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»Von Scheschian?« rief Schach-Gebal: »mir deucht, ich kenne diesen Namen. Ist es nicht das Scheschian, wo der Hiof-Teles-Tanzai König war, dessen verwünschten Schaumlöffel ihr Ihr neulich zu verschlingen geben wolltet, wenn ich mich nicht eben so stark dagegen gesträubt hätte, als der Großpriester Sogrenuzio?«
»Vermutlich, Sire«, sagte die schwarzaugige Tschirkassierin, welche schon vor einiger Zeit aufgehört hatte jung zu sein, aber aus dem Verfall ihrer Reizungen unter andern eine sehr angenehme Stimme davon gebracht hatte, und sich eine Angelegenheit daraus machte, den Sultan noch immer so gut zu amüsieren, als es die Umstände auf beiden Seiten zulassen wollten. »Ohne Zweifel, Sire«, sagte sie, »ist es eben dieses Scheschian; denn es nötigt uns nichts, deren zwei anzunehmen, da wir uns mit dem Einen ganz wohl behelfen können; welches, nach dem Berichte gewisser alter Erdbeschreiber, in den Zeiten seines höchsten Wohlstandes beinahe so groß gewesen sein muß als das Reich Ihrer Majestät,Die Wahrheit ist, daß es weit größer war; aber die schöne Tschirkassierin hatte zu viel Lebensart, um dem Sultan eine solche Unhöflichkeit zu sagen. Beinahe so groß ist alles, was man in dergleichen Fällen wagen darf.
Anmerk. des sines. Übersetzers
»Die Geographie tut nichts zur Sache«, fiel Schach-Gebal ein, »in so fern du mir nur dafür gut sein willst, Nurmahal, daß da, wo deine Geschichte anfängt, die Zeit vorbei ist, da die Welt von Feen beherrscht wurde. Denn ich erkläre mich ein für allemal, daß ich nichts von verunglückten Hochzeitnächten, von alten Konkombern, von Maulwürfen, die in der geziertesten Sprache von der Welt – nichts sagen, und kurz, nichts von Liebeshändeln hören will, wie der witzigen Mustasche und ihres faden Kormorans, der so schöne Epigrammen macht und so schöne Räder schlägt. Mit Einem Worte, Nurmahal, und es ist mein völliger Ernst, keine Neadarnen und keinen Schaumlöffel!«
»Ihre Majestät können Sich darauf verlassen«, versetzte Nurmahal, »daß die Feen nichts in dieser Geschichte zu tun haben sollen; und was die Genien betrifft, so wissen Ihre Majestät, daß man gewöhnlich sechs bis sieben Könige hinter einander zählen kann, bis man auf einen stößt, der Anspruch an diesen Namen zu machen hat.«
»Auch keine Satiren, Madam, wenn ich bitten darf! Fangen Sie Ihre Historie ohne Umschweife an; und ihr« (sagte er zu einem jungen Mirza, der am Fuße seines Bettes zu sitzen die Ehre hatte) »gebt Acht wie oft ich gähne; sobald ich dreimal gegähnt habe, so macht das Buch zu, und gute Nacht.«
»Bei irgend einem Volke« (so fing die schöne Nurmahal zu lesen an) »die Geschichte seines ältesten Zustandes suchen, hieße von jemand verlangen, daß er sich dessen erinnere, was ihm im Mutterleibe oder im ersten Jahre seiner Kindheit begegnet ist.
Die Einwohner von Scheschian machen keine Ausnahme von dieser Regel. Sie füllen, wie alle andre Völker in der Welt, den Abgrund, der zwischen ihrem Ursprung und der Epoche ihrer Geschichtskunde liegt, mit Fabeln aus; und diese Fabeln sehen einander bei allen Völkern so ähnlich, als man es von Geschöpfen vermuten kann, die sich auf der ersten Staffel der Menschheit befinden. Derjenige unter ihnen, der zuerst die Entdeckung machte, daß eine Ananas besser schmecke als eine Gurke, war ein Gott in den Augen seiner Nachkommen.
