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Nun tat sich die düstere Halle auf – dunkle Nachtluft wehte, ein Lastzug stand da, nein, er bewegte sich, langsam rollend blieb ein Wagen nach dem anderen zurück. Zwei Wagen waren hochgetürmt, mit grober Segelleinwand bespannt, und an dem grauen Stoff, der in der Feuchte des Abends schimmerte, brach sich das Licht. Nun donnerte der Zug über eine Brücke. Unter grauem Eisengestänge dunkelte der Fluß, flache Eisstücke schwammen mit, leuchteten in mattem Weiß wie Seerosen. Hurtig lief eine goldene Lichterreihe die Uferböschung entlang, krümmte sich, verschwand im Dunkel – in der Ferne blieb die Stadt, blieb ein rötlicher Schimmer am Horizont.
Die Ampel an der Decke des Abteils leuchtete ihr leeres Licht. Franziska zog den grünseidenen Schirm über das sanft erwärmte Glas. Die Landschaft schimmerte mit milder Kraft in die grüne Dämmerung hinein. In frühlingshafter Unruhe stieg der Mond von den leeren Schollenfeldern empor, Landstraßen, von Pappeln umsäumt, schritten ernst neben dem Bahndamm dahin, dicke Schlagbäume mit honigfarbenen Laternen hatten ihre schützenden Hände über die Wege gelegt. Leiterwagen mit Pferdegespannen hielten ruhig vor ihnen an; die Pferde hatten ihre großen Köpfe mit den feuchten Mähnen auf die Brust gesenkt und hoben sie kaum vor dem heranbrausenden Zug empor.
Alles hatte Seele, alles atmete lebendig und müde, müde war jetzt alle Welt, müde von Schmerz, müde von Glück, müde von weiten Wegen, müde von der Arbeit und der Alltäglichkeit. Unterirdisch gedämpft klang der Rhythmus der Lokomotive, sagte »Ruhe, Ruhe«, immer wieder; sprach leise in die aufsteigende Dämmerung und verstummte dann im beginnenden Schlaf. Plötzlich aber klang in die weiche Nacht ein pochender Takt. »Es ist die Constanza«, dachte Franziska in freudigem Erschrecken, »die Constanza beginnt noch einmal die Schubert-Phantasie.« Sie sah auf und sah das Abteil voller Licht. Hart neben ihr warf sich dröhnend ein Zug vorüber. Wie Schmetterlingsflügel flatterten die hellen Fenster. Plötzlich erfaßte die Nacht den fremden Zug, nahm ihn wieder auf, ganz leise rollte das Dröhnen in die Ferne. Franziskas Herz ging seinen Gang wie immer. Nicht wie immer. Es zitterte immer noch in dem glücklichen Erschrecken, mit dem die Wanderer-Phantasie der Constanza sie aus dem Schlaf geweckt hatte. Und doch war es nicht die Constanza, über die sie sich freute. Wie ein neugeborenes Kind, dem nur der allererste Atemzug schwer wird, lebte ihr Glück für sich, atmete auf und blieb.
Sie wußte, am nächsten Tage würde diese leuchtend stille Stunde weit vergangen sein. Ihre kleine Faust, ihre kleine, harte, unerbittlich harte Vernunft würde diese Stunde nicht mehr erfassen. Grundlos war ihr Glück, unbegreiflich die Seligkeit der Kreatur, jubelnd trug sie dieser Augenblick empor.
Als Mensch sehnte sie sich jetzt nach Menschen. Sie vergaß den Abend, die Begegnung mit der Constanza, ihre Zukunft, vergaß ihr immer hungriges, ewig vorwärts hastendes Herz; zum ersten Male fühlte sie es süß, einfach zu leben, unter Menschen, lebendigen, sprechenden, glücklichen, leidenden Menschen Brust an Brust zu leben.
Fühlte es süß, zu leben, zu atmen, ganz still zu bleiben, an etwas hingegeben zu sein, an fremder Hand fremden Wegen zu folgen.
Über eine letzte Höhe stieg der Zug. Da lag die kleine Stadt im Gebirge. Dunkel, tiefgrau schmiegte sie sich an den bewaldeten Hügel. Alle Menschen schliefen, sie allein trug ihr schwärmerisch beglücktes Herz der Heimat näher, ein überschwengliches Gefühl des Daseins war in ihr, Erinnerung, Hoffnung, trüber Nachmittag im Regen, Minnas wie rauher Stoff so warme Güte, der enttäuschte Abend ... ihre eigenen Hände, die nach all dem Spiel, die nach der grenzenlosen Herrlichkeit Beethovens müde im Licht der vier Klavierkerzen dalagen, und dann: der letzte Augenblick, das Jetzt, die Erinnerung an Erwins dunkles, schönes, überschattetes Gesicht in der Kirche, von goldenen Altarlichtern warm bestrahlt, von lebendigem Schmerz lebendig erschüttert, umgrenzt von Menschen, von einer endlosen Reihe lebender Menschen, dieses Jetzt, die letzte selige Sekunde, so unerwartet, so ganz ohne Grund und Ziel – wie der Abglanz von lichten Schmetterlingsflügeln überschwebte es ihre Seele und beglückte sie.
Rücksichtslos bis zur Härte gegen sich selbst, hatte Franziska bis jetzt kein menschliches Gefühl gekannt. Ein eiserner Wille hatte sie vorwärts gestoßen, kannte nur Gelingen, Mißlingen, Kraft oder Müßiggang. Nun verlor sie sich an eine Hoffnung, sie, die Männliche, gab sich einem Gefühl hin.
An diesem Tage, dem ersten, den sie mit Willen unter Menschen verbrachte, begriff sie die Vielfältigkeit, den Reichtum, den Rausch des Lebens. Mit der ganzen erobernden Kraft eines unverbrauchten Willens verachtete sie das Erreichte, sah in ihrem schwer erkämpften Erfolg, in Constanzas Lob, nur den Beginn eines neuen Lebens, eines schöneren, echteren, eines guten.
Nun erst konnte sie Enttäuschungen erleben: denn nun erst sehnte sie sich. Sie ersehnte eine unabsehbare Welt, so reich an Sternen, wie es die Wirklichkeit nicht war. Aber es war ja schön, Unwirkliches zu lieben, an Unerreichbares glühend zu glauben und sich von der Warte ihrer neunzehn Jahre ein weites Reich zu erobern.
Das war ein Augenblick, der letzte Augenblick ihrer zweiten Jugend.
Der letzte Tag hatte sie kaum aus seinen strengen Händen entlassen, und jetzt, in Henriettes altem Wetterkragen, die am Bahnhof frierend wartete, in Henriettes müden Augen, in der von Sorgen bestaubten Stirn der alternden Lehrerin, erwartete sie daheim die Wirklichkeit.