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3

Hedy war damals in einem Bureau in der Nähe des Nollendorfplatzes als Stenotypistin angestellt. Sie kam täglich zu gleicher Stunde in ihr Bureau, verließ es täglich um dieselbe Stunde. Einer unter den abertausend Menschen, die sich in der Art ihrer Haltung, in ihrem Geschmack, in ihrer bescheiden-gierigen Sucht nach Vergnügungen, in ihrer Kleidung, in ihren graziösen, aber im Grunde unbeseelten Zügen ganz ähnlich sind. So fühlte es Erwin, als er am Mittag des nächsten Tages auf Hedy wartete. War es nicht gleich, ob eine Hedy oder eins von den tausend anderen Mädchen im blauen Kleid, mit schwarzem Hütchen auf dem kleinen, dunkeläugigen Kopf?

Breite Straßen, in deren Asphalt sich matte Bogenlampen spiegelten, stießen hier zusammen, und wer von der Ferne näher kam, ahnte eine mächtige Kuppel, einen aus Glas und Eisen hoch aufgebauten Dom, schimmernd in dem weißen Licht wie der Schirm einer ungeheuren Lampe. In der Nähe aber war es nur eine Art gigantischer Rotunde, die auf dünnen Eisenträgern stand, ein matt erleuchteter Korridor, von dunklem Wellblech gedeckt, das wie vom Regen zerfressen schien, und durch den die Hochbahnzüge dröhnten, gelb und rot lackiert, glänzend, seelenlos wie neugekauftes Spielzeug für Kinder.

Das einzig Festliche waren die Blumenhändler, die auf weidengeflochtenen Körben ganze Blumenbeete, Veilchen, Maiglöckchen und die ersten knospenhaft schüchternen Rosen umhertrugen. Der Duft war mild, überraschend und heimatlich zugleich.

Vor der Hochbahnhalle standen zwei Paläste: dorische wuchtige Säulen, wie auf Jahrtausende hin aus uralter griechischer Erde gegraben, bewachten ein zyklopisches Portal. Aber in kleinen elektrischen Lämpchen schlängelte sich der Name einer banalen Operette über das schwere Gesims; man glaubte Gassenhauer zu hören, auf einem Grammophon gespielt, Vergnügen und Lustbarkeit, die dem Vorübergehenden aufgedrängt wurden; Erwin, der nach der langen Seereise, nach einem Monat Einsamkeit auf hoher See, sich nach Farben, nach Musik und nach Hedy sehnte, erschien dies alles lockend und abstoßend zugleich. – An dem anderen Palast blinkten grelle, grünspan- und zinnoberfarbene Glasmalereien, sie schienen aus den keuschen Fenstern einer gotischen Kirche ausgebrochen zu sein, um hier Plakate von zugkräftigen Kinostücken zu umrahmen. Es war noch kühl. Schlanke Damen trugen Hermelinpelze mit Veilchensträußchen und breite Sealskinmuffs, die wie dunkles Wasser glänzten und aus denen die blanken, umherschweifenden Augen eines zottelhaarigen Hündchens hervorsahen. Alles ging, alles bewegte sich, die Hochbahnzüge rollten über die Eisengerüste dahin, die elektrische Straßenbahn sauste, die eiserne Rute, die den Strom zuführte, glitt auf Sekunden von dem Leitungsdraht ab, und ein wilder blauer Funke warf sich brutal zischend, erschreckend wie ein Blitz über den Platz. Die Lichtreklame an den dorischen Säulen wanderte grell und zudringlich über den schweren grauen Stein, erlosch, begann wieder zu marschieren, um wie ein Polizist Wache zu halten oder wie ein Freudenmädchen immer wieder mit lockendem Lächeln denselben Weg zu gehen. Von überall her sah man Leute herankommen. Die Räder der Automobile schleuderten auf dem ewig feuchten Pflaster, die Zweiräder glitzerten unsicher vorbei, Männer mit großen Bündeln neugedruckter Zeitungsblätter drängten sich durch; aber es blieb doch alles verhallend, öde, nur dem Verkehr angepaßt. Das einzige, das wirkliche, das lebendige waren die Blumen, die vielen Veilchensträuße, die in schwarze Efeublätter eingehüllt waren, die weißen Maiglöckchen, die unaufhörlich zitterten, und die Rosen, die an eisernen Drahtspiralen schwankten wie an einem Aste und deren Duft wie der warme Atem eines Menschen berührte, den man liebt.

Seelenlos war ihm die Stadt, seelenlos der Platz, leer und ohne Erinnerung dies Haus, in dem niemand wohnte, niemand geboren wurde und starb, durch das nur die Schritte unzähliger Menschen gedankenlos in Eile hindurchgingen. Er hatte keine Arbeit. Unerträglich war diese Luft, unerträglich der grelle Glanz der Lichter, unerträglich die ganze Stadt ohne Arbeit. Und er sah selbst den Erwin der früheren Jahre abends eilig die Stufen zur Hochbahnstation Warschauer Brücke emporklettern, immer noch das Gefühl der langen Arbeit des langen Tages in den müden Gliedern, sah sich still in dem großen, weißen Saal sitzen, in dem der Dozent seine Vorlesungen abhielt, sah sich glücklich durch stille Straßen heimkehren, sein kleines Notizbuch in der Hand; er beneidete sich selbst, er, der Mensch von 1911 beneidete den Menschen von 1910, wollte an seiner Stelle sein, an seiner Stelle Hedy erwarten; und er fühlte, Hedy war das einzige, das ihn, den müden, vom Leben halb erdrückten, mit jenem Erwin verband, der einst das Leben nach seiner Art erobert und sich seine Wünsche erzwungen hatte.

Da sah er Hedys lichtes Kleid von weitem entgegenkommen. Sie lächelte, und in ihrem Gang war Übermut. Aber sie erschrak, als sie ihn vor sich sah, nur zögernd gab sie ihm die Hand; ihre Stimme war wohl sanft, aber doch so, als wenn sie zu einem kranken Kind spräche und so fern wie noch nie.

»Schade«, sagte sie, »wenn ich gewußt hätte, daß du heute wiederkommst ...«

»Du hast heute keine Zeit?«

»Ich kann doch nicht jeden Abend so spät heimkommen. Verstehst du das nicht? Wir haben Besuch, meine zwei kleinen Neffen kommen heute zu mir, sieh nur, ich habe ihnen Bonbons mitgebracht.«

»Was hätte dir das vor einem Jahr bedeutet?«

»Vor einem Jahr!« Und sie warf den Kopf zurück und sah ihn lange an, als müßte sie mühsam die Ähnlichkeit mit ihrem Geliebten von einst herausfinden.

»Du lügst«, sagte er, »du hast etwas anderes vor.«

»Ich kann tun, was ich will. Oder willst du mir's verbieten? Du darfst mich heimbegleiten, damit ... nein, ich will doch nicht, daß du mich quälst. Du spionierst mir nach ... Ich will nicht, hörst du? Laß mich endlich in Frieden. Nein, bitte! Du lauerst mir Tag für Tag auf, quälst mich mit deinen ewigen Fragen. Einmal muß es doch zu Ende sein.«

»Hedy!«

»Nein, sieh mich nicht so an.«

»Hedy!«

»Ich habe Angst vor dir. Verlange es nicht. Ich kann nicht mehr deine Geliebte sein. Ich liebe dich nicht mehr genug.«

»Bleibe doch nur diesen Abend noch bei mir. Morgen gehe ich wieder an die Arbeit. Alles ist morgen wieder gut. Nur heute nicht, heute kann ich dieses einsame Zimmer nicht ertragen.«

»Ach, es gibt soviel Mädchen, die dir gerne Gesellschaft leisten. Soll ich dir eines finden?«

»Hedy!«

»Ja, ich gebe dich frei.«

»Hedy, ich verstehe dich nicht.«

»Was ist da viel zu verstehen?«

»Gut, Hedy. Aber diesen Abend können wir noch beisammen sein. Bitte, sei heute abend mein Gast. Ich habe Geld genug. Wir gehen ins Theater, ins Kino – sag' nur, was dir mehr Vergnügen macht.«

»Ins Theater?« fragte sie, »oder ins Kino? Es gibt heute ein neues Programm.«

»Ja, Hedy«, sagte er und nahm ihren Arm. »Ich wußte ja doch, du läßt mich nicht allein.«

»Nein«, sagte sie und machte sich los, »es ist besser, wir sagen uns gleich adieu.«

»Warum?«

»Nun quälst du mich schon wieder mit deinen Fragen.« Sie stampfte mit dem Fuß auf, ihr Gesichtchen war blaß, und jetzt, mit dem verzerrten Mund, sah es gemein aus.

»Nein«, sagte sie mit plötzlich veränderter Stimme (es war die Stimme, mit der sie am Telephon und zu den Kunden sprach, wenn sie den Chef vertrat): »Adieu, laß dich nicht aufhalten. Adieu!«

»Und ...«

»Und ...?«

Sie standen nahe beieinander, und er fühlte mit Entsetzen, wie ihr Haß zu ihm hinüberzuckte.

»Und doch habe ich dich gehabt!«

»Ja, und ...?« sagte sie ganz kalt.

Er schwieg.

Sie reichte ihm ihre kleine Hand. Ihr starrer Blick war Wut, Liebe und Haß zugleich.

Er nahm ihre Hand nicht. Langsam wendete er sich zur Treppe, stieß an eilfertige Leute an, stand plötzlich neben dem Gleis der Bahn. Leichte kindliche Schritte eilten hinter ihm her. Er wandte sich um: Es war ein niedlicher, fünfjähriger Junge in weißem Sweater und blauer Matrosenkappe, der seiner ebenfalls niedlich und weiß gekleideten Gouvernante über die Treppe vorangelaufen war und der die roten Fahrkarten in der winzigen Hand schwenkte.

Vor Erwin glitzerten die zwei Schienen. Neben ihnen zog sich noch eine dritte Schiene hin und unter dieser ein Kabel, aus hundert Drähten zusammengeflochten, mattschimmernd. Es schien sich zu winden, um dem angstvollen Blick näher zu kommen, wollte sich wie eine Schlange starr aufrichten. Es war das Stromkabel, das unzählige Volt führte, das die schweren Waggons mit Eilzuggeschwindigkeit über die Schienen schleuderte, das sie in kellerartige Versenkungen hineintrieb und sie wieder herausriß, empor, über irrsinnige Steigungen. Von seiner Müdigkeit fühlte sich Erwin hingezogen; er hätte sich hier hinlegen mögen, mit tastenden Fingern das eiserne Kabel berühren, leise, ganz leise sterben, zusammenfallen, lautlos, mit verbissenen Lippen, wie vom Blitz getroffen, und er sah sich hier liegen im bestaubten Alltagsgewand, die Finger nach innen in die Hand gekrampft, so wie er seinen Vater einst vor sich gesehen hatte, als ihn das tödliche Strychnin zusammengedrückt hatte, nicht anders als wie eine brutale Faust eine Uhrfeder zusammendrückt.

Es fehlte ihm die Luft, ihm graute vor sich selbst, und er stürzte die Treppe hinab. Noch war keine Minute seit dem Abschied vergangen; ein Zug brauste über ihm in den Bahnhof, alles zitterte leise. Und er glaubte Hedys lichtes Kleid irgendwo noch leuchten zu sehen zwischen den Bäumen, die sich im ersten Hauch des Frühlings umