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»Die Sittenlehre deines – wie heißt er? ist eine vortreffliche Sittenlehre«, sagte der Sultan zu Danischmenden: »ich habe gut auf sie geschlafen! Aber itzt würdest du mir, weil ich noch keine Lust zu schlafen habe, einen Gefallen tun, wenn du deine Erzählung ohne weitere Sittenlehre zu Ende bringen wolltest.«
Danischmend antwortete wie es einem demütigen Sklaven zusteht, und setzte seine Erzählung also fort.
»›Dieses‹, sagte der Alte, indem er seine Täfelchen wieder zusammen legte, ›sind die Grundsätze, nach welchen wir leben. Wir ziehen sie, so zu sagen, mit der Milch unsrer Mütter ein, und durch Beispiel und Gewohnheit müßten sie uns zur andern Natur werden, wenn sie auch an sich selbst der Natur nicht so ganz gemäß wären als sie es sind. Kannst du dich nun noch länger wundern, daß ich in einem Alter von achtzig Jahren fähig bin meinen Anteil an den Vergnügungen des Lebens zu nehmen? daß mein Herz und meine Sinne noch jedem sanften Gefühl offen stehen, meine Augen noch immer gern auf schönen Formen verweilen; und daß, wenn auch die Natur meinem Alter Freuden versagt, die ich weder verachte noch vermisse, ich zufrieden bin diejenigen zu genießen, welche sie mir gelassen hat; kurz, daß der letzte Teil meines Lebens dem Abend einer schönen Nacht ähnlich ist, und ich wenigstens in diesem Stücke dem Weisen gleiche, der (um den Ausdruck unsers Gesetzgebers zu wiederholen) den Becher der reinen Wollust bis auf den letzten Tropfen ausschlürft: und, ich schwöre bei diesem alles beleuchtenden Auge der Natur, unsrer allgemeinen Mutter, daß ich mit dem letzten Atemzuge, wenn ich anders noch die Kraft dazu habe, den letzten Tropfen davon auf meinen Nagel sammeln und hinunter schlürfen will!‹
Der alte Mann sagte dies mit einem so angenehm auflodernden Feuer, daß der Emir darüber lächeln mußte; aber es war zu viel Neid und Unmut unter dieses Lächeln gemischt, als daß sein Gesicht in den Augen einer Tochter der Natur viel dabei gewonnen hätte.
›Den übrigen Teil unsrer Gesetzgebung‹, fuhr der Alte fort, ›welcher unsre Polizei betrifft, werde ich dir am besten durch eine Beschreibung unsrer Lebensart und unsrer Sitten begreiflich machen. Unsre kleine Nation, welche ungefähr aus fünfhundert Stammfamilien besteht, lebt in einer vollkommenen Gleichheit; indem wir keines andern Unterschiedes bedürfen, als den die Natur selbst, die das Mannigfaltige liebt, unter den Menschen macht. Die Liebe zu unsrer Verfassung, und die Ehrerbietung gegen die Alten, welche wir als die Bewahrer derselben ansehen, ist hinlänglich, Ordnung und Ruhe, die Früchte übereinstimmender Grundsätze und Neigungen, unter uns zu erhalten. Wir betrachten uns alle als eine einzige Familie, und die kleinen Mißhelligkeiten, die unter uns entstehen können, sind den Zänkereien der Verliebten oder einem vorüber gehenden Zwiste zärtlicher Geschwister ähnlich. Unsre Festtage sind die einzigen Gerichtstage, die wir kennen; unser ganzes Volk versammelt sich dann vor dem Tempel der Huldgöttinnen, und unter ihren Augen werden von unsern Ältesten alle Händel beigelegt, und alle gemeinschaftliche Abredungen genommen.