Die alten Scheschianer glaubten, daß ein großer Affe sich die Mühe genommen habe, ihren Voreltern die ersten Kenntnisse von Bequemlichkeit, Künsten und geselliger Lebensart beizubringen.«
»Ein Affe?« rief der Sultan: »eure Scheschianer sind sehr demütig, den Affen diesen Vorzug über sich einzuräumen.«
»Diejenigen, bei denen dieser Glaube aufkam, dachten vermutlich nicht so weit«, erwiderte die schöne Nurmahal.
»Ohne Zweifel«, sagte der Sultan: »aber was ich wissen möchte, ist gerade, was für Leute das waren, bei denen ein solcher Glaube aufkommen konnte.«
»Sire, davon sagt die Chronik nichts. Aber wenn es einer Person meines Geschlechts erlaubt sein könnte, über einen so gelehrten Gegenstand eine Vermutung zu wagen, so würde ich sagen, daß mir nichts begreiflicher vorkommt. Kein Glaube ist jemals so ungereimt gewesen, zu welchem nicht etwas Wahres den Grund gelegt haben sollte. Konnte nicht ein Affe die ältesten Scheschianer etwas gelehrt haben, wenn es auch nur die Kunst auf einen Baum zu klettern und Nüsse aufzuknacken gewesen wäre? Denn so leicht uns diese Künste jetzt scheinen, so ist doch viel eher zu vermuten, daß die Menschen sie den Affen, als daß die Affen sie den Menschen abgelernt haben.«
»Die schöne Sultanin philosophiert sehr richtig«, sagte Doktor Danischmend, derjenige von den Philosophen des Hofes, den der Sultan am liebsten um sich leiden mochte, weil er in der Tat eine der gutherzigsten Seelen in der Welt war, und der daher die Gnade genoß, nebst dem vorerwähnten Mirza diesen Vorlesungen beizuwohnen. »Es ist nicht zu vermuten«, setzte er hinzu, »daß die ersten Menschen in Scheschian scharfsinniger gewesen sein sollten als Isanagi No Mikotto, einer von den japanischen Götterkönigen, von welchem ihre Geschichte versichert, daß er die Kunst, mit seiner Gemahlin Ysanami nach der Weise der Sterblichen zu verfahren, von dem Vogel Isiatadakki abgesehen habe.«S. Kämpfers Beschreibung des japanischen Reichs, I. T. 7. Kap. S. 112.
Schach-Gebal schüttelte, man weiß nicht warum, den Kopf bei dieser Anmerkung; und Nurmahal, ohne den Einfall des Philosophen Danischmend eines Errötens zu würdigen, fuhr also fort.
»In dem ersten Zeitpunkte, wo die Geschichte von Scheschian zuverlässig zu werden anfängt, fand sich die Nation in eine Menge kleiner Staaten zerstückelt, die von eben so vielen kleinen Fürsten regiert wurden, so gut es gehen wollte. Alle Augenblicke fiel es zweien oder dreien von diesen Potentaten ein, den vierten mit einander auszurauben; wenn sie mit ihm fertig waren, zerfielen sie über der Teilung unter sich selbst; und dann pflegte der fünfte zu kommen, und sie auf einmal zu vergleichen, indem er bis zu Austrag der Sache den Gegenstand des Streits in Verwahrung nahm.
Diese Befehdungen dauerten, zu großem Nachteile der armen Scheschianer, so lange, bis etliche von den schwächsten den Vorschlag taten: daß sich die sämtlichen Rajas, um der allgemeinen Sicherheit willen, einem gemeinschaftlichen Oberhaupte unterwerfen sollten. Die mächtigsten ließen sich diesen Vorschlag belieben, weil jeder Hoffnung hatte, daß die Wahl auf ihn selbst fallen würde. Aber kaum war diese entschieden: so fand sich, daß man nicht das beste Mittel die Ruhe herzustellen gewählt hatte.
