Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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3.

In der folgenden Nacht wurde, bis der Sultan einschlief, von – den drei Kalendern gesprochen. Nurmahal und der junge Mirza hatten sehr viel von ihnen zu sagen.

Die Nachrichten, welche man über diesen wichtigen Gegenstand einzog, waren so mannigfaltig, hingen so wenig zusammen, und schienen so viel Geheimnisvolles zu verraten, daß man etliche Nächte hinter einander von nichts anderm reden konnte als von den drei Kalendern. Inzwischen lief doch am Ende alles darauf hinaus, daß man nichts Sonderliches von ihnen wüßte, und daß es sich in der Tat der Mühe nicht verlohnte mehr von ihnen wissen zu wollen.

Endlich wurde Schach-Gebal dieses Zwischenspiels überdrüssig.

»Ihr seid mir feine Leute«, sagte Schach-Gebal. »Ich will die Geschichte der Könige von Scheschian wissen, und man spricht mir seit sieben Tagen von nichts als von Kalendern. Bin ich etwa ein Schach-Riar?«

Es versteht sich von selbst, daß es nur auf Seine Hoheit angekommen war, diese sieben Tage durch mit andern Gegenständen unterhalten zu werden. Aber, wie jedermann weiß, würd es sehr unhöflich gewesen sein, den Sultan etwas von dieser Reflexion merken zu lassen.

Danischmend setzte demnach seine Erzählung von Isfandiar und seinem Günstlinge folgender Maßen fort.

»Den Grundsätzen des sinnreichen Eblis zu Folge war nichts unweiser, als ein so gefährliches Tier, wie er das Volk abmalte, reich werden zu lassen. Aber zum Unglück für die Scheschianer blieb die Bedeutung des Wortes reich so unbestimmt, daß Eblis die armen Leute, so lange sie noch etwas hatten, was sich, wenn das Wort Bedürfnis im engsten Sinne genommen wird, entbehren läßt, immer noch zu reich fand.

Der Adel in Scheschian war von Alters her ein Mittelstand zwischen dem Fürsten und dem Volke gewesen. Die Könige hatten die Edeln als ihre gebornen Räte und Gehülfen in der Verwaltung der besondern Teile des königlichen Amtes betrachtet; und wiewohl das Ansehen des Adels unter dem tatarischen Stamme von Stufe zu Stufe nach eben dem Verhältnisse, wie das königliche stieg, gesunken war, so besaß er doch wenigstens noch sehr schöne Überbleibsel seiner ehmaligen Vorzüge.

In allen Staaten, wo sich ein solcher Mittelstand zwischen dem Fürsten und dem Volke befindet, hat man zu allen Zeiten wahrgenommen, daß sich der Adel auf Unkosten des Volkes, und das Volk sich auf Unkosten des Adels zu vergrößern sucht. Jener, da er wenig Hoffnung hat, seine Rechte auf der Seite des Thrones zu erweitern, sucht sich für seine Ergebenheit gegen denselben durch Anmaßungen über die Rechte des Volkes zu entschädigen. Dieses, da es sich von allen Seiten gedrängt sieht, und leicht begreift, daß es dem Übergewicht des Thrones am wenigsten widerstehen kann, wendet alles an, sich wenigstens die kleinen Tyrannen vom Halse zu schaffen, deren Joch desto verhaßter ist, je weniger sie ihre Bedrückungen durch den Vorwand des allgemeinen Besten erträglicher machen können. Man gibt dem Fürsten williger, weil man weiß, daß die Sorgen für den ganzen Staat auf seinen Schultern liegen, und weil wenigstens die Vermutung vorwaltet, daß ein Teil der öffentlichen Abgaben zu Bestreitung der öffentlichen Bedürfnisse angewandt werde. Aber alles was man denjenigen geben muß, welche, dem Könige gegen über, eben so demutsvolle Untertanen als die übrigen, in dem Bezirke hingegen, wo sie zu befehlen haben, kleine Monarchen vorstellen, sieht man als unbillige Erpressungen an, welche man seinen eigenen Bedürfnissen abbrechen muß, um den Stolz und die Üppigkeit einer Menschenklasse zu nähren, die man für sehr entbehrlich hält, weil der Vorteil, den sie dem Ganzen verschaffen, nicht sogleich in die Sinne fällt.

Die Könige haben von jeher sich dieser gegenseitigen Gesinnung des Adels und des Volkes zur Ausdehnung ihrer eigenen Gewalt gar meisterlich zu bedienen gewußt. Sie haben das Volk gebraucht den Adel niederzudrücken; und sobald dieser Zweck erreicht war, dem Adel, dessen Beistand sie gegen den besorglichen Übermut des Volkes vonnöten zu haben glaubten, die Werkzeuge seiner Unterdrückung Preis gegeben.

Da es zu spät war, wurde Volk und Adel gewahr, daß sie sich zu einer sehr albernen Rolle hatten gebrauchen lassen; daß in einem Staate, wo das Volk im Besitze großer Vorrechte ist, die Vorzüge des Adels dem Volk eben so heilig sein sollen, als seine eigenen; und daß jeder von diesen beiden Ständen nicht nur seine eigene, sondern die allgemeine Sicherheit und den öffentlichen Wohlstand untergräbt, wenn er die Rechte des andern zu schwächen oder seinen besondern Nutzen auf Kosten des andern zu vergrößern sucht.

Die Scheschianer waren in diesem Stücke nicht vorsichtiger gewesen als viele andre Völker. Der Hof hatte sich ihre Torheit zu Nutze gemacht, weil das Interesse der Höflinge ist, die Autorität eines Herrn, der durch ihre Einflüsse regiert wird und in dessen Gewalt sie sich teilen, so unumschränkt zu machen als sie können. Sie überredeten die Könige – und nichts kostet weniger Mühe als diese Überredung –, daß ein Fürst an Ansehen und Macht gewinne, was sein Adel und sein Volk an Freiheit und Reichtum verliere; und die guten Könige dachten gewiß an nichts weniger, als an die unfehlbare Folge der politischen Operation, wozu sie sich so leicht bereden ließen. Die Erfahrung mußte sie belehren, daß ein Despot, dessen Adel aus Höflingen und dessen Volk aus Bettlern besteht, – ein Despot, dessen Städte ohne Einwohner sind, und dessen Ländereien brach liegen und verwildern; ein Despot, der anstatt über zwanzig Millionen glücklicher Menschen, über halb so viel träge, mißvergnügte und mutlose Sklaven zu gebieten hat; – daß dieser Despot ein viel kleinerer Herr sei, als ein eingeschränkter Fürst, der nicht spitzfündig genug ist, einen Unterschied zwischen seinem Nutzen und dem Nutzen seiner Untertanen zu machen, sondern einfältiglich der Stimme seines Menschenverstandes glaubt, die ihn versichert, daß es besser sei, der geliebte Vater von den Bewohnern eines kleinen Landes, als der gefürchtete Tyrann einer ungeheuern Einöde zu sein, in welcher hier und da noch hervorragende Trümmer das Zeugnis ablegen, daß einst Menschen da gewohnt haben, welche bessere Zeiten sahen als die seinigen.

Die Erfahrung mußte die Könige von Scheschian von dieser großen Wahrheit, dem Grundpfeiler aller wahren Staatskunst, unterrichten; aber, wie Isfandiar vielleicht anfing sie gewahr zu werden – war es zu spät.

Unter der Regierung des schwachen Azor war der größte Teil des Adels durch den übermäßigen Aufwand, wozu er von dem Beispiele des Hofes verleitet und gewisser Maßen genötiget wurde, in sehr kurzer Zeit dahin gebracht worden, in den niedrigsten Hofkünsten die Mittel zu suchen, diesen Aufwand auf andrer Leute Unkosten fortzusetzen. Unter Isfandiarn wurde das Werk der vorher gehenden Regierungen und der eigenen Torheit der Edeln vollendet. ›Übermäßige Ungleichheit ist die verderbliche Pest eines Staats‹, sagte Eblis. Und so mußte eine sehr wichtige, aber in den Händen eines verächtlichen Werkzeuges der Tyrannei sehr übel versorgte Wahrheit zum Vorwande dienen, den Adel zum Volk und beide zu Sklaven herab zu würdigen. Vor dem blendenden Glanze des Thrones verschwand aller Unterschied. Isfandiar sah den edelsten Emir des Reichs und den niedrigsten Tagelöhner gleich weit unter sich, und es war ein Spiel für ihn, aus einem Reitknechte, wenn es ihm einfiel, einen Fürsten zu machen. Dies war das unfehlbare Mittel, jeden Überrest von Tugend und Ehre, der noch in den ausgearteten Söhnen besserer Väter glimmte, zu ersticken. Die Edeln sanken, so wie sie sich an eine solche Behandlung gewöhnen lernten, zu wirklichem Pöbel herab; und wenn sie sich noch durch etwas von ihm unterschieden, so war es durch einen höhern Grad von Unwissenheit und Ungezogenheit, durch schlechtere Sitten, und einen vollständigern Verlust alles moralischen Gefühls, aller Scheu vor sich selbst, vor dem Urteil ihrer Zeitgenossen, und vor dem furchtbaren und unbestechlichen Gerichte der Nachwelt. Unfähig sich zu dem großen Gedanken ihrer wahren Bestimmung zu erheben, unfähig sich in dem schönen Lichte geborner Fürsprecher des Volkes und Mittler zwischen ihm und dem Thron anzusehen, setzten sie ihre Ehre in eine unbedingte Unterwürfigkeit unter die gesetzlose Willkür des Sultans; sie wetteiferten um den Vorzug, die Werkzeuge seiner schändlichsten Leidenschaften, seiner ungerechtesten Befehle zu sein. Wer am niederträchtigsten schmeicheln, am wurmähnlichsten kriechen, am geschicktesten betrügen konnte, wer den Mut hatte einer Schandtat mit der unerschrockensten Miene unter die Augen zu gehen, kurz wer sich aller dieser Schwachheiten der menschlichen Natur, die man Scham, Mitleiden und Gewissen nennt, am vollkommensten entlediget, und in der Fertigkeit des Lasters, in der Kunst, es mit dem edelsten Anstande, mit der leichtesten Grazie auszuüben, den höchsten Gipfel erreicht hatte, – war der beneidete Mann, den die geringern Bösewichter mit Ehrfurcht ansahen; der Mann, der gewiß war sein Glück zu machen, und nach welchem jedermann sich zu bilden beflissen war. Zu einem so gräßlichen Zustande von Verderbnis hatte das Gift der Grundsätze des sinnreichen Eblis die Scheschianer gebracht; und so gewiß ist es, daß die Menschen, eben so leicht als ein weiser und guter Fürst sie zu guten Geschöpfen bilden kann, sich von einem Isfandiar zu Ungeheuern umgestalten lassen.

Dieser hassenswürdige Tyrann begnügte sich nicht, durch alle Arten von Räuberei und Unterdrückung seine Untertanen so elend zu machen, als es, ohne sie gänzlich und auf einmal aufzureiben, möglich war: er wollte sie auch dahin bringen, daß sie unfähig wären die Tiefe ihres Elendes einzusehen. Wenn er dabei die Absicht gehabt hätte, ihnen das Gefühl desselben zu benehmen, indem er machte daß sie es für ihren natürlichen Zustand hielten, so hätte man es ihm noch für einen Überrest von Menschlichkeit gelten lassen können. Aber Isfandiar würde sehr beschämt gewesen sein, zu dem Verdachte, daß er einer solchen Schwachheit fähig wäre, Anlaß zu geben. Er hatte keine andre Absicht dabei, als es ihnen unmöglich zu machen, auch nur den bloßen Gedanken zu fassen, daß Menschen nicht dazu erschaffen sein könnten, sich von einem Menschen so sehr mißhandeln zu lassen. Zu diesem Ende wurde Sorge getragen alles von ihnen zu entfernen, was ihnen einen gesunden Begriff von der Bestimmung und den Rechten der Menschheit, von dem Zwecke des gesellschaftlichen Vereins, und von dem unverbrüchlichen Vertrage, der dabei zum Grunde liegt, hätte geben können. Jede andre als die Philosophie des Eblis wurde aus Scheschian verbannt. Niemand durfte sich zu einem Schriftsteller aufwerfen, ohne vom Hofe dazu bevollmächtiget zu sein, und seine Schrift der Beurteilung desselben unterworfen zu haben; und ein paar ehrliche Enthusiasten, welche der Anblick ihres Vaterlandes dahin gebracht hatte, in einem Anstoß von Verzweiflung Wahrheiten zu sagen, welche man nur unter guten Fürsten sagen darf, wurden so grausam wegen dieser aufrührerischen Vermessenheit gezüchtiget, daß einem jeden, dem seine Ohren und seine Nase lieber waren als sein Vaterland, die Lust vergehen mußte ihrem Beispiele nachzufolgen.

Inzwischen herrschte am Hofe Isfandiars und unter den verschiednen Klassen und Ordnungen der Werkzeuge seiner Tyrannei eine alle Einbildung übersteigende Üppigkeit. Alle Künste, welche der Wollust dienstbar sind, wurden nach dem Maße ihrer Unnützlichkeit in eben dem Verhältnisse hochgeschätzt und aufgemuntert, wie die nützlichern Künste nach dem Grad ihrer Nützlichkeit verachtet, gehemmt und abgeschreckt wurden. Und weil die Bestrebung, dem verzärtelten Geschmack und den stumpfen Sinnen der Großen neue Bequemlichkeiten, neue Ersparungen des kleinsten Aufwands ihrer ausgenutzten Kräfte, neue Mittel ihre schlaffen Nerven reizbar zu machen, anzubieten, beinahe der einzige Weg war, der dem Volke zu Verbesserung seines Zustandes noch offen stand: so wurden täglich neue Künste, oder wenigstens neue Werkzeuge der üppigen Weichlichkeit erfunden; und während daß der Ackerbau im kläglichsten Verfalle lag, stiegen jene zu einem Grade von Vollkommenheit, wovon man in den Zeiten der schönen Lili noch keinen Begriff hatte. Eblis triumphierte bei jeder Gelegenheit über diese herrliche Wirkung seiner Grundsätze. ›Was für Wunderwerke‹, pflegte er zu sagen, ›kann Hunger und Gewinnsucht tun! Ich biete allen Zauberern und Feen Trotz, mit allen ihren Stäben und Talismanen auszurichten, was ich ganz allein durch diese zwei mächtigen Triebräder der menschlichen Natur bewerkstelligen will.‹

In der Tat gewannen die meisten, welche Tag und Nacht für die Üppigkeit des scheschianischen Hofes arbeiten mußten, wenig mehr dabei als den notdürftigsten Unterhalt. Aber auch hier vergaß Eblis seine Grundsätze nicht. Von Zeit zu Zeit erhielt ein Mann von Talenten (wie man diese Leute nannte) eine Belohnung, welche die Begierde der übrigen so heftig anfachte, daß sich Tausende in der Hoffnung eines ähnlichen Glückes zu Tode arbeiteten. Indessen hütete man sich doch sorgfältig, kein Talent zu belohnen, bei welchem es nur im mindesten zweideutig sein konnte, daß es nicht etwann wegen eines Vorzugs in demjenigen, was die eigentliche Vollkommenheit desselben ausmacht, sondern bloß als ein Werkzeug der Üppigkeit Isfandiars und seiner Günstlinge belohnt werde. Der beliebteste Maler, der Mann dessen Arbeit mit Entzücken angepriesen und mit Golde aufgewogen wurde, war nicht der größte Meister in der Kunst; sondern derjenige, welcher leichtfertige Gegenstände auf die wollüstigste Weise zu behandeln wußte: und eine Sängerin, welche (in der Sprache dieses Hofes zu reden) albern genug war, nur durch die Vollkommenheiten einer schönen Stimme und den Gebrauch derselben zum Ausdruck hoher Empfindungen und tugendhafter Leidenschaften gefallen zu wollen, hatte die Freiheit im Besitz einer frostigen Bewunderung unbedauert zu verhungern; während eine andre, durch die anziehende Kraft ihrer Augen, durch ein gewisses wollüstiges Girren und hinsterbende Töne, üppige Bilder in der Phantasie ihrer Zuhörer rege zu machen, mit einem unendlich kleinern Talent der Abgott der Leute von Geschmack war, und den Aufwand einer Prinzessin machen konnte.

Die Weissagungen der verdrießlichen Alten, welche dem scheschianischen Reiche von der goldnen Zeit der Königin Lili Unglück und Verderben angedrohet hatten, waren nun in ihre vollständigste Erfüllung gegangen. Der kleinste Teil der Nation führte das Eigentum und den Erwerb des größern, gleich einem dem Feind abgejagten Raub, durch die ungeheuerste Verschwendung im Triumph auf. Ein größerer Teil suchte, durch seine Bereitwilligkeit im Dienste der Großen jedes Laster zu begehen, sich ein Recht an das beneidete Glück, den Raub mit ihnen zu teilen, zu erwerben. Aber der größte Teil schmachtete in einem Zustande, den nur die lange Gewohnheit alles zu leiden, und die sklavische Mutlosigkeit eines stufenweise zum Vieh herab gewürdigten Volkes, dem Tode vorziehen konnte. Die Verderbnis der Sitten war so groß, daß selbst den wenigen, welche noch einen Überrest von Rechtschaffenheit, wie aus einem allgemeinen Schiffbruche, gerettet hatten, alle Hoffnung verging, dem Strom entgegen zu schwimmen. Alle Stände hatten ihre wahre Bestimmung vergessen, oder waren unfähig gemacht worden sie zu erfüllen. Die niedrigste Klasse hörte auf zu arbeiten; das Land und die Städte wimmelten von ungestümen Bettlern, welche ihren Müßiggang, zur Schande der Regierung, mit dem Mangel der Arbeit entschuldigten. Gleichwohl wurden die fruchtbarsten Provinzen des Reichs aus Mangel an Anbauung nach und nach zu Wildnissen. Die Gewerbe nahmen zusehens ab, der Kreislauf der Lebenssäfte des Staats war allenthalben gehemmt, und die Hauptstadt selbst, die schon so lange der Schlund gewesen war, in welchen alle Reichtümer desselben sich unwiderbringlich verloren hatten, stellte den empörenden Kontrast der äußersten Üppigkeit und des äußersten Elendes in einem Grade, der die Menschheit beleidigte, dar. Eine halbe Million hungernder Menschen schrie den Sultan um Brot an, wenn er sich in einem schimmernden Palankin zu einem seiner Großen tragen ließ, um den Ertrag etlicher Provinzen in einem einzigen abscheulichen Gastmahle verschlingen zu helfen – und der Lärm der Trompeten und Pauken, der dem unglücklichen Volke die grausame Fröhlichkeit seiner Tyrannen ankündigte, machte ihr Murren, ihre Verwünschungen unhörbar. Die Großen, die Günstlinge, Isfandiar selbst, konnten bei aller Bemühung, einander vorsetzlich zu verblenden, sich selbst die schreckliche Wahrheit nicht verbergen, daß sich das Reich seinem Untergang nähere. Auch mangelte es nicht an Vorschlägen und Entwürfen, den schädlichsten Mißbräuchen abzuhelfen, das Finanzwesen zu verbessern, den Untertanen ihre Last zu erleichtern, den Fleiß wieder aufzumuntern, und so ferner. Aber die einzigen von diesen Entwürfen, die der Ausführung wert waren, wurden entweder als patriotische Träume verworfen, oder unter allerlei Vorwänden dem Privatvorteile gewisser Leute aufgeopfert. Einige angebliche Verbesserungen wurden zwar ins Werk gesetzt; aber sie bestanden in bloßen Palliativen, welche die Ausbrüche des Übels eine Zeit lang verbargen, ohne die Wurzel desselben auszurotten. Die mißverstandene Maxime, daß man dem allzu tief eingedrungenen Luxus nicht Einhalt tun könne, ohne die ganze Maschine des Staats in die gefährlichste Stockung zu setzen, war immer die Antwort, womit sich diejenigen abfertigen lassen mußten, welche augenscheinlich bewiesen, daß es lächerlich sei, eine Krankheit, die man vorsetzlich ernährt, durch schmerzlindernde Mittel heilen zu wollen. Doch gesetzt auch, Isfandiar, da ihn endlich die ersten Erschütterungen des Thrones, dessen Grundfeste untergraben war, geneigt machten, zu allen Rettungsmitteln die Hand zu bieten, gesetzt er hätte einen großen, durchdachten, das Ganze umfassenden Entwurf einer allgemeinen Verbesserung unternehmen wollen: so mangelte es ihm an geschickten und redlichen Männern, denen er die Ausführung anvertrauen konnte. Wo hätte er solche Männer suchen sollen? In welcher Schule, durch welche Beispiele hätten sie sollen gebildet werden? Es war schon lange, seit der Geist der Tugend die Scheschianer verlassen hatte. Niemand bekümmerte sich um das gemeine Beste; der Name Vaterland setzte das Herz in keine Wallung; ein jeder sah in seinem Mitbürger, in seinem Bruder selbst, nichts als einen heimlichen Feind, einen Nebenbuhler, einen Menschen dessen Anteil den seinigen kleiner machte. Jeder dachte nur auf seinen eigenen Vorteil, und (wenige Unbekannte, welche das Verderben ihres Volkes im verborgenen beweinten, ausgenommen) war niemand, der nicht alle Augenblicke bereit gewesen wäre, einen beträchtlichen Privatvorteil mit dem Untergang der halben Nation zu erkaufen. Der Luxus hatte die ganze Masse dieses unglücklichen Reiches mit einem so wirksamen Gift angesteckt, daß der Kopf und das Herz, der Geschmack und die Sitten, die Leiber und die Seelen seiner Einwohner, gleich ungesund, und (da das Übel seiner Natur nach langwierig ist) durch die Länge der Zeit so daran gewöhnt waren, daß dieser abscheuliche Zustand ihnen zur andern Natur geworden war. Die Gefühllosigkeit für das Elend ihrer Mitbürger herrschte nicht nur in den verhärteten Herzen der Großen; sie hatte sich aller Stände bemeistert. Jedermann dachte nur darauf, wie er die allgemeine Not zu seinem eigenen Vorteil benutzen wolle, und das Übel nahm täglich zu, so wie sich diejenigen vermehrten, die bei dem Untergange des Staats zu gewinnen hofften. Alle Rechtschaffenen hatten sich so weit als möglich von einem Hof entfernt, wo die Weisheit lächerlich und die Tugend ein Verbrechen war; und der unglückliche Isfandiar sah sich zu einer Zeit, da die Weisesten und Besten kaum hinreichend gewesen wären den Staat zu retten, von einer Bande von Witzlingen, Lustigmachern, Gauklern, Kupplern und Schelmen umgeben, welche, je näher der Augenblick des allgemeinen Untergangs heran nahte, in diesem Gedanken selbst eine neue Aufmunterung zu jedem fröhlichen Bubenstücke zu finden, und entschlossen zu sein schienen, dem Verderben in einem Rausch von sinnloser Betäubung entgegen zu taumeln.

