Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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4.

Den folgenden Abend setzte Danischmend auf Befehl des Sultans seine Erzählung also fort.

»Die Geschichte des Emirs und der schönen Sklavin blieb nicht lange geheim, und dieser Prinz hatte die Ehre, der erste Mann von seiner Art zu sein, den man jemals in diesen Gegenden gesehen hatte. Die Einwohner des Hauses, männliche und weibliche, konnten gar nicht von ihrem Erstaunen über ihn zurück kommen. Sie hatten gar keinen Begriff davon, wie man das sein könne was er war. ›Das arme Geschöpf!‹ riefen sie alle mit einem Ton des Mitleidens, welcher nicht sehr geschickt gewesen wäre sein Leid zu ergetzen. Wirklich war der unglückliche Mann in seinem ganzen Leben nie so übel mit sich selbst zufrieden gewesen als in dieser nämlichen Nacht. Die Vergleichung, die er zwischen sich selbst, einem Greise von zweiunddreißig, und diesem silberlockigen Jüngling von achtzig anstellte, – begleitet von den Vorstellungen, welche ihm die schöne Sklavin zurück gelassen hatte, war mehr als genugsam ihn zur Verzweiflung zu bringen. Er biß die Lippen zusammen, schlug sich vor den Kopf, und verfluchte in der Bitterkeit seines Herzens seinen Harem, seinen Leibarzt, seine Köche, und die jungen Toren, die ihn durch Beispiel und Grundsätze aufgemuntert hatten, sein Leben so eilfertig zu verschwenden. Erschöpft von ohnmächtiger Wut, und betäubt von einem Schwall quälender Gedanken, die ihm das Gefühl seines Daseins zur Marter machten, schlummert' er endlich ein; und da er nach einigen Stunden wieder erwachte, fehlte wenig, daß er nicht alles, was ihm seit seinem letzten Schlafe begegnet war, für einen bloßen Traum gehalten hätte. Wenigstens wandte er alle seine Kräfte an, die Erinnerung an den unangenehmsten Teil seiner Begegnisse zu unterdrücken; und in der Hoffnung, daß neue Eindrücke ihm dazu am beförderlichsten sein würden, öffnete er ein Fenster, aus welchem er die Gärten vor sich liegen sah, die sich von der Morgenseite um das Haus herum zogen. Eine reine, mit tausend erquickenden Düften erfrischte Luft zerstreute die düstern Wolken, die noch um sein Gehirn hingen; er fühlte sich gestärkt; dieses Gefühl fachte wieder einen Funken von Hoffnung in seinem Busen an, und mit der Hoffnung kehrt die Liebe zum Leben zurück. Indem er diese Gärten betrachtete, und, seinem verwöhnten Geschmack am Prächtigen und Erkünstelten zu Trotz, sich nicht erwehren konnte, sie bei aller ihrer nützlichen Einfalt und anscheinenden Wildheit schön zu finden, ward er den Alten gewahr, der, halb von Gesträuchen bedeckt, sich mit kleinen Gärtnerarbeiten beschäftigte, welche der Emir nie gewürdiget hatte, sich einen Begriff davon zu erwerben. Die Begierde, alles Befremdende und Wunderbare, das er in diesem Hause gesehen, sich erklären zu lassen, bewog ihn, in die Gärten hinab zu steigen, um sich mit dem Alten in ein Gespräch einzulassen. Nachdem er ihm für seine leutselige Aufnahme gedankt hatte, fing er an, ihm seine Verwunderung darüber zu bezeigen, daß ein Greis von seinen Jahren noch so gerade, so geschäftig, so lebhaft und so fähig sein könne, an den Vergnügungen des Lebens Anteil zu nehmen. ›Wenn deine silbernen Haare und dein eisgrauer Bart nicht von einem hohen Alter zeugten‹, setzte er hinzu, ›so müßte man dich für einen Mann von vierzig halten. Ich bitte dich, erkläre mir dieses Rätsel. Was für ein Geheimnis besitzest du, welches solche Wunder wirken kann?‹