Wir nähren und bekleiden uns von unsern eigenen Produkten, und das Wenige, was uns abgeht, tauschen wir von den benachbarten Beduinen gegen unsern Überfluß ein. Unsrer Jugend überlassen wir die Sorge für die Herden. Vom zwölften bis zum zwanzigsten Jahre sind alle unsre Knaben Hirten, alle unsre Mädchen Schäferinnen, denn der weise Psammis urteilte, daß dieses die natürlichste Beschäftigung für das Alter der Begeisterung und der empfindsamen Liebe sei. Der Ackerbau beschäftigt die Männer vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Jahre; und die Gärtnerei ist den Alten überlassen, welche darin von den Jünglingen der mühsamsten Arbeiten überhoben werden. Der Seidenbau, die Verarbeitung der Baumwolle und Seide, die Wartung der Blumen, und die ganze innere Haushaltung gehört unsern Frauen und Töchtern zu. Jede Familie lebt so lange beisammen, als die gemeinschaftliche Wohnung sie fassen und das väterliche Gut sie ernähren kann. Geht dieses nicht mehr an, so wird eine junge Kolonie errichtet, die sich in einem benachbarten Tale anpflanzt. Denn die Araber (deren Schutz wir mit einem mäßigen Tribut erkaufen, und welche die Natur in uns um so mehr zu ehren scheinen, als es ihnen wenig nützen würde uns auszurotten) haben uns einen größern Umfang von Land überlassen, als wir in etlichen Jahrhunderten bevölkern werden. Unser Gesetzgeber urteilte mit gutem Grunde, daß es zu Erhaltung unsrer Verfassung nötig sei, immer ein kleines Volk zu bleiben. Er verordnete deswegen, von Zeit zu Zeit eine Prüfung mit unsern Jünglingen vorzunehmen, und diejenigen, an denen sich ungewöhnliche Fähigkeiten, ein unruhiger Geist, eine Anlage zu Ruhmbegierde, oder auch nur ein bloßes Verlangen die Welt zu sehen, äußern würde, von uns zu tun, und jenseits der Gebirge in irgend eine Hauptstadt von Ägypten, Syrien, Yemen oder Persien zu schicken, wo sie leicht Gelegenheit finden würden, ihre Talente zu entwickeln und ihr Glück zu machen, wie man bei diesen Völkern zu reden pflegt. Wir verlieren auf diese Weise alle zehen Jahre eine beträchtliche Anzahl von jungen Leuten; aber oft begegnet es auch, daß sie, wenigstens im Alter, wieder kommen, um das Ende ihres Lebens in der einzigen Freistätte, welche die schöne Natur vielleicht auf dem ganzen Erdboden hat, zu beschließen; und wenn sie eine sehr scharfe Art von Quarantäne ausgehalten haben, und wir versichert sind, daß die Gesundheit unsrer Seelen und Leiber nichts von ihnen zu besorgen hat, werden sie mit Vergnügen aufgenommen. Verschiedene von ihnen haben beträchtliche Reichtümer mit sich gebracht, welche an einem unserm ganzen Volke bekannten und offen stehenden Orte zu gemeinen Bedürfnissen auf künftige Fälle aufbehalten werden, ohne daß jemand daran denken sollte, sich etwas von demjenigen zueignen zu wollen, was allen angehört. Unsre Kinder werden vom dritten bis zum achten Jahre größten Teils sich selbst, das ist, der Erziehung der Natur überlassen. Vom achten bis zum zwölften empfangen sie so viel Unterricht, als sie vonnöten haben, um als Mitglieder unsrer Gesellschaft glücklich zu sein. Wenn sie richtig genug empfinden und denken, um unsre Verfassung für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt genug. Jeder höhere Grad von Verfeinerung würde ihnen unnütze sein. Mit Antritt des vierzehnten Jahres empfängt jeder angehende Jüngling die Gesetze des weisen Psammis; er gelobet vor den Bildern der Huldgöttinnen, ihnen getreu zu sein; und dieses Gelübde wiederholt er im zwanzigsten, da er mit dem Mädchen, welches er in seinem Hirtenstande geliebt hat, vermählt wird. Denn die Liebe allein stiftet unsre Heiraten. Im dreißigsten Jahr ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte zu nehmen, wofern er nicht hinlängliche Ursachen dagegen anführen kann, wovon wir kein Beispiel haben. Diese Vorsicht war vonnöten, weil die natürliche Proportion in der Anzahl der Jünglinge und Mädchen durch Verschickung eines Teils der ersten beträchtlich vermindert wird. Wir haben Sklaven und Sklavinnen; aber mehr zum Vergnügen, als um einen andern Nutzen von ihnen zu ziehen. Wir erkaufen sie in ihrer ersten Jugend von den Beduinen; eine untadelige Schönheit ist alles worauf wir dabei sehen. Wir erziehen sie wie unsre eigenen Kinder; sie genießen des Lebens so gut als wir selbst; ihre Kinder sind frei, und sie selbst sind es von dem Augenblick an, da sie uns verlassen wollen. Sie sind in nichts als in ihrer Kleidung von uns unterschieden, welche zierlicher ist als die unsrige; und das einzige Vorrecht, welches wir uns über sie heraus nehmen, ist, daß sie uns bedienen wenn wir ruhen, und daß ihre vornehmste Beschäftigung ist uns Vergnügen zu machen.