Der neue König war des Vorzugs würdig, den ihm die Nation beigelegt hatte. Die Achtung für seine persönlichen Verdienste unterstützte eine Zeit lang seine Bemühungen, und Scheschian genoß einen Augenblick von Glückseligkeit, den er dazu anwandte, Gesetze zu entwerfen, welche der große Kon-Fu-Tsee nicht besser hätte machen können; Gesetze, denen, um vollkommen zu sein, nichts abging, als daß sie nicht (wie man von den Bildsäulen eines gewissen alten Künstlers sagt) von selbst gingen, das ist, daß es von der Willkür der Untertanen abhing, sie zu halten oder nicht zu halten. Freilich waren auf die Übertretung derjenigen, von deren Beobachtung die Ruhe und der Wohlstand des Staats schlechterdings abhing, schwere Strafen gesetzt: aber der König hatte keine Gewalt sie zu vollziehen. Wenn einer von seinen Rajas zum Gehorsam gebracht werden sollte, so mußte er einem andern auftragen, den Raja dazu zu nötigen; und auf diese Weise blieben immer die gerechtesten Urteile unvollzogen. Denn keine Krähe hackt der andern die Augen aus, sagt der König Dagobert.«Die schöne Nurmahal oder ihre Chronik irrt sich in der Person. Wenn sie sich die Mühe hätte geben wollen, den ehrlichen Gregor von Tours selbst nachzuschlagen, so würde sie im sechsten Buche (wir erinnern uns nicht in welchem Kapitel) gefunden haben, daß es der König Chilperich war; wiewohl man gestehen muß, daß ihr, und dem Sultan Gebal, und dem ganzen Indien, Dagobert und Chilperich völlig gleich viel sein konnten.
Anmerk. des latein. Übersetzers
»Wer war dieser König Dagobert?« fragte der Sultan den Philosophen Danischmend.
Danischmend hatte bei allen seinen vermeintlichen oder wirklichen Vorzügen einen Fehler, der, so wenig er an sich selbst zu bedeuten hat, in gewissen Umständen genug ist, den besten Kopf zu Schanden zu machen. Niemals konnte er eine Antwort auf eine Frage finden, auf die er sich nicht versehen hatte. Dieser Fehler hätte ihm vielleicht noch übersehen werden können; aber er vergrößerte ihn insgemein durch einen andern, der in der Tat einem Manne von seinem Geiste nicht zu verzeihen war. Fragte ihn, zum Exempel, der Sultan etwas, das ihm unbekannt war; so stutzte er, entfärbte sich, öffnete den Mund und staunte, als ob er sich darauf besänne: man hoffte von Augenblick zu Augenblick, daß er losdrücken würde; und man konnt es ihm daher um so viel weniger vergeben, wenn er endlich die Erwartung, worin man so lange geschwebt hatte, mit einem armseligen das weiß ich nicht betrog; weil er, wie man dachte, dies eben sowohl im ersten Augenblicke hätte sagen können. Dies war nun gerade der Fall, worin er sich itzt befand: kein Mensch in der Welt war ihm unbekannter als der König Dagobert.
»Ich hatte Unrecht, eine solche Frage an einen Philosophen zu tun«, sagte der Sultan etwas mißvergnügt: »laßt meinen Kanzler kommen.«
Der Kanzler war ein großer dicker Mann, welcher unter andern rühmlichen Eigenschaften gerade so viel Witz hatte, als er brauchte, um auf jede Frage eine Antwort bereit zu halten.
»Herr Kanzler, wer war der König Dagobert?« fragte der Sultan.
»Sire«, antwortete der Kanzler ganz ernsthaft, indem er mit der rechten Hand seinen Wanst, und mit der linken seinen Knebelbart strich, »es war ein König, der vor Zeiten in einem gewissen Lande regierte, das man auf keiner indostanischen Landkarte findet; vermutlich weil es so klein war, daß man nicht sagen konnte, welches die Nord- und welches die Süd-Seite davon sei.«
»Sehr wohl, Herr Kanzler! Und was sagte der König Dagobert?«
»Meistens nichts«, versetzte der Kanzler, »wenn es nicht im Schlafe geschah, welches ihm zuweilen in seinem Divan begegnete. Sein Kanzler, der, wegen seines kurzen Gesichts, nicht immer gewahr wurde, ob der König wachte oder schlummerte, nahm etlichemal das, was er im Schlafe gesagt hatte, für Befehle auf, und fertigte sie auf der Stelle aus; und, was das Sonderbarste ist, die Geschichtschreiber versichern, daß diese nämlichen Verordnungen unter allen, welche während seiner Regierung heraus gekommen, die klügsten gewesen seien.«
»Gute Nacht, Herr Kanzler«, sagte Schach-Gebal.
»Man muß gestehen«, dachte der Kanzler im Weggehen, »daß die Sultanen zuweilen wunderliche Fragen an die Leute tun.«
»Es ist eine schöne Sache um einen sinnreichen Kanzler«, fuhr der Sultan fort, nachdem sich der seinige zurückgezogen hatte. »Ich weiß wohl, Nurmahal, Ihr seid ihm nie gewogen gewesen; und wenn ich günstiger für ihn denke, so geschieht es gewiß nicht weil ich ihn nicht kenne. Ich weiß, daß er, mit aller abgezirkelten Formalität seiner ganzen Person, welche ein lebendiger Inbegriff aller Gesetze, Ordonnanzen, alten Gewohnheiten und neuen Mißbräuche meines Reichs ist, im Grunde doch nur ein Intrigenmacher, ein falscher, unruhiger, unersättlicher, rachgieriger Bube, und ein heimlicher Feind aller Leute ist, von denen ihm sein Instinkt sagt, daß sie mehr wert sind als er. Überdies weiß ich, daß er sich von einem schelmischen kleinen Fakir regieren läßt, der ihm weisgemacht hat, er besitze ein Geheimnis, ihn sicher über die Brücke, die nicht breiter ist als die Schärfe eines Schermessers, hinüber zu bringen. Aber wenn er noch zehnmal schlimmer wäre als er ist, so müßt ich ihm um der Gabe willen hold sein, die er hat, auf jede Frage, so unerwartet und unbequem sie ihm sein mag, eine Antwort aus dem Ärmel zu schütteln, die er euch mit einer so unverschämten Ernsthaftigkeit für gut gibt, daß man, gern oder nicht, damit zufrieden sein muß. – Aber wir vergessen, dem König Dagobert und meinem Kanzler zu Gefallen, den armen König von Scheschian, und das ist nicht billig. Der gute Mann dauert mich; wiewohl es in der Tat seine eigene Schuld ist, wenn ihm seine Leute wie die Frösche dem König Klotz mitspielen. Wie konnt es ihm einfallen, auf solche Bedingungen König zu sein?«
»Ihre Hoheit«, sagte Nurmahal, »werden ihm diesen Einfall vielleicht zugute halten, wenn Sie bedenken, daß die Nation einen König haben wollte, und daß es, alles überlegt, doch immer besser ist, dieser König selbst zu sein, als es einem andern zu überlassen. Er konnte doch immer mit einiger Wahrscheinlichkeit hoffen, daß es ihm an Gelegenheit nicht fehlen würde, sein Ansehen, so eingeschränkt es anfangs war, zu befestigen und zu erweitern. Zudem war er ein Mann von mehr als gemeiner Fähigkeit, sein eigenes Fürstentum war eines der beträchtlichsten, und an der Spitze der Partei, die ihn auf den Thron erhob, konnt er sich schmeicheln alles zu vermögen.«
»Und dennoch schmeichelte er sich zu viel?«
»Wie hätt es anders gehen können?« versetzte die Sultanin. »Seine Anhänger erwarteten mehr Belohnungen als er geben konnte. Ihre Foderungen hatten keine Grenzen. Er hielt sich für berechtigt, Dienste und Unterwürfigkeit von denjenigen zu erwarten, die ihn zum Könige gemacht hatten; und eben darum, weil sie ihn zum Könige gemacht hatten, glaubten sie daß er ihnen alles schuldig sei. Eine solche Verschiedenheit der Meinungen mußte Folgen haben, die den König und das Volk gleich unglücklich machten. Da er die einmal übernommene Rolle gut spielen wollte, so mußt er notwendig mit seinen Rajas zerfallen, die ihn lieber eine jede andre spielen gesehen hätten als die Rolle eines Königs. Seine ganze Regierung war unruhig, schwankend und voller Verwirrung. Aber unter seinen Nachfolgern ging es noch schlimmer. Jeder neue Vorteil, den die Rajas über ihre Könige erhielten, erhöhete ihren Übermut, und vermehrte ihre Forderungen. Unter dem Vorwand, ihre Freiheit (ein Ding, wovon sie niemals einen bestimmten Begriff gehabt zu haben scheinen) und die Rechte der Nation (welche niemals ins Klare gesetzt worden waren) gegen willkürliche Anmaßungen sicher zu stellen, wurde das königliche Ansehen nach und nach so eingeschränkt, daß es, wie die Fabel von einer gewissen Nymphe sagt, allgemach zu einem bloßen Schatten abzehrte« –
– Hier gähnte der Sultan zum ersten Male –
– »bis endlich selbst von diesem Schatten nichts als eine leere Stimme übrig blieb, welche gerade noch so viel Kraft hatte, nachzuhallen was ihr zugerufen wurde.