›Ich kann dir mein Geheimnis mit drei Worten sagen‹, erwiderte der Alte lächelnd: ›Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder, wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergetzungen zu unterbrechen, und ein ähnlicher Wink erinnert uns von beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug, bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm nie gewähren werden. Lerne an mir, werter Fremdling, wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein ganzes Leben ist eine lange, selten unterbrochne Kette von angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten. Aber um durch die Natur glücklich zu sein, muß man die größte ihrer Wohltaten, die das Werkzeug aller übrigen ist, die Empfindung, unverdorben erhalten haben; und zum richtigen Empfinden ist richtig Denken eine unentbehrliche Bedingnis.‹

Der Alte sahe seinem Gast an der Miene an, daß er ihn nur mittelmäßig verstand. ›Ich werde dir vielleicht verständlicher sein‹, fuhr er fort, ›wenn ich dir die Geschichte unsrer kleinen Kolonie erzähle; denn in jeder andern Wohnung, wohin der Zufall dich in diesen Tälern hätte führen können, würdest du alles ungefähr eben so gefunden haben wie bei mir.‹ Der Emir bezeigte daß er ihm sehr gern zuhören wollte. Er hatte ein so ermüdetes Ansehen, daß ihm der mitleidige Alte den Vorschlag tat, sich auf einen Sofa in einem mit Zitronenbäumen umpflanzten Gartensaale niederzulassen; wiewohl ihm selbst ein Spaziergang unter den Bäumen angenehmer gewesen wäre.

Der Emir nahm dies Anerbieten willig an, und während eine schöne junge Sklavin sie mit dem besten Kaffe von Moka bediente, fing der muntre Greis seine Erzählung also an.

›Eine alte Überlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren von griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an dessen Umständen dir nichts gelegen sein kann, vor einigen Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten sich in diesen angenehmen Tälern an, welche die Natur dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten Beduinen sich um ihr Dasein wenig zu bekümmern schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Teil der Merkmale ihres Ursprungs aus; ihre Sprache verlor sich in die arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben wußten; und von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrige gegeben haben, blieb ihnen nur die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen aufzuführen wußte. Begierig, die Schönheit der Formen unter sich zu verewigen, machten sie sich zu einem Gesetze, nur die schönsten unter den Töchtern des benachbarten Yemen unter sich aufzunehmen; und dieser Gewohnheit (welche unser Gesetzgeber würdig gefunden hat, ihr die Heiligkeit einer unverletzlichen Pflicht zu geben) ist es ohne Zweifel beizumessen, daß du in allen unsern Tälern keine Person weder von unserm noch vom andern Geschlechte finden wirst, welche nicht jenseits der Gebirge für eine seltene Schönheit gelten sollte.

Zu den Zeiten meines Großvaters kam der vortreffliche Mann, dem wir unsre dermalige Verfassung zu danken haben, der zweite und eigentliche Stifter unsrer Nation, durch eine Kette von Zufällen in diese Gegend. Wir wissen nichts, weder von seiner Abkunft, noch von den Begebenheiten seines Lebens vor dem Zeitpunkte da er zu uns kam. Er schien damals ein Mann von funfzig Jahren zu sein; er war lang, von majestätischer Gestalt, und von so einnehmendem Bezeigen, daß er in kurzer Zeit alle Herzen gewann. Er hatte so viel Gold mit sich gebracht, daß es einem jeden in die Augen fallen mußte, er habe keine andre Ursache unter uns zu leben, als weil es ihm bei uns gefiel. Das Sanfte und Gefällige seiner Sitten, die ungekünstelte Weisheit seiner Gespräche, die Kenntnisse, die er von tausend nützlichen und angenehmen Dingen hatte, verbunden mit einer Beredsamkeit, die auf eine unwiderstehliche Art sich in die Seelen einstahl, gaben ihm nach und nach ein unbegrenzteres Ansehen unter uns, als ein Monarch über seine angebornen Untertanen zu haben pflegt. Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu sein; ›und Menschen‹, sagte er zu sich selbst, ›welche etliche Jahrhunderte sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten, verdienen es zu sein: ich will sie glücklich machen.‹ Er verbarg sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte, daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse. Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden reizen mußten, und kaum ward er gewahr daß er diesen Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele von unsern Jünglingen, nachdem sie die nötige Vorbereitung von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet. Mitten auf einer kleinen Anhöhe, die das schönste unsrer Täler beherrscht, stieg ein runder auf allen Seiten offner Tempel empor, in dessen Mitte nichts als eine Estrade, um drei Stufen höher als der Fußboden, und auf diesen drei Bilder von weißem Marmor zu sehen waren; Bilder, die man ohne Liebe und sanftes Entzücken nicht ansehen konnte. Ein Hain von Myrten zog sich in einiger Entfernung um den kleinen Tempel, und bedeckte die ganze Anhöhe. Dieses letzte Werk war allen unsern Leuten ein Rätsel, und Psammis (so nannte sich der wunderbare Fremdling) verzog so lange, ihnen die Auflösung davon zu geben, bis er merkte, daß alle die zärtliche Ehrerbietung, die sie für ihn empfanden, nicht länger vermögend war, ihre Ungeduld zurück zu halten.

Endlich führte er am Morgen eines schönen Tages, welcher seitdem der heiligste unsrer festlichen Tage ist, eine Anzahl der Unsrigen, die er als die geschicktesten zu seinem Vorhaben ausgewählt hatte, auf die Anhöhe, setzte sich mit ihnen unter die Myrten, und gab ihnen zu erkennen: Daß er in keiner andern Absicht zu ihnen gekommen sei, als sie und ihre Nachkommen glücklich zu machen; daß er keine andre Belohnung dafür erwarte, als das Vergnügen, seine Absicht erreicht zu haben; und daß er keine andre Bedingung von ihnen fordere, als ein feierliches Gelübde, die Gesetze unverbrüchlich zu halten, die er ihnen geben würde. ›Es würde zu weitläuftig sein‹, fuhr der Alte fort, ›dir zu erzählen, was er sagte um seine Zuhörer zu überzeugen, und was er tat um sein angefangenes Werk auszuführen, und ihm alle die Festigkeit zu geben, welche ein auf die Natur gegründeter Entwurf durch weise Vorsicht erhalten kann. Eine Probe seiner Sittenlehre, die den ersten Teil seiner Gesetzgebung ausmacht, wird hinlänglich sein, dir davon einigen Begriff zu geben.

Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen das Gelübde tun muß, der Natur gemäß zu leben, einige Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit goldnen Buchstaben geschrieben ist. Wir tragen sie immer bei uns, und sehen sie als ein Heiligtum und gleichsam als den Talisman an, an welchen unsre Glückseligkeit gebunden ist. Wer sich unterfinge andre Grundsätze einführen zu wollen, würde als ein Vergifter unsrer Sitten und als ein Zerstörer unsers Wohlstandes auf ewig aus unsern Grenzen verbannt werden. Höre, wenn es dir gefällt, was ich dir davon vorlesen will.

 

Das Wesen der Wesen‹, so spricht Psammis im Eingange seiner Gesetze, ›welches, unsichtbar unsern Augen und unbegreiflich unserm Verstande, uns sein Dasein nur durch Wohltaten zu empfinden gibt, bedarf unser nicht, und fodert keine andre Erkenntlichkeit von uns, als daß wir uns glücklich machen lassen.

Die Natur, die zu unsrer allgemeinen Mutter und Pflegerin von Ihm bestellt ist, flößet uns mit den ersten Empfindungen auch die Triebe ein, von deren Mäßigung und Übereinstimmung unsre Glückseligkeit abhängt. Ihre Stimme ist es, die durch den Mund ihres Psammis mit euch redet; seine Gesetze sind keine andern als die ihrigen.

Sie will, daß ihr eures Daseins froh werdet. Freude ist der letzte Wunsch aller empfindenden Wesen: sie ist dem Menschen, was Luft und Sonnenschein den Pflanzen ist. Durch süßes Lächeln kündigt sie die erste Entwicklung der Menschheit im Säugling an, und ihr Abschied ist der Vorbote der Auflösung unsers Wesens. Liebe und gegenseitiges Wohlwollen sind ihre reichsten und lautersten Quellen: Unschuld des Herzens und der Sitten das sanfte Ufer, in welchem sie dahin fließen.

Diese wohltätigen Ausflüsse der Gottheit sind es, was ihr unter den Bildern vorgestellt sehet, denen euer gemeinschaftlicher Tempel heilig ist. Betrachtet sie als Sinnbilder der Liebe, der Unschuld und der Freude. So oft der Frühling wieder kommt, so oft Ernte und Herbst angehen und geendigt sind, und an jedem andern festlichen Tage versammelt euch in dem Myrtenhaine; bestreuet den Tempel mit Rosen, und kränzet diese holden Bilder mit frischen Blumen; erneuert vor ihnen das unverletzliche Gelübde, der Natur getreu zu bleiben; umarmet einander unter diesen Gelübden, und die Jugend beschließe das Fest, unter den frohen Augen der Alten, mit Tänzen und Gesang. Die junge Schäferin, wenn ihr Herz aus dem langen Traume der Kindheit zu erwachen beginnt, schleiche sich einsam in den Myrtenhain, und opfre der Liebe die ersten Seufzer, die ihren sanften Busen heben; die junge Mutter mit dem lächelnden Säugling im Arme wandle oft hierher, ihn zu den Füßen der holden Göttinnen in süßen Schlummer zu singen.

Höret mich, ihr Kinder der Natur! – denn diesen und keinen andern Namen soll euer Volk künftig führen.

Die Natur hat alle eure Sinne, hat jedes Fäserchen des wundervollen Gewebes eures Wesens, hat euer Gehirn und euer Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht. Konnte sie euch vernehmlicher sagen, wozu sie euch geschaffen hat?

Wär es möglich gewesen, euch des Vergnügens fähig zu machen, ohne daß ihr auch des Schmerzes fähig sein mußtet, so – würde es geschehen sein. Aber so viel möglich war hat sie dem Schmerz den Zugang zu euch verschlossen. Solang ihr ihren Gesetzen folget, wird er eure Wonne selten unterbrechen; noch mehr, er wird euer Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden; er wird in euerm Leben sein was der Schatten in einer schönen sonnigen Landschaft, was die Dissonanz in einer Symphonie, was das Salz an euern Speisen.

Alles Gute löset sich in Vergnügen auf, alles Böse in Schmerz. Aber der höchste Schmerz ist das Gefühl sich selbst unglücklich gemacht zu haben‹, – (hier holte der Emir einen tiefen Seufzer) – ›und die höchste Lust das heitre Zurücksehen in ein wohl gebrauchtes, von keiner Reu beflecktes Leben.

Niemals möge unter euch, ihr Kinder der Natur, das Ungeheuer geboren werden, das eine Freude darin findet, andre leiden zu sehen, oder unfähig ist sich ihrer Freude zu erfreuen! Nein, ein so unnatürliches Mißgeschöpf kann nicht zum Vorschein kommen, wo Unschuld und Liebe sich vereinigen, den Geist der Wonne über alles was atmet auszugießen. Freuet euch, meine Kinder, eures Daseins, eurer Menschheit; genießet, so viel möglich, jeden Augenblick eures Lebens: aber vergesset nie, daß ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, durch Übermaß die reineste Wollust zu einem Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget. Mäßigung und freiwillige Enthaltung ist das sicherste Verwahrungsmittel gegen Überdruß und Erschlaffung. Mäßigung ist Weisheit, und nur dem Weisen ist es gegönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenkt, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versagt sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, nicht weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor irgend einem gehässigen Dämon, der darüber zürnte wenn sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genusse des Vergnügens aufzusparen.Diese Periode sagt beinahe mit den nämlichen Worten, was Xenophon seinen Cyrus im 1. Buche der Cyropädie (p. m. 52) sagen läßt. Vielleicht hat Psammis diese Stelle wirklich im Sinne gehabt. Wenigstens ist dies nicht die einzige, aus welcher sich erweisen ließe, daß seine Moral echte sokratische Moral ist.

Höret mich, ihr Kinder der Natur! Höret ihr unveränderliches Gesetz! Ohne Arbeit ist keine Gesundheit der Seele noch des Leibes, ohne diese keine Glückseligkeit möglich. Die Natur will, daß ihr die Mittel zur Erhaltung und Versüßung eures Daseins als Früchte einer mäßigen Arbeit aus ihrem Schoße ziehen sollet. Nichts als eine nach dem Grade eurer Kräfte abgemessene Arbeit wird euch die notwendige Bedingung alles Vergnügens, die Gesundheit, erhalten.

Ein kranker oder kränkelnder Mensch ist in jeder Betrachtung ein unglückliches Geschöpf. Alle Kräfte seines Wesens leiden dadurch; ihr natürliches Verhältnis und Gleichgewicht wird gestört, ihre Lebhaftigkeit geschwächt, ihre Richtung verändert. Seine Sinne stellen ihm verfälschte Abdrücke der Gegenstände dar; das Licht seines Geistes wird trübe; und sein Urteil von dem Werte der Dinge verhält sich zum Urteil eines Gesunden, wie Sonnenschein zum düstern Schein der sterbenden Lampe in einer Totengruft.

Von dem Augenblick an, – und o! möchte dann, wann er kommt, die Sonne auf ewig für euch verlöschen! – von dem Augenblick an, da Unmäßigkeit oder erkünstelte Wollüste die Samen schleichender und schmerzvoller Krankheiten in euern Adern verbreitet haben werden, verlieren die Gesetze des Psammis ihre Kraft euch glücklich zu machen. Dann werfet sie in die Flammen, ihr Unglückseligen! denn die Göttinnen der Freude werden sich in Furien für euch verwandeln. Dann kehret eilends in eine Welt zurück, wo ihr ungestraft euer Dasein verwünschen könnet, und wenigstens den armseligen Trost genießet, überall Mitgenossen euers Elends zu sehen.

Suchet niemals, meine Kinder, einen höhern Grad von Kenntnis als ich euch mitgeteilt habe. Ihr wißt genug, wenn ihr gelernt habt, glücklich zu sein.

Gewöhnet euer Auge an die Schönheit der Natur; und aus ihren mannigfaltig schönen Formen, ihren reichen Zusammensetzungen, ihrer reizenden Farbengebung füllet eure Phantasie mit Ideen des Schönen an. Bemühet euch, allen Werken eurer Hände und eures Geistes den Stempel der Natur, Einfalt und ungezwungene Zierlichkeit, einzudrücken. Alles was euch in euern Wohnungen umgibt, stelle euch ihre Schönheiten vor, und erinnere euch daß ihr ihre Kinder seid!

Alle andere Werke der Natur scheinen nur spielende Versuche und Vorübungen, wodurch sie sich zur Bildung ihres Meisterstücks, des Menschen, vorbereitet. In ihm allein scheint sie alles, was sie diesseits des Himmels vermag, vereiniget, an ihm allein mit Wärme und verliebt in ihr eigenes Werk gearbeitet zu haben. Aber sie hat es in unserer Gewalt gelassen, es zu vollenden, oder zu verderben. Warum tat sie das? Ich weiß nichts davon; aber nach dem was Sie getan hat, müssen wir das bestimmen, was Wir zu tun haben. Jede harmonische Bewegung unsers Körpers, jede sanfte Empfindung der Freude, der Liebe, der zärtlichen Sympathie verschönert uns; jede allzu heftige oder unordentliche Bewegung, jede ungestüme Leidenschaft, jede neidische und übeltätige Gesinnung verzerrt unsre Gesichtszüge, vergiftet unsern Blick, würdiget die schöne menschliche Gestalt zur sichtbaren Ähnlichkeit mit irgend einer Art von Vieh herab. So lange Güte des Herzens und Fröhlichkeit die Seele eurer Bewegungen bleiben, werdet ihr die schönsten unter den Menschenkindern sein.

Das Ohr ist, nach dem Auge, der vollkommenste unsrer Sinne. Gewöhnet es an kunstlose, aber seelenvolle Melodien, aus welchen schöne Gefühle atmen, die das Herz in sanfte Bebungen setzen, oder die einschlummernde Seele in süße Träume wiegen. Freude, Liebe, und Unschuld stimmen den Menschen in Harmonie mit sich selbst, mit allen guten Menschen, mit der ganzen Natur. So lang euch diese beseelen, wird jede eurer Bewegungen, der gewöhnliche Ton eurer Stimme, eure Sprache selbst wird Musik sein.

Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen mitgeteilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergetzen liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzt, euern Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein, zu höherer Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens, die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust, welches angenehme Gefühl sollt ich euch versagen? Keines, gewiß keines das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich den schwülstigen Afterweisen, welche den Menschen zerstören wollen, um – eitles lächerliches Bestreben! – einen Gott aus seinen Trümmern hervor zu ziehen! Ich empfehle euch die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht gegen die Schwachheit der Natur erlaub ich, – nein, aus Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl ich euch, eure Sinne zu ergetzen. Ich habe den betrüglichen Unterschied zwischen nützlich und angenehm aufgehoben: ihr wisset, daß nichts den Namen eines Vergnügens verdient, was mit dem Schmerz eines andern, oder mit später Reue bezahlt wird; und daß das Nützliche nur nützlich ist, weil es uns vor Unlust bewahrt, oder eine Quelle von Vergnügen ist. Ich habe den törichten Gegensatz der verschiedenen Arten der Lust vernichtet, und eine ewige Eintracht zwischen ihnen hergestellt, indem ich euch den natürlichen Anteil gelehrt habe, den das Herz an jeder sinnlichen Lust, und die Sinne an jedem Vergnügen des Herzens nehmen. Ich habe eure Freuden vermehrt, verfeinert, veredelt – Was kann ich noch mehr tun?

Noch eines, und das wichtigste von allem. Lernet, meine Kinder, die leichte Kunst, eure Glückseligkeit ins Unendliche zu vermehren; das einzige Geheimnis, sie so nah als möglich der Wonne der Götter, und, wenn es erlaubt wäre so kühn zu denken, der Wonne des Urhebers der Natur selbst zu nähern! –

Erstrecket euer Wohlwollen auf die ganze Natur; liebet alles, was ihr allgemeinstes Geschenk, das Dasein, mit euch teilet!

Liebet einen jeden, in welchem ihr die ehrwürdigen Kennzeichen der Menschheit erblicket, sollten es auch nur ihre Ruinen sein.

Freuet euch mit jedem der sich freuet; wischet die Tränen der Reue von den Wangen der bestraften Torheit, und küsset aus den Augen der Unschuld die Tränen des Mitleidens mit sich selbst.

Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet in jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur und in jedem guten Menschen ein andres Selbst zu lieben.

Schmecket so oft ihr könnt das reine göttliche Vergnügen andre glücklicher zu machen; – und du, Unglückseliger, dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen der Kinder der Natur!‹«

Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisen Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne Nurmahal für ratsam hielt, die Fortsetzung der Geschichte des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.


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