Unter den unzulänglichen Mitteln, mit welchen Eblis die Ausbrüche der tödlichen Krankheit des Staats zu verstopfen suchte, war eines, welches durch seine unvermeidlichen Folgen das Übel, dem es abhelfen sollte, unendlich verschlimmerte. In allen großen Staaten, die man jemals auf der Fläche des Erdbodens entstehen und verschwinden gesehen hat, zog der äußerste Luxus übermäßige Üppigkeit unter den Großen und Reichen, und übermäßiges Elend unter den Armen, nach sich. Beides bringt in Absicht auf die Sitten einerlei Wirkung hervor. Die Reichen stürzen sich durch Verschwendung und Müßiggang in die Gefahr arm zu werden; der Anblick dieser Gefahr ist ihnen unerträglich, und um ihr zu entgehen, ist kein Verbrechen, keine Schandtat, keine Unmenschlichkeit, welche sie nicht zu begehen bereit sein sollten. Und warum sollten sie nicht? da der Witz (der bei ihnen die Stelle der Vernunft vertritt) dem Laster schon lange den Weg gebahnt, und mit Hülfe eines verzärtelten Geschmackes gearbeitet hat, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht aufzuheben, und das angenehme oder nützliche Verbrechen mit tausend Reizungen, ja selbst mit dem Schein der Tugend auszuschmücken. Die Armen bringt die Verzweiflung, einen andern Ausweg aus ihrem gegenwärtigen Elend zu finden, zu dem unglücklichen Entschluß, es durch lasterhafte Mittel zu versuchen. Ein Elender, der nichts zu verlieren hat, läßt sich, um seinen Zustand zu verbessern, zu allem gebrauchen; er wird ein Betrüger, ein falscher Zeuge, ein Giftmischer, ein Meuchelmörder, sobald etwas dabei zu gewinnen ist. Andre, welche die Unterdrückung mutlos, und die Mutlosigkeit faul gemacht hat, stürzen sich auf dem abhängigen Wege des Müßiggangs bis in die schändlichsten Laster hinab. Sie werden aus Bettlern Diebe, aus Dieben Straßenräuber und Mordbrenner. Andere finden in dem schimmernden Zustande, worein sie Leute, die eben so wenig Ansprüche an Glück zu machen hatten als sie selbst, durch Aufopferung der Tugend versetzt sehen, einen Reiz, den die Vergleichung desselben mit ihrem gegenwärtigen Elend unwiderstehlich macht. Ist es Wunder, wenn der Anblick einer mit Diamanten behangenen Lais, die in einem vergoldeten Triumphwagen den Gewinn ihrer Unzucht zur Schau trägt, tausend junge Dirnen zu Priesterinnen der Venus, oder wenn der Anblick eines zu den höchsten Würden im Staat empor gestiegenen Kupplers tausend Kuppler macht? Es ging also sehr natürlich zu, wenn zu Isfandiars Zeiten alle Arten von Lastern in Scheschian im Schwange gingen; nichts als ein unaufhörliches Wunderwerk hätte die natürlichen Wirkungen täglich anwachsender Ursachen hemmen können. Der Übergang von einer Stufe des Lasters zur andern ist unmerklich; es kostet unendlich mehr Mühe sich zu der kleinsten vorsetzlichen Übeltat, wenn es die erste ist, zu entschließen, als das Ärgste zu begehen, wenn man einmal die unglückliche Leichtigkeit, Böses zu tun, erlangt hat. Kommt dann noch die Ansteckung verdorbener Sitten bei einem ganzen Volke, und das häufige Schauspiel der unterdrückten Tugend und des siegprangenden Lasters hinzu; sehen wir den Fürsten und die Großen selbst die Verachtung der Gesetze und der Tugend durch ihr Beispiel aufmuntern: dann ist wahrhaftig der Fall da, wo es eben so barbarisch ist Verbrechen zu bestrafen, als es ungerecht wäre, einem Menschen, den man hinterlistiger Weise trunken gemacht, die Ausschweifungen zur Last zu legen, die er in der Abwesenheit seiner Vernunft begangen hätte.