Scheschian befand sich, solange diese Periode dauerte, in einem höchst elenden Zustande. Von mehr als dreihundert kleinern und größern Bezirken, deren jeder seinen eigenen Herrn hatte, sah der größte Teil einem Lande gleich, das kürzlich von Hunger, Krieg, Pest und Wassersnot verwüstet worden war. Die Natur hatte da nichts von der lachenden Gestalt, nichts von der reizenden Mannigfaltigkeit und dem einladenden Ansehen von Überfluß und Glückseligkeit, womit sie die Sinnen und das Herz in jedem Land einnimmt, welches von einem weisen Fürsten väterlich regiert wird.«
Hier klärte sich die Miene des Sultans einmal wieder auf. Er dachte an seine Lustschlösser, an seine Zaubergärten, an die schönen Gegenden, die er darin auf allen Seiten vor sich liegen hatte, an die mosaisch eingelegten, und mit doppelten Reihen von Zitronenbäumen besetzten Wege, die ihn dahin führten, und genoß etliche Augenblicke lang die Wollust der vollkommensten Zufriedenheit mit sich selbst.
Das war es nicht, was die beiden Omras wollten, daß er dabei denken sollte! – »Weiter, Nurmahal«, sprach der vergnügte Sultan.
»Allenthalben wurden die Augen eines Reisenden, der nicht ohne alles Gefühl für den Zustand seiner Nebengeschöpfe war, durch traurige Bilder des Mangels und der unbarmherzigsten Unterdrückung beleidigt.
Die kleinen Tyrannen, denen der König von Scheschian neunzehn von zwanzig Teilen seiner Untertanen Preis zu geben genötigt war, hatten in Absicht der Verwaltung ihrer Ländereien eine Denkungsart, die derjenigen von gewissen Wilden glich, von denen man sagt, daß sie, um der Frucht eines Baumes habhaft zu werden, kein bequemeres Mittel kennen, als den Baum umzufällen. Ihr erster Grundsatz schien zu sein, den gegenwärtigen Augenblick zum Vorteil ihrer ausschweifenden Lüste auszunützen, ohne sich darum zu bekümmern, was die natürlichen Folgen davon sein möchten. Diese Herren fanden nicht das geringste weder in ihrem Kopfe noch in ihrem Herzen, das der armen Menschheit bei ihnen das Wort geredet hätte. In ihren Augen hatte das Volk keine Rechte, und der Fürst keine Pflichten. Sie behandelten es als einen Haufen belebter Maschinen, welche, so wie die übrigen Tiere, von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten, und die keinen Anspruch an Ruhe, Gemächlichkeit, und Vergnügen zu machen hätten. So schwer es ist, sich die Möglichkeit einer so unnatürlichen Denkungsart vorzustellen, so ist doch nichts gewisser, als daß sie es dahin gebracht hatten, sich selbst als eine Klasse von höhern Wesen anzusehen, die, gleich den Göttern Epikurs, kein Blut sondern nur gleichsam ein Blut in den Adern rinnen hätten; denen die Natur zu willkürlichem Gebote stehe; denen alles erlaubt sei, und an welche niemand etwas zu fodern habe. Die Knechtschaft der Unglücklichen, die unter ihrem Joche schmachteten, ging so weit, daß sie jeden Fall, wo man ihnen durch eine besondere Ausnahme die allgemeinsten Rechte der Menschheit angedeihen ließ, als eine unverdiente Gnade ansehen mußten. Die Folgen einer so widersinnigen Verfassung stellen sich von selbst dar. Eine allgemeine Mutlosigkeit machte nach und nach alle Triebräder der Vervollkommnung stille stehen; der Genie wurde im Keim erstickt, der Fleiß abgeschreckt, und die Stelle der Leidenschaften, durch deren beseelenden Hauch die Natur den Menschen entwickelt, und zum Werkzeug ihrer großen Absichten macht, nahm fressender Gram und betäubende Verzweiflung ein.»Hier«, sagt der sinesische Übersetzer, »habe ich eine Anmerkung des indischen Herausgebers dieses Werkes gefunden, die ich mich nicht entschließen kann auszulassen, ungeachtet meine Leser keinen unmittelbaren Gebrauch davon machen können. ›Ich wünschte‹, sind die Worte des Indiers, ›daß alle unsre Großen und Edeln dieser Periode (von den Worten Eine allgemeine usw. bis zu Verzweiflung ein) die Ehre antun möchten, sich derselben zu Prüfung der Fakirn, denen sie ihre Söhne anvertrauen wollen, zu bedienen. Sie haben dazu weiter nichts nötig, als dem Fakir die Periode vorzulegen, und sich eine Erklärung derselben, und die Entwicklung der darin enthaltnen Begriffe und Sätze von ihm auszubitten. Allenfalls könnten sie, um ihrer Sache desto gewisser zu sein, einen Philosophen von unverdächtigen Einsichten mit zu dieser Prüfung ziehen. Versteht der Fakir die Periode: nun, so sei es denn! Versteht er sie nicht oder räsoniert er darüber wie ein Truthahn: so können Sich Ihre Exzellenzen, Gnaden, Hoch- und Wohlgeboren usw. darauf verlassen, daß er ein vortreffliches Subjekt ist, wenn Ihre Absicht dahin geht, daß Ihr Sohn nicht zu vernünftig werden solle.‹« Sklaven, welche keine Hoffnung haben, anders als durch irgend einen seltnen Zufall, der unter zehentausend kaum Einen trifft, sich aus ihrem Elend empor zu winden, arbeiten nur in so fern sie gezwungen werden, und können nicht gezwungen werden irgend etwas gut zu machen. Sie verlieren alles Gefühl der Würdigkeit ihrer Natur, alles Gefühl des Edeln und Schönen, alles Bewußtsein ihrer angebornen Rechte« –
– der Sultan gähnte hier zum zweiten Male –
– »und sinken in ihren Empfindungen und Sitten zu dem Vieh herab, mit welchem sie genötiget sind den nämlichen Stall einzunehmen; ja, bei der Unmöglichkeit eines bessern Zustandes, verlieren sie endlich selbst den Begriff eines solchen Zustandes, und halten die Glückseligkeit für ein geheimnisvolles Vorrecht der Götter und ihrer Herren, an welches den mindesten Anspruch zu machen Gottlosigkeit und Hochverrat wäre.
Dies war die tiefe Stufe von Abwürdigung und Elend, auf welche die armen Bewohner von Scheschian herab gedrückt wurden. Eine allgemeine Verwilderung würde sie in kurzem wieder in den nämlichen Stand versetzt haben, aus welchem der große Affe, ihrem angeerbten Wahn zu Folge, ihre Stammeltern gezogen hatte: in einen Stand, worin sie sich wenigstens mit der Unmöglichkeit noch tiefer zu sinken hätten trösten können; wenn nicht eine unvermutete Staatsveränderung« –
hier machte der Mirza die schöne Nurmahal bemerken, daß der Sultan unter den letzten Perioden dieser Vorlesung eingeschlafen war.