Alle unsre Vergnügungen sind natürlich und ungekünstelt, und alle unsre Gemächlichkeiten tragen das Kennzeichen der Einfalt und Mäßigung. Wir genießen die Seligkeit eines ewigen Friedens, und einer Freiheit, die vielleicht für uns allein ein Gut ist, weil wir ihren Mißbrauch nicht kennen. Wir genießen die Wollust, welche die Natur mit der Befriedigung der Bedürfnisse des Lebens, mit der Liebe, der Ruhe nach der Arbeit, und mit allen geselligen Trieben verbunden hat, vermutlich in einem höhern Grade als die übrigen Sterblichen; wir werden unsers Daseins vollkommner und länger froh; wir kennen die wenigsten von der unendlichen Menge ihrer Plagen, und auch diese kaum dem Namen nach. Dafür lassen wir ihnen gern ihre wirklichen oder eingebildeten Vorzüge, ihre Pracht, ihre Schwelgerei, ihre langweiligen Zeitvertreibe, ihre Geschäftigkeit einander beschwerlich zu sein, ihre Unzufriedenheit, ihre Laster und ihre Krankheiten. Sollten wir sie um Künste beneiden, durch deren grenzenlose Verfeinerung sie ihr Gefühl so lange verzärteln, bis sie nichts mehr fühlen? oder um Wissenschaften, ohne welche wir uns wohl genug befinden, um den heimlichen Neid des Gelehrtesten unter ihnen zu erregen, wenn er uns kennen sollte? Wir sind so weit entfernt von einem solchen Neide, daß jeder Versuch, den einer von uns machen wollte, etwas an unsrer Verfassung zu bessern, oder uns mit neuen Künsten und Bedürfnissen zu bereichern, mit einer ewigen Verbannung bestrafet würde. Ich selbst‹, setzte der Alte hinzu, ›habe einige Jahre meines Lebens zugebracht, einen großen Teil des Erdbodens zu durchwandern. Ich habe gesehen, beobachtet, verglichen. Als ich dessen müde war, mit welchem Entzücken dankte ich dem Himmel, daß ich einen kleinen Winkel wußte, wo es möglich war, ungeplagt glücklich zu sein! Mit welcher Sehnsucht flog ich zu den Wohnungen des Friedens und der Unschuld zurück! – Es ist wahr, unser Volk ist, in Vergleichung aller andern, ein Völkchen von ausgemachten Wollüstigen; aber desto besser für uns! Sind wir zu tadeln, daß wir uns nicht aus allen Kräften der Natur entgegen setzen, die uns glücklich machen will?‹
Hier endigte der Alte seine Rede. Weil die Sonne schon hoch gestiegen war, führte er seinen Gast in eine bedeckte Halle, welcher hohe dicht in einander verflochtene Kastanienbäume Schatten gaben. Kaum hatten sie hier auf einem Sofa, der rings herum lief, Platz genommen, so sah sich der Alte von einer Menge schöner Enkel umgeben, die, wie schwärmende Bienen, um ihn her wimmelten, ihn zu grüßen und an seinen Liebkosungen Anteil zu haben. Die kleinsten wurden von liebenswürdigen Müttern herbei getragen, unter denen keine war, die in ihrem einfachen und reizend nachlässigen Putze, die weiten Ärmel von ihren schneeweißen Armen zurück geschlagen, und ihren holdseligen Knaben an den leicht bedeckten Busen gelehnt, nicht das schönste Bild einer Liebesgöttin dargestellt hätte. Der Emir vergaß über diesem rührenden Anblick eine Menge Fragen, die ihm unter der Erzählung seines Wirtes aufgestoßen waren; und dieser überließ sich gänzlich dem Vergnügen, sich an den Kindern seiner Kinder zu ergetzen. Der Kontrast des hohen Alters mit der Kindheit, durch die sichtbare Verjüngerung des einen und die liebkosende