Eblis machte diese Betrachtung nicht. Er sah nur das Übel; die Quelle wollt er nicht sehen. Aber das Übel erheischte schleunige Mittel. Die geringern Verbrechen hatten für die Scheschianer nichts Abschreckendes mehr, denn die ungeheuersten fingen an alltäglich zu werden. Giftmischerei und Vatermord wurden so gewöhnlich, daß sich niemand mehr getraute mit seinem Erben unter Einem Dache zu wohnen. Alle Bande der Gesellschaft waren los; und wie hätten die bürgerlichen Gesetze einem Volke, welches die Natur selbst zu mißhandeln fähig war, Ehrfurcht einprägen sollen? Keine öffentliche Sicherheit, keine Scheu vor der Schande mehr! Es war leichter unter der Klasse, welche sich Leute von Ehre nennen, einen falschen Zeugen oder einen Meuchelmörder, als unter dem Pöbel einen Tagelöhner zu mieten. Die allgemeine Verderbnis hatte auch die schönere Hälfte der Nation alles dessen beraubt, was die Schönheit veredelt und sogar den Mangel derselben vergüten kann. Schamhaftigkeit und Unschuld, die lieblichsten Grazien dieses Geschlechts, waren den Scheschianerinnen fremde – noch mehr, sie waren ihnen lächerlich geworden. Es war unmöglich, eine ehrliche Frau von einer Metze an etwas anderm zu unterscheiden, als an der seltsamen Affektation, womit diese sich bemühten wie ehrliche Frauen, und jene wie Metzen auszusehen. Mit einem Buhler davon zu laufen, oder einem Manne, der nicht so viel Gefälligkeit hatte als ein Mann von Lebensart haben sollte, Rattenpulver einzugeben, waren Verbrechen, denen sich ein jeder, der das Unglück hatte vermählt zu sein, täglich ausgesetzt sah. Die Justiz hatte ihr möglichstes getan, den unleidlichen Ausbrüchen dieses sittlichen Verderbens Einhalt zu tun. Alle Gefängnisse und alle Galgen in Scheschian waren angefüllt; aber man verspürte keine Abnahme des Übels. Die Hauptstadt selbst, ungeachtet der künstlichen und scharfen Polizei, welche Eblis darin eingeführt hatte, sah mehr einem ungeheuern Haufen von schändlichen Häusern und Mördergruben als dem Mittelpunkt eines großen Reichs ähnlich. ›Verzweifelte Übel erheischen verzweifelte Heilungsmittel‹, sagten die politischen Quacksalber an Isfandiars Hofe. Man schärfte also die Strafgesetze, man vermehrte sie ins unendliche, man erfand neue Todesarten, man ermunterte die Angeber geheimer Verbrechen durch ansehnliche Belohnungen, man bemächtigte sich der Personen auf den leichtesten Argwohn, – und man war ungemein betroffen, oder stellte sich doch wenigstens so, da man gewahr wurde, daß eine so vortreffliche Justiz – die Scheschianer nicht besser machte. Im Gegenteil zeigte sich bald, daß die Kur ärger als die Krankheit selbst war. Man wollte die öffentliche Sicherheit wieder herstellen, und die allgemeine Gefahr vermehrte sich. Man wollte dem Verbrechen Einhalt tun, und man öffnete ihm tausend neue Pforten. Zuvor hatten die Scheschianer nur vor Räubern und Mördern gezittert: itzt zitterte man auch noch vor den Angebern. Zuvor kannte der Unmensch, der durch eines andern Tod gewinnen wollte, kein andres Mittel zu seinem Zwecke zu gelangen als Gift und Dolch: nun gab es ein gesetzmäßiges Mittel, wobei wenig Gefahr und viel zu gewinnen war; man machte sich zum Angeber und ging mit seinem Anteile an dem Raube der Justiz im Triumphe davon. Die Scheschianer merkten bald, daß die Profession der Angeber einträglicher war als irgend eine andre. Sie gab häufige Gelegenheiten sich um die Großen verdient zu machen, und verschiedene Beispiele eines schleunigen und blendenden Glückes, welches auf diesem Wege war gefunden worden, reizten die allgemeine Begierlichkeit. Jedermann ward zum Angeber. Das Laster verlor in der Tat die Sicherheit, die es so lange genossen, aber zum Unglück hatte die Unschuld hierin keinen Vorteil vor ihm. Die Scheschianer fanden, alles gegen einander abgewogen, mehr Vorteil dabei, wenn sie fortführen lasterhaft zu sein; und so zeigte sich am Ende, daß man durch diese übel bedachten Veranstaltungen die Verbrechen nicht abgeschreckt, aber wohl den kleinen Überrest von Unschuld und Tugend, der den verdorbenen Staat noch vor der Fäulnis und gänzlichen Auflösung bewahrte, völlig vernichtet hatte.

