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Hedy konnte sich nicht erklären, warum er fernblieb. Eine unbeherrschbare Aufregung bemächtigte sich ihrer. Sie lief in seine Wohnung, wartete dort auf ihn. Aber man sagte ihr nach drei Stunden Wartens am Abend, er sei verreist.
Ganz still, ganz sanft kam sie heim. Sie wollte nichts mehr vom Leben; sie begriff, daß man sterben könne, daß es etwas ganz Natürliches sei, tot zu sein, ruhig dazuliegen wie in einem großen Bett, in einem vollständig dunklen, unbetretbaren Zimmer, über das von ferne her das feine Aroma kostbarer Pelze hinschwebte.
Sie wollte sterben; sie hatte in der Zeitung von einer französischen Tänzerin gelesen, die sich mit Äther vergiftet hatte. Dies erschien ihr rührend. Es duftete feiner als Lysol. Sie ging in eine Drogerie, verlangte Äther. Sie sagte, sie brauche es zum Entfernen von Flecken aus einem Seidenkleid. Der Drogist, im guten Glauben, schüttete verdünnten Seifengeist in das Fläschchen.
Sie kam ruhiger heim. Nun wollte sie sich mit allen aussöhnen. Sie schrieb an ihr Bureau, an Erwin, schrieb an den Pelzhändler. Sie gab die Briefe zur Post. Ihrer Mutter schrieb sie nicht. Sie fühlte, sie hatte schon lange Zeit nicht mehr in derselben Welt wie sie gelebt.
Aber die braune Flüssigkeit war kein Gift. Hedy erwachte. Ihr war zum Sterben elend. Die Mutter saß an ihrem Bett, weinte, lief im Zimmer umher, kochte ihr Tee, Bouillon, Chaudeau.
Sie liebte ihre Tochter, aber sie verstand, daß man vorläufig nicht mit ihr sprechen konnte. Zuviel war vorgegangen, ohne daß sie es gemerkt hatte, und sie ahnte, daß es bei Hedy, ebenso wie einst bei ihrem Mann, Geheimnisse gab, die man ihr verschwieg. Sie durfte nicht trösten, weil sie nichts wissen durfte. Nur durch Speisen, durch besonders sorgfältig gekochte Gerichte konnte sie Hedy zeigen, daß sie da war, daß sie innigst an ihre Tochter dachte. – Am Abend des zweiten Tages ging die Mutter zum erstenmal wieder ihrem Berufe nach. Hedy war außer Gefahr. Kaum war die Mutter fortgegangen, als Erwin an die Tür klopfte. Hedy erschrak, zitterte, jubelte. Sie erwartete Jegor. Sie hatte ihn jede Stunde dieser zwei Tage erwartet, nur er konnte so an die Tür pochen. Erwin trat ein. Sein blasses Gesicht war vom Kummer wie aufgeschwemmt, alles an ihm zitterte.
Hedy war zu Boden geschmettert. Sie konnte nicht glauben, daß Jegor fernblieb, daß Erwin vor ihr stand. Plötzlich drangen Tränen in ihre Kehle; sie schluchzte. Erwin setzte sich an ihr Bett. Er wollte von dem Briefe, vom Selbstmord sprechen, aber er schämte sich und konnte die Worte nicht finden. Gedankenlos nahm er ihre Hand, betrachtete den Ring mit dem Opal, versuchte ihn abzuziehen, drehte ihn hin und her. Ganz zart nahm Hedy ihre Hand fort.
Sie begann zu erzählen. Von wem konnte sie erzählen, wenn nicht von Jegor? Aber Erwin konnte es nicht glauben.
»Hast du ihn lieb?« fragte er.
»Ich ... ich habe ihn sehr gern«, sagte sie.
»Deine Lippen sind ganz weiß, du bist doch nicht krank, Erwin?« fragte sie.
