Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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7.

»So viel ich mich von allem, was du uns mit deiner gewöhnlichen Weitläuftigkeit von der Erziehung des jungen Tifan erzählt hast, erinnern kann« (sagte Schach-Gebal, als Danischmend sich zu gewöhnlicher Zeit anschickte seine Erzählung fortzusetzen), »so mag unter den Händen des ehrlichen Dschengis eine ganz gute Art von Jungen aus ihm geworden sein; aber noch sehe ich, mit deiner Erlaubnis, nicht, wie er dadurch der große König werden konnte, den du uns erwarten gemacht hast.«

»Sire«, versetzte Danischmend, »alles warum ich Ihre Hoheit bitte, ist noch ein wenig Geduld zu haben, und ich bin überzeugt, es wird Ihnen in wenig Tagen kein Zweifel über diesen Punkt übrig bleiben.

Die Größe und Erhabenheit, wozu Dschengis die Begriffe seines Lehrlings empor zu treiben sich bemüht hatte, machten es notwendig, daß er ihm zu gleicher Zeit eine vollständige Kenntnis von dem gesellschaftlichen Leben, von dem was man einen Staat nennt, und von der Einrichtung, Polizei und Verwaltung desselben geben mußte. Er tat es: und nachdem er dem jungen Tifan gezeigt hatte, wie dieser Erdball, vermöge der richtigen Begriffe von der Natur und Bestimmung des Menschen, aussehen und regiert sein sollte; so machte er ihm nach und nach begreiflich, wie es zugehen könnte, daß alles ganz anders wäre als es sein sollte. Von dem anschauenden Begriffe der kleinen Kolonie, in welcher er aufgewachsen war, brachte er ihn stufenweise bis zu dem verwickelten Begriff einer großen Monarchie, von dem ländlichen Hausvater bis zu dem großen Hausvater von Scheschian. Der Prinz folgte ihm in allen diesen Erörterungen ohne sonderliche Mühe. Aber desto größere Schwierigkeit hatte es, ihm begreiflich zu machen, wie aus dem allgemeinen Vater einer Nation ein willkürlich gebietender Herr, und aus diesem Herren, mit einer kleinen Veränderung, ein Tyrann habe werden können.

Der junge Prinz erschrak nicht wenig, wie er vernahm, daß die schönen Ideen von unschuldigen Menschen und goldnen Zeiten, die mit ihm aufgewachsen waren, nur goldne Träume seien, aus denen ihn eine kleine Reise durch die Welt auf eine sehr unangenehme Art erwecken würde.

Sein Verlangen eine Reise, welche ihn so viel Neues lehren würde, zu machen, nahm mit der heftigsten Begierde, allen Drangsalen seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, täglich zu; und Dschengis trug um so weniger Bedenken, diesem Verlangen nachzugeben, je notwendiger es war, ihm eine ausführliche und anschauende Kenntnis von allen den Mißbräuchen, Unordnungen und daher erwachsenden Übeln zu verschaffen, welchen (wenigstens in einem beträchtlichen Teile des Erdbodens) ein Ende zu machen, seine große Bestimmung war. Überdies hatten die gesunden Grundsätze seiner Erziehung zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, als daß von der Ansteckung der Welt etwas für ihn hätte zu besorgen sein sollen. Im Gegenteil erwartete er, daß der Anblick alles des mannigfaltigen Elends, welches sich die Menschen durch Entfernung von den Gesetzen der Natur zugezogen haben, den jungen Tifan von der unumgänglichen Notwendigkeit ihrer Befolgung nur desto lebhafter überzeugen werde.

So viel Mühe Tifan hatte, sich von seiner Geliebten und von seinem kleinen Sohne los zu reißen, so überwältigte doch die Ungeduld seiner Neugier, die Welt besser kennen zu lernen, die zärtlichen Regungen der Natur. Er entfernte sich also zum ersten Male von den friedsamen Hütten, worin er, der Welt unbekannt, die glückliche Einfalt seiner Jugend verlebt hatte, und durchwanderte in der Gesellschaft des getreuen Dschengis drei Jahre lang einen großen Teil von Asien. Er lernte die Natur unter tausend neuen Gestalten kennen, und erstaunte über die mannigfaltigen Wunder, wodurch die Kunst sie nachzuahmen, ja selbst zu übertreffen und zu verbessern sucht. Aber er erstaunte noch mehr, wie er sah, daß der elende Zustand der Völker durchgehens desto größer war, je mehr Natur und Kunst sich zu vereinigen schienen sie glücklich zu machen. Die schönsten und fruchtbarsten Provinzen waren immer diejenigen, in welchen das Volk auf die unbarmherzigste Weise unterdrückt wurde. Tifan sah mit Entsetzen Könige, welche das Vermögen ihrer Untertanen wie einen dem Feind abgejagten Raub in den ungeheuersten Ausschweifungen der Üppigkeit verpraßten; Könige, welche das kostbare Blut der Menschen in mutwilligen Kriegen verschwendeten, und sechs blühende Provinzen zu Einöden verwüsteten, um die siebente zu erobern, deren Behauptung es ihnen unmöglich machte, ihren Völkern die Vorteile des Friedens jemals auf zehn Jahre zu versichern. Er sah Könige, welche, aus tiefer Untüchtigkeit zu allen ihren Pflichten, die Verwaltung des Staats Kebsweibern und Günstlingen überlassen mußten, und, während daß sie ihr unrühmliches Leben in Müßiggang und sinnlichen Wollüsten verträumten, sich nicht schämten, von hungrigen oder raubgierigen Schmeichlern mit den besten unter den Fürsten, ja mit der Gottheit selbst sich vergleichen zu lassen. Er sah kleine Rajas, die ihre Untertanen und sich selbst zu Bettlern machten, um sich eine Zeit lang, unter dem allgemeinen Naserümpfen der Welt, das lächerliche Ansehen zu geben, mit den größten Monarchen Asiens in die Wette geschimmert zu haben. Er sah einen sehr guten, sehr liebenswürdigen Fürsten das Unglück seiner Staaten bloß dadurch vollkommen machen, weil ihm sein böser Genius ein allgemeines Mißtrauen gegen alles was ihn umgab, eingeflößt hatte. Kurz, er lernte die Sultanen, Visire, Omras, Mandarinen, Mollas, Derwischen und Bonzen seiner Zeit kennen, und verwunderte sich nun nicht mehr, warum er den größten Teil von Asien in einem Verfall sah, welcher einen baldigen allgemeinen Umsturz ankündigte. Bei allem dem machte er tausend nützliche Beobachtungen, und hier und da, oft unter einem unscheinbaren Dache, die Bekanntschaft eines weisen und rechtschaffenen Mannes, oder eines unbekannten und unbenützten Talents. Dschengis ließ keine Gelegenheit vorbei, wo er ihn die Anwendung seiner Grundsätze zu machen lehren konnte. Er führte ihn allenthalben von den äußerlichen Zufällen auf die Quelle des Übels, und zeigte ihm, wie vergebens man jenen abzuhelfen sucht, so lange diese nicht verstopft ist, oder – welches der Fall vieler Staaten ist – nicht verstopft werden kann. Er zeigte ihm durch Beispiele, welche desto lehrreicher sein mußten weil sie unmittelbar unter ihren Augen lagen, daß nichts einfacher sei als die Kunst weislich zu regieren, und daß es weniger Mühe koste, ein Volk geradezu glücklich zu machen, als es, durch tausend krumme Wege, mit einigem Schein von Recht und Billigkeit zu Grunde zu richten. Er zeigte ihm, daß überall, wo das Volk unterdrückt und der Staat übel verwaltet wurde, der Fürst selbst, von rastloser Gemütsunruhe herum getrieben, von tausend Besorgnissen geängstiget, von allen Seiten mit Schwierigkeiten umringt, zu einer schimpflichen Abhänglichkeiten von der eigennützigen Treue und den schelmischen Ränken der nichtswürdigsten seiner Sklaven verurteilt, belastet mit dem Hasse seiner Untertanen und mit der Verachtung der Welt, – unter allen Unglücklichen, die er machte, selbst der Unglücklichste war. Kurz, diese Reise wurde für den jungen Tifan eine Schule, worin er sich, ohne es selbst zu wissen, zum künftigen Regenten ausbildete; und (was hierbei nicht das unbeträchtlichste ist) eine Reise, welche für ihn so lehrreich und für Scheschian so nützlich war, kostete in drei ganzen Jahren kaum so viel, als alle die Kebsweiber, Mohren, Gaukler und Elefanten, welche den König von Siam von einem seiner Landhäuser zum andern begleiten, in acht Tagen aufzuzehren pflegen.«

Hier unterbricht sich der sinesische Autor, dem wir folgen, selbst, um uns zu sagen, daß die Reisen des Prinzen Tifan eine Unterredung zwischen dem Sultan Gebal, der schönen Nurmahal und dem Philosophen Danischmend über die Reisen junger Fürsten veranlaßt habe, welche er, da die sinesischen Prinzen, einem uralten Herkommen zu Folge, niemals außer Landes zu reisen pflegten, zu übersetzen für überflüssig erachtet habe. Alles was er uns davon meldet, ist – daß, nachdem Schach-Gebal sich, aus vielen Gründen, sehr ernstlich gegen dergleichen fürstliche Wanderungen erklärt, und bei dieser Gelegenheit seiner Galle durch ziemlich bittre Spöttereien über gewisse Könige seiner Zeit Luft gemacht, welche ihre Blödigkeit und ihre schlechte Erziehung mit ungeheuern Kosten in den vornehmsten Reichen Asiens zur Schau getragen – Danischmend, als ob er plötzlich aus einem Traum erwache, an den Sultan seinen Herrn sich gewendet, und gesagt habe: »Aber was würden Ihre Hoheit von einem großen Fürsten sagen, der den Mut hätte, den Ergetzungen seines Hofes, den Reizungen der Jugend und der Allgewalt, und dem wollüstigen Müßiggange, worin junge Fürsten die schönste Zeit des Lebens zu verlieren pflegen, sich zu entreißen, und, in Gestalt eines Privatmannes, weitläufige und beschwerdenvolle Reisen zu unternehmen – um weiser und besser zu werden; um die Menschen, die ein Fürst gewöhnlicher Weise nie anders als in Masken sieht, in ihrer natürlichen Gestalt kennen zu lernen; – und um selbst des Vergnügens, ein Mensch zu sein, und seiner persönlichen Eigenschaften wegen geliebt zu werden, ungestörter und vollkommner genießen zu können? Was würden Sie sagen, wenn dieser Fürst, in Begleitung weniger Freunde, ohne Pracht, ohne Aufwand, ohne den zwanzigsten Teil des Geschleppes, welches die Großen gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, in allen seinen Staaten herum reisete, überall selbst sich erkundigte, wie die Gesetze beobachtet, wie das Recht gehandhabet, wie die Staatswirtschaft bestellt würde; die Beschwerden eines jeden, der sich an ihn wendete, selbst anhörte, und durch seine Leutseligkeit jedermann zu gleichem Vertrauen einlüde; bei den prächtigen Schlössern seiner Omras, wo jedes Vergnügen ihn erwartete, vorbei eilte, um rauhe Gebirge zu besteigen, oder durch unwegsame schneebedeckte Wälder in die armseligen Hütten der Dürftigkeit hinein zu kriechen, und beim Anblick des elenden Brotes, dessen nur genug zu haben ein Teil seiner nützlichsten Untertanen sich glücklich achten würde, Tränen der Menschheit zu weinen? Und was würden Ihre Hoheit sagen, wenn dieser liebenswürdigste unter den Fürsten, gleich einer zu den Menschen herab gestiegenen Gottheit, jeden seiner Tritte mit Wohltaten bezeichnete, und bei jedem seiner Blicke irgend ein Mißbrauch abgestellt, irgend ein Gebrechen verbessert, eine Übeltat bestraft, ein Verdienst aufgemuntert würde?« –

»Danischmend Danischmend!« (rief der Sultan) »was ich sagen würde? – Ich würde« – hier hielt Seine Hoheit eine ziemliche Weile ein, und der schönen Nurmahal pochte das Herz vor Furcht für den ehrlichen, wohl meinenden, aber, in der Tat, gar zu unbedachtsamen Danischmend. – »Ich würde sagen«, fuhr der Sultan endlich fort, »daß du mir den großen Fürsten auf der Stelle nennen sollst, der dies alles getan hat.«

»Sire«, antwortete Danischmend ganz demütig, »ich gestehe freimütig, daß ich, wofern Ihre Hoheit Sich nicht entschließen es selbst zu sein, weder unter Ihren Vorgängern noch unter Ihren Zeitgenossen einen kenne, der dies alles getan hätte. Aber mein Herz sagt mir, daß die Idee eines solchen Fürsten, die ich in diesem Augenblick, wie durch eine Art von Eingebung, auf einmal in meiner Seele fand, kein Hirngespenst ist. Er wird kommen, und sollt es auch erst in vielen Jahrhunderten sein; ganz gewiß wird er kommen, um zu gleicher Zeit die Ehre der Vorsehung, der Menschheit und des Fürstenstandes zu retten, und der Trost eines unglücklichen Zeitalters, das Vorbild der Könige, und die Liebe und Wonne aller Menschen zu sein.«

»Gute Nacht, Danischmend«, sagte der Sultan lächelnd: »ich sehe du rappelst. Unser Prophet befiehlt uns, Leute in deinen Umständen mit Ehrerbietung anzusehen; aber gleichwohl könnte, deucht mich, eine Prise Niesewurz nichts schaden, Freund Danischmend!«


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