Ärger konnte wohl eine Staatsoperation von solcher Wichtigkeit nicht mißlingen. Aber der schlaue Eblis hatte doch etwas dabei gewonnen, wodurch er überflüssig entschädigt zu sein glaubte. Die unendliche Vermehrung der Strafgesetze hatte ihm, unter dem Schein einer preiswürdigen Fürsorge für die Sitten, einen Weg gezeigt, die Sünden der Scheschianer zu einer reichen Quelle von Einkünften zu machen. Die Ergiebigkeit derselben hatte etwas so Anreizendes, daß man täglich auf die Vervollkommnung dieses edlen Zweiges der Finanzen bedacht war. Insonderheit schien das Verbrechen der beleidigten Majestät ein herrliches Mittel, sich der Güter der Großen und Reichen mit guter Art zu bemächtigen. Die Rechtsgelehrten von Scheschian (Leute welche für einen leidlichen Preis alles was der Hof gern sah zu Recht erkannten) erschöpften daher alle ihre Scharfsinnigkeit, die Theorie eines so einträglichen Verbrechens aufs feinste auszuarbeiten; sie setzten alle seine Äste und Zweige bis auf die allerkleinsten Fäserchen sehr künstlich aus einander, und bewiesen zum Schrecken der armen Scheschianer, daß man zu gewissen Zeiten kaum ein Glied rühren, kaum Atem holen könnte, ohne sich dieses furchtbaren Lasters schuldig zu machen. Es konnte mit einem bloßen Worte, mit einer Miene, in Gedanken, ja sogar im Traume – es konnte an dem elendesten Gemälde das den König vorstellte, an einem Bedienten der königlichen Küche, an einem königlichen Hunde, an dem Napfe worein der König spuckte, begangen werden. Der behutsamste Tadel der Maßregeln des Hofes, der kleinste Seufzer, den das Mitleiden mit sich selbst einem Unrecht leidenden Scheschianer auspreßte, die leiseste Berufung auf die Rechte der Menschheit, war ein Majestätsverbrechen. Zum Beweise, daß man des Vergnügens zu strafen nicht satt werden könne, schien man nichts Angelegners zu haben, als der Nation täglich neue Gelegenheiten zu geben, sich strafbar zu machen; und niemand, ach niemand! ließ sich in den Sinn kommen, daß das strafwürdigste, das ungeheuerste aller Verbrechen – die Beleidigung der Menschheit sei

»Danischmend«, rief der Sultan aus, »ich bin deines Isfandiars müde. Der Sultan, sein Günstling, sein Hof und seine Untertanen sind samt und sonders nicht würdig, länger von der Sonne beschienen zu werden. Wie wenn du eine hübsche Sündflut kommen ließest, und die ganze ekelhafte Brut vom Erdboden wegspültest?«

»Sire«, sagte Danischmend, »dies ist die Sache des Himmels: er wird seine Ursache haben, warum er einer verbrecherischen Welt so lange zusieht.«

»Keine Metaphysik, Herr Doktor! Höre was ich dir sagen werde. Ich gebe dir bis morgen Bedenkzeit, ob du sie durch ein Erdbeben, oder durch eine Sündflut, oder durch Heuschrecken und Pest vertilgen willst. Genug, wenn sie mir nur je eher je lieber aus den Augen kommen.«


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