man ein Heiligtum hält, in behutsamen Händen vor sich her.
Und schon zieht ihr vorbei am Gemeindehause, da hörst du
Hellen Gesang aus den Fenstern, und neben dem Hause im Hofe
Spaltet der fleischige Arm der Gerechtigkeit Holz für die Wirtschaft.
Eigentlich wär' er berechtigt, dich anzuhalten und deine
Ausweispapiere zu heischen! Du bist ja erwerbslos, und solche
Leute sind immer verdächtig, doch da an der Biegung der Straße
Hast du den Friedhof erreicht. Hier schlummert dein Freund nicht, den hat man
Wohl, wie er immer gewollt, in seiner Heimat begraben!
Doch an der Mauer dafür die Bank, sie steht noch wie damals,
Da du zum letzten Male – die Sterne hingen wie Tropfen
Eisig glitzernden Taus am leuchtend entfalteten Himmel! –
Liebe und Treue gewähnt und der Lockung des Lebens erlegen.
Aber auch dies ist vorbei, und nichts als die endlose Straße
Liegt als ein Rätsel vor dir. Da nimmt dich ein kleines Gehölz auf,
Und hier ist auch die Stelle – ein Wildbach stürzt sich zu Tal da –
Wo ein uralter Grenzstein an längst verjährte Gemarkung
Mahnt und wo du dich anschickst, von Vitus Abschied zu nehmen.
Aber der Arme im Geiste, er will es nicht fassen, das Bündel
Hält er wie wehrend vor sich, die angstvoll erweiterten Blicke
Hängen an deinen Lippen, er möchte erwidern und kann nicht,
Bis er in Demut sich beugt und auch dieses Kreuz aus den Händen
Seiner Herrin auf sich nimmt; und dann – indessen vom Ort her
Längst es zu Mittag geläutet – steht dieser eine Gerechte,
Der in dem glücklichen Dorf am Volland zurückbleibt, noch immer
Selbst wie ein Steinbild am Grenzstein und starrt auf die Stelle der Straße,
Wo ihm dein Umriß verschwand und dein letztes Grüßen gewinkt hat.

Cordula, schmerzhafte Magd, wo führt dein Weg hin? Wo wird dir,
Wenn deine Stunde gekommen, die Bürde des heiligen Lebens
Abzusetzen erlaubt sein? Glaubst du noch immer an Menschen,
Welche die Hungrigen speisen und Müden ein Labsal bereiten?
Alle Spitäler belegt mit blessierten Soldaten, für Mütter
Weder irgend ein Raum noch geeignete Nahrung! Ist dir da
Irgendwo auf der Welt bei fremden gleichgültigen Leuten
Auch nur ein Stall so gewiß, bei Ochs und Esel ein Kripplein,
Wo du dein Kindlein bettest, und war' es auf Lumpen und Stroh nur?
Aber die Hirten lobsängen: Ehre sei Gott in der Höhe!
Aber die Könige kämen mit Gold, mit Myrrhen und Weihrauch,
Anzubeten das Kind! – Oh, Träume, Cordula, Träume!
Dornen sind dir gesäet, und Steine werden dein Brot sein,
Ach, wo immer du gehst und wo immer du anklopfst. Denn siehe,
Übelbach ist ja ein Dorf nicht, in seiner Art einzig, kein Ausbund
Unter den Orten und Stätten der erdebewohnenden Menschen,
Übelbach ist ja die Welt, und die derbe Begierde, zu raffen,
Selber in Freveln zu blühn und die Unschuld büßen zu lassen,
Ist ja der Irdischen Art! Noch immer haben die Lauten
Leisere niedergeschrieen, die Rohen die Zarten geknechtet,
Schurken die Guten gemißbraucht! Noch immer auch ruhte das Schicksal,
Welches im Großen bestimmte die Lose der Menschengeschlechter,
Nicht bei den Weisen und Edeln! Nein, immer noch waren's die Gaukler,
Rollenerschleicher der Macht und Fälscher der hohen Begriffe,
Welche mit Lockung und Peitsche für dieses oder für jenes
Wahnwort die gläubige Herde von Schlachtbank zu Schlachtbank getrieben,
Und so werden sie's treiben, solange die Welt steht! Und dennoch:
Auch, solange die Welt steht, wird immer wieder ein reines
Kindlein geboren werden, um dessen willen der Herr die
Erde so schön gemacht und den Herzen die Hoffnung gegeben!
Und eine Mutter wie du – gegrüßet seist du, Maria! –
So es in Demut empfangen und hart und getrost in der Not ist,
Wird ihm die Brüste reichen, auf daß es lebe und stark sei,
Selbst eine Welt sich zu schaffen aus seinen Träumen! Denn anders,
Wenn wir an dieses nicht glaubten für unsere eigenen Kinder,
Wäre die Erde ein Ort der bloßen Verzweiflung, die Zeugung
Schuld nur am neuen Geschlechte, kein Frieden erlöste in Gräbern,
Und es verlohnte sich nicht, den Menschen die Leier zu rühren.


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