Zärtlichkeit der andern, und durch eine Menge kleiner Schattierungen, die sich besser empfinden als beschreiben lassen, gemildert; das gesunde und fröhliche Aussehen dieses Greises; die Aufheiterung seiner ehrwürdigen Stirne; das stille Entzücken, das sich beim Anblick so vieler glücklichen Geschöpfe, in denen er sich selbst vervielfacht sah, über alle seine Züge ausgoß; die liebreiche Gefälligkeit, mit welcher er ihre beunruhigende Lebhaftigkeit ertrug, oder womit er die kleinsten auf den Armen der schönen Mütter mit seinen weißen Haaren spielen ließ; – alles zusammen machte ein lebendiges Gemälde, dessen Anblick die Güte der Moral des weisen Psammis besser bewies als die scharfsinnigsten Vernunftsgründe hätten tun können. Der Emir selbst, so sehr die ungestüme Herrschaft einer groben Sinnlichkeit die sanftern und edlern Gefühle der Natur in ihm erdrückt hatte, fühlte bei diesem Anblick sein verhärtetes Herz weicher werden, und ein flüchtiger Schimmer von Vergnügen fuhr über sein Gesicht hin; ein Vergnügen, gleich dem himmlischen Lichtstrahl, der plötzlich in den nachtvollen Abgrund einfallend, den verdammten Seelen einen flüchtigen Blick in die ewigen Wohnungen der Liebe und der Wonne gestatten würde, um die Qual ihrer Verzweiflung vollkommen zu machen.
Die Urkunde, aus welcher ich diese Erzählung gezogen habe«, fuhr Danischmend fort, »steht hier still, ohne uns von dem Aufenthalt des Emirs bei diesen Glücklichen weitere Nachrichten zu geben. Einige Scholiasten sagen, daß er, in voller Wut über die trostlose Vergleichung ihres Zustandes mit dem seinigen, sich von einer Felsenspitze herab gestürzt habe. Aber ein andrer, dessen Zeugnis ungleich mehr Gewicht hat, versichert, daß er unmittelbar nach seinem Abschiede von den Kindern der Natur in den Orden der Derwischen getreten sei, und sich in der Folge, unter dem Namen Schek Kuban, den Ruhm eines der größten Sittenlehrer in Yemen erworben habe. Er unterschied sich, sagt man, besonders durch die Lebhaftigkeit der Abschilderungen, die er von den unseligen Folgen einer zügellosen Sinnlichkeit zu machen pflegte. Man bewunderte die Stärke und Wahrheit seiner Gemälde, und niemand, oder nur sehr wenige, welche die Gabe hatten, zu erraten was für ein Gesicht hinter jeder Maske steckt, begriffen, warum er so gut malen konnte. Er hätte nützlich sein können, wenn er es dabei hätte bewenden lassen. Aber Mißgunst und Verzweifelung erlaubten ihm nicht in so bescheidenen Schranken zu bleiben. Er warf sich zum erklärten Feinde aller Freuden und Vergnügungen des Lebens auf. Ohne den natürlichen und weisen Gebrauch derselben von dem sich selbst strafenden Mißbrauche zu unterscheiden, schilderte er die Wollust und die Freude als verderbliche Sirenen ab, die den armen Wanderer durch die Süßigkeit ihrer Stimme herbei locken, um ihm das Mark aus den Beinen zu saugen, das Fleisch von den Knochen zu nagen, und, wenn sie nichts mehr an ihm finden, den Rest den Maden zur Speise hinzuwerfen. Er beschrieb die Liebe zum Vergnügen als eine unersättliche Leidenschaft. ›Hoffen, daß man sie werde in Schranken halten können‹, sagte er, ›das wäre eben so weise, als wenn einer eine Hyäne auf seinem Schoß erziehen wollte, in Hoffnung sie zahm und gutartig zu machen.‹ Unter diesem Vorwande befahl er alle sinnliche Neigungen auszurotten. Sogar die Vergnügungen der Einbildungskraft hießen ihm gefährliche Fallstricke, und die verfeinerte Wollust des Herzens und der Sinne ein künstlich zubereitetes Gift, dessen Verfertiger mit ewigen Flammen bestraft zu werden verdienten. Diese unbesonnene Sittenlehre, die Frucht seiner verdorbenen Säfte, seines ausgetrockneten Gehirns, und des immer währenden Grams in welchem seine düstre Seele wohnte, predigte er so lange, bemühte sich so sehr sie durch tausend sophistische Schlüsse sich selbst wahr zu machen, bis er es endlich so weit brachte, sich völlig davon überzeugt zu glauben. Itzt bildete er sich ein, daß es lauter Menschenliebe sei, was ihn anfeure, alle Leute zu eben so unglückseligen Geschöpfen machen zu wollen, als er selbst war; und nachdem seine Krankheit ihre höchste Stufe erreicht hatte, endigte er damit, die Zerrüttung seiner Empfindungswerkzeuge und Begriffe dem höchsten Wesen selbst beizulegen, und den Schöpfer des Guten, dessen durch das Unermeßliche ausgebreitete Kraft Leben und Wonne ist, als einen grämischen Dämon abzuschildern, den die Freude seiner Geschöpfe beleidigt, und dessen Zorn nur Enthaltung von allem Vergnügen, nur Seufzer, Tränen und freiwillige Martern besänftigen können.
Es ließen sich noch viele merkwürdige Dinge von den Folgen dieser menschenfeindlichen Sittenlehre sagen, und von dem sinnreichen Gebrauche, welchen die Derwischen, Fakirn, Talapoinen, Bonzen und Lamas in allen Teilen von Asien und Indien davon zu machen gewußt haben. Aber ich würde doch am Ende nur Dinge sagen, die dem Sultan meinem Herrn und der ganzen Welt längst bekannt sind (wiewohl ohne daß die Welt sich dadurch besser zu befinden scheint) und ›es gibt eine Zeit anzufangen, und eine Zeit aufzuhören‹, sagt der weise Zoroaster.«
Schach-Gebal war (wir wissen nicht warum) mit der Erzählung des Philosophen Danischmend, besonders mit dem Ende derselben, so wohl zufrieden, daß er sogleich Befehl gab, ihm fünfhundert Bahamd'or aus seinem Schatze auszuzahlen. »Sobald«, setzte er hinzu, »die Stelle eines Oberaufsehers über die Derwischen und Bonzen ledig wird, soll sie kein andrer haben als Danischmend!«
Nicht von ungefähr, sondern weil der Sultan von Nurmahal voraus berichtet worden war, daß die Derwischen beim Schlusse der Erzählung des Doktors übel wegkommen würden, hatte der oberste Iman des Hofes Befehl erhalten, sich diese Nacht beim Schlafengehen des Sultans einzufinden. Seine Majestät ergetzten Sich nicht wenig an dem Verdrusse, welchen der Iman, wie Sie glaubten, über die Verwandlung des Emirs in einen Derwischen empfinden würde. Aber vermutlich eben darum, weil der Iman, ohne daß er darum schlauer als andre war, merken mußte, warum er die Ehre hätte da zu sein, beobachtete er sich selbst so genau, daß ihm nicht das geringste Zeichen von Verdruß entwischte. Indessen konnt er sich doch nicht erwehren die Anmerkung zu machen: Wofern es auch (woran er doch billig zweifle) ein solches Völkchen in der Welt gäbe, wie diese so genannten Kinder der Natur, so glaube er doch, daß man besser tun würde, die Nachrichten davon entweder gänzlich zu unterdrücken, oder wenigstens nicht unter das Volk kommen zu lassen.
»Und aus was für Ursachen, wenn man Euer Ehrwürden bitten darf?« fragte der Sultan.
»Ich erstrecke diese meine Meinung«, versetzte der Iman, »auf alle diese Schilderungen von – ich weiß nicht was für idealischen Menschen, die man unter dem angeblichen Zepter der Natur ein sorgenfreies, aus lauter Wollust und angenehmen Empfindungen zusammen gewebtes Leben zubringen läßt. Je unschuldiger und liebenswürdiger man ihre Sitten vorstellt, desto schädlicher ist der Eindruck, den solche Erdichtungen auf den größten Haufen machen werden. Aufrichtig zu reden« (fuhr er in einem sanft schleichenden Tone fort, der ausdrücklich für seine wohl meinende Miene gemacht war) »ich kann nicht absehen, was für einen Nutzen man davon erwartet; oder wie man sich selbst verbergen kann, daß sie zu nichts anderm dienen können, als einen Geist der Weichlichkeit in die Welt auszugießen, der die Bürger des Staats von allen mühsamen Anstrengungen und beschwerlichen Unternehmungen abschreckt, und (indem er das Verlangen allgemein macht, auch so glücklich zu sein als diese angeblichen Günstlinge der Natur, deren wollüstige Moral man uns für Weisheit gibt) zuwege zu bringen, daß sich endlich niemand mehr willig finden wird, das Feld zu bauen, harte Handarbeiten zu verrichten, und sein Leben zur See oder gegen die Feinde des Staats zu wagen. Überhaupt erfordert die Vervollkommnung eines jeden Zweiges des politischen Wohlstandes Leute, die keine Arbeit scheuen, und die mit hartnäckig anhaltendem Fleiße, dessen keine weichliche Seele fähig ist,Wiewohl nicht zu leugnen ist, daß der Iman hier einige Wahrheiten oder Halbwahrheiten vorbringt, so können wir doch nicht unangemerkt lassen, daß dieser letzte Satz ganz falsch ist. Solon, Pisistratus, Alcibiades, Demetrius Poliorcetes, Julius Cäsar, Antonius, und zehen tausend andre Beispiele haben zu allen Zeiten das Gegenteil bewiesen. Aber freilich mochte dieser Iman, wie viele seinesgleichen, nicht sonderlich in der Geschichte bewandert sein.
Anmerk. des latein. Übersetzers
Während daß der Iman diese schöne Rede hielt, sang der Sultan im Tone der langen Weile und mit halb geschloßnen Augen, »la Faridondäne la Faridondon, Dondäne Dondon Dondäne, Dondäne Dondäne Dondon« – denn er wußte sich etwas damit, stark in Gassenhauern zu sein. »Nun, Doktor«, rief er, da der Iman fertig war, »laß hören, was du diesen Gründen entgegen zu setzen hast.«
»Ich werde«, versetzte Danischmend, »mit Ihrer Majestät Erlaubnis weiter nichts tun, als kürzlich zeigen, daß die Gründe des Imans erstens zu viel, zweitens zu wenig, und drittens gar nichts beweisen. Zu viel; denn alle seine Vorwürfe treffen die Natur selbst eben so stark als die Schilderungen oder Erdichtungen, die ihm so gefährlich scheinen. Die Grundsätze des weisen Psammis, die allgemeinen Wahrnehmungen und Erfahrungen, auf welche seine Sittenlehre gebaut ist, sind keine Erdichtungen. Wenn der Zustand, worein seine Gesetzgebung die Einwohner der glücklichen Täler setzte, unter allen möglichen der Menschheit am angemessensten, wenn er derjenige ist, worin sie am wenigsten leidet, am wenigsten Böses tut, die Wohltaten der Natur am wenigsten mißbraucht, und am Ende ihres Laufes sich am wenigsten gereuen läßt gelebt zu haben, – wer kann dafür, oder wer hat ein Recht etwas dawider einzuwenden? Sind die angenehmen Empfindungen, die uns die Natur von allen Seiten anbietet, etwa bloße Schaugerichte? Sind es bloße Versuchungen, die uns in einer verdienstlichen Enthaltung üben sollen? Wenn dies ihre Absicht gewesen ist, so muß man gestehen, daß die Natur wunderliche Grillen hat. Kann man uns übel nehmen, wenn wir geneigter sind diejenigen, welche sie zur Törin machen wollen, für grillenhafte Leute anzusehen? Oder was sollen wir sagen, wenn wir diese sonderbaren Sterblichen, die das Vergnügen in ganzem Ernste für einen Fallstrick ihrer Tugend halten, zu Schlachtopfern ihrer peinvollen Bemühung – die Hälfte ihres Wesens zu zerstören – werden sehen? Werden sie mit ihrer verdorbenen Galle, mit ihrer Schwermut, mit ihrer ängstlichen Furcht alle Augenblicke einen Mißtritt zu tun, kurz mit allen den Gespenstern, womit eine verwundete Einbildungskraft sich umgeben sieht, geschickter sein, ihre eigene Vollkommenheit und das Beste der Gesellschaft zu befördern? Euer Ehrwürden, welche Sich in der Lage befinden, ein Tafelgenosse des Sultans von Indien zu sein, über die innerlichen Angelegenheiten von fünf oder sechs der schönsten Damen in Dely die Aufsicht zu führen, und alle Monate hundert Bahamd'or in Ihren Beutel fallen zu lassen, welche zu erschwingen hundert arme Landleute sich zu Gerippen arbeiten und hungern müssen, – stellen Sich vielleicht den Zustand eines armen Schelms, der von Brotkrumen und Zisternenwasser lebt, und, damit die Schönheit seine Sinne nicht verführen könne, sich die Augen an der Sonne ausgebrannt hat, nicht ganz so unbehaglich vor als ich schwören wollte, daß er sein muß.« –
»Bravo, Danischmend!« sagte der Sultan, mit halber Stimme, und einem aufmunternden Winke, der dem Iman nicht entging.
»Ich sage also« (fuhr der Doktor fort) »wenn die Absicht der Natur nicht gewesen ist, uns durch schöne und ergetzende Gegenstände in Fallen zu locken: so beweisen die Gründe des Imans zu viel. Denn die reizendsten Schilderungen können unmöglich auch nur die Hälfte der Wirkung hervorbringen, welche die besagten Gegenstände selbst tun. Hatte hingegen die Natur wohl gemeinte Absichten, welche nur durch Leichtsinn, falschen Geschmack, oder verderbte Grundsätze von den meisten vereitelt werden: so ist es löblich und nützlich, sie durch solche Schilderungen, wie diejenigen, die dem Iman zu mißfallen das Unglück haben, auf den Pfad der Natur zurück zu führen, und zu einem weisen Genuß ihrer Wohltaten einzuladen.
Zweitens beweisen seine Gründe zu wenig. Denn wenn auch die ganze Welt mit Gemälden von glücklichen Inseln und glücklichen Menschen angefüllt würde, so sind zehen an eines zu setzen, daß die Leidenschaften, welche zu allen Zeiten die Beweger der sittlichen Welt waren, ihr Spiel nichts desto weniger fortspielen werden. Die Begierde nach einem glücklichen Leben wird, in jedem Staate der auf die Ungleichheit gegründet ist, die Begierde nach Reichtum, und der Reichtum die Begierde nach Ansehen, Größe und willkürlicher Gewalt hervorbringen. Diese Leidenschaften werden, je nachdem die Grundverfassung, oder die zufällige Beschaffenheit der Staatsverwaltung, sie mehr oder weniger begünstiget, eine Menge Talente ausbrüten; und das Verlangen nach dem angenehmsten Genusse des Lebens, von welchem der Iman eine allgemeine Untätigkeit besorgt, wird gerade das Gegenteil wirken; es wird uns emsige Leute, Erfinder, Verbesserer, Virtuosen und Helden geben so viel und vielleicht mehr als wir vonnöten haben. Die idealischen Schilderungen der Wollüste der Sinne, der Einbildungskraft und des Herzens werden also, vermöge der Natur der Sache, den großen Zweck mächtig befördern helfen, der Sr. Ehrwürden so sehr am Herzen liegt. Man wird sich, wie ich gar nicht zweifle, so lange man sich an solchen Gemälden ergetzt, in diese glücklichen Inseln, Schäferwelten, oder wie man sie nennen will, hinein wünschen, wo das angenehmste Leben so wenig kostet: aber man wird des Wünschens bald überdrüssig sein; und – ohne zu hoffen, daß man unversehens einen schönen Muschelwagen mit sechs geflügelten Einhörnern vor seiner Türe finden werde, um den Wünscher in die idealischen Welten überzuführen – wird man sich gefallen lassen, diejenigen Mittel zum glücklich leben anzuwenden, die in unsrer Gewalt sind, und in die Verfassung der Welt eingreifen, worin wir uns befinden. Die Schlüsse des Imans beweisen also zu viel und zu wenig, und folglich – gar nichts, welches das dritte war, was ich zeigen wollte. Doch, wir wollen den schlimmsten Fall setzen, der sich als eine Folge der Dichtungen oder Schilderungen, wovon die Rede ist, denken läßt: gesetzt, daß sie die Wirkung hätten, alle Völker, die zwischen dem Ganges und Indus wohnen, zum Entschluß zu bringen, ihrer bisherigen Lebensart zu entsagen – (wiewohl viel eher zu besorgen ist, daß mein Emir-Derwisch ganz Indostan zu seiner fanatischen Sittenlehre, als daß Psammis nur die kleinste Provinz davon zu der seinigen bekehren werde) – aber setzen wir immer den Fall; wie groß meinen Euer Ehrwürden, daß der Schade sein würde? Psammis hätte alsdann zu Stande gebracht, woran die Weisen aller Völker seit einigen tausend Jahren mit sehr mittelmäßigem Erfolge gearbeitet haben; oder suchen diese Herren etwas andres als die Menschen glücklicher zu machen?«
»In der Tat«, sagte der Sultan lachend, »ich und der Iman mit seinen Brüdern würden bei einer solchen Verwandlung am meisten zu verlieren haben.«
»Die Gefahr scheint größer als sie ist«, sagte Nurmahal: »sechzig Millionen Menschen, wenn gleich ihr Gesetzgeber der Engel Jesrad selber wäre, würden nicht zehen Jahre ohne Sultan und ohne Iman aushalten können.«
»Das hoffen wir auch«, sagte der Sultan. »Indessen bleibt es bei dem, was ich dir versprochen habe, Danischmend. Hier, Iman, sehen Euer Ehrwürden den ernannten Nachfolger des Oberaufsehers über die Derwischen.«
»Die Wahl macht der Weisheit Ihrer Majestät Ehre«, versetzte der Iman mit einer Miene, welche ziemlich deutlich das Gegenteil sagte.
»Es kommt einem Sklaven nicht zu, einen andern Wunsch zu haben als den Willen seines Herrn«, sagte Danischmend: »aber wenn ich Ihre Majestät um irgend ein andres Dienstchen, wie schlecht es auch wäre, bitten dürfte« –
»Kein Wort mehr«, fiel ihm Schach-Gebal ein: »Danischmend ist der Mann, und gute Nacht!«