Er lächelte. Hedy hatte früher nie darauf achten mögen, ob er blaß war oder nicht. Plötzlich lächelte auch sie; es erschien ihr so sonderbar, daß sie beide, Erwin und sie, nebeneinander saßen und einander bemitleideten.
Er sah Hedy an. Es war nicht mehr die rebellische, ewig unersättliche, grauenhaft boshafte Hedy der letzten Zeit; aber es war auch nicht die Hedy des Jahres 1912, das holde, kleine, launenhafte Glück, das keinen Namen hatte. Ein Mensch blickte ihn an, einer, der menschlich gelebt hatte. Er verstand ihren Kummer, und ihm war, als habe er sie nie tiefer geliebt als jetzt.
»Ich müßte von Franziska erzählen«, dachte er. Aber er schwieg. Die Worte machten ihm Mühe. Er fühlte sich so sonderbar müde, und plötzlich merkte er, daß das Zimmer schwankte wie die Kabine eines Schiffes im Sturm.
Es klopfte. Der Postbote brachte einen Rohrpostbrief. Er war von Jegor. Sie nahm ihn in die Hand. Sie freute sich nicht. Hatte sie sich doch schon vorhin unendlich gefreut, als es an die Tür gepocht hatte.
Jegor sagte ihr alles. Er konnte die Krankheit nicht nennen, aber soviel war sicher, niemals mehr würde er die kleine Olenka küssen können.
Es war das erstemal, daß er den Namen seiner Tochter vor Hedy nannte. Er bat sie, nicht mehr zu ihm zu kommen. Er wolle ihr und sich selbst den Abschied leichter machen und wohne deshalb in einem Hotel. Er hoffe, sie habe doch nichts angestellt. Er würde sich nie verzeihen können, wenn sie durch ihn ins Unglück käme. Sie solle Geld an seiner Bank beheben, reisen, ihn vergessen, später noch sehr glücklich werden. Er sagte ihr Lebewohl für immer, aber nannte doch den Namen des Hotels, in dem er jetzt wohnte.
Hedy zögerte keinen Augenblick. Sie kleidete sich an.
»Komm mit, Erwin, ich war zwei Tage nicht an der Luft. Ich will ihm nur ein Wort sagen, damit er weiß. Du wirst auf mich warten; es dauert ja nur einen Augenblick. Sei gut! Frage mich nicht.«
Er folgte ihr. Sie kamen vor dem Hotel an. Er wartete vor dem Portal. Hedy hatte ihm fest versprochen, spätestens in einer Viertelstunde zurück zu sein. »Wir wollen dann ins Theater gehen«, dachte Erwin. »Hedy hält ja Wort. Sie lügt nie. Aber ich habe kein Geld. Wo habe ich nur mein Geld? Ja, bei Franziska in dem roten Kästchen.« Wie klang doch nur das Wort »Franziska«! Wie war das Wort von Fieberwellen bewegt! Er sah die Temperaturkurve, mit roter Tinte auf weißen Bogen geschrieben, empor sich heben wie eine Welle im Meer. Ein heißer Wind wehte. Die Leute stießen ihn an. Ein kleines Mädchen bettelte. Er merkte nichts und wußte, daß er nichts merkte.
Hüten Sie sich nur vor Aufregungen! Das war die Stimme des braunen Arztes in Buenos Aires. Die Keime liegen Ihnen noch im Blut. Sie lauern links in der Ecke, haben sich in der Milz versteckt. Nein, er regte sich ja auch nicht auf. Er sah auf die Uhr. Es war eine Stunde vergangen. Er hatte es gar nicht bemerkt. Wo war Hedy? Und die Anfälle kamen erst alle vierundzwanzig Stunden. Daher der Name. Aber wie war nur der Name der Krankheit? Der hing doch irgendwie mit dem Gymnasium zusammen. Bis Quarta hatte er das Gymnasium besucht, jetzt aber war er Privatist und hatte den Namen der Krankheit vergessen. Das war ein Glück. Denn wenn die Krankheit keinen Namen hatte, konnte sie ihm auch nichts tun. Er fühlte sich ganz sicher, als plötzlich jemand an seinen Knien rüttelte. Er drehte sich um, er drehte sich im Kreise, er schloß die Augen; als er sie auftat, lag er in der Portierloge des Hotels auf einem abgeschabten roten Plüschsofa.
An den Wänden des Zimmers waren Schlüssel aufgehängt, die blinkten. Die Uhr zeigte drei Viertel elf.
Eine halbe Stunde später war er, immer im Fieberdelirium, mit einem Rest klarer Besinnung, daheim bei Franziska. Auf der Treppe dachte er: »Ich darf doch nicht das Geld vergessen. Für das Theater ist es schon zu spät. Aber wir können in eine Bar gehen. Ich war noch nie in einer Bar mit ihr.« – Der Kopf schien ihm ganz klar zu sein. Er lachte, flüsterte, wusch sich die Hände. Aber das Fieber wich nicht. Im Fieber riß er unter Franzis Kopfpolster die Geldschatulle hervor. Geld! Wenn ich nur Geld habe, dann kann ich ihr den Ring abkaufen, den sie von dem Polen hat. Nur Ehrlichkeit! Die Hälfte mir, die Hälfte ihr. Hedys Ring ist ja so klein, sicherlich ganz billig, flach, in der Mitte durchgeschnitten. Sicherlich ist er ebensoviel wert wie das mitten durchgeschnittene Geld. Weshalb schrie Franziska jetzt? Es geschah ihr ja nicht Unrecht. Keinem geschah Unrecht. Jeder bekam sein Teil ... sein Teil ... Er zitterte in Wut, stürzte über sie hin, hielt ihr den Mund zu. Er starrte sie an, er wußte nicht, wo er war. Er fiel auf das Bett und lag bewußtlos fünf Stunden von Mitternacht bis Sonnenaufgang.
Er glaubte am nächsten Morgen, er sei fieberfrei. Aber seine Besinnung war nicht klar.
Er kleidete sich sorgfältig an, wollte nun endlich zu Hedy, zuvor aber noch in die Fabrik, in seine Werkstatt. Er sah den blechbeschlagenen Tisch vor sich, in einer Ecke mit weißem Papier bedeckt. Aber es war nicht Papier, sondern der Ärmel von Hedys Spitzenbluse. Hedy hatte recht. Es gab tausend Menschen in dieser Stadt, tausend andere Mädchen, von überall quollen sie hervor, sie sprangen lachend vom Verdeck der Autobusse herunter, drängten sich gegen seine Brust, stießen an seine Knie.
Er wandte sich um. Plötzlich wünschte er, er hätte diese Stadt nie gesehen. Aber waren das nicht die weißen Häuser von Buenos Aires? Am Horizont schwebten zwei große, lichtgelbe Segel in großer Schönheit und Ruhe. Sie kamen näher, blähten sich auf, wölbten sich über den ganzen Himmel. Das Rascheln der Segelleinwand brauste in seinen Ohren.
Er lag da auf dem steinernen Pflaster, die Hände unter dem Kopf. Von allen Seiten kamen Menschen heran. »Franziska wird staunen, wenn sie mich hier liegen sieht«, dachte er. »Warum hat sie mich auch hierher mitgenommen? Und warum stehen keine Namen auf den Segeln? Warum bloß Ziffern? Warum ist es so kalt? 39? Wo ist die Sonne?« Er zitterte, atmete tief, er verlor das Bewußtsein.
Man schaffte ihn ins Virchowkrankenhaus gegen 9 Uhr vormittags. Um 1/2 10 reiste Franziska vom Anhalter Bahnhof nach Prag zurück. Gegen Mittag verließen Hedy und Jegor das Hotel und fuhren nach Wannsee, wo sie den herrlichen Sommertag am Wasser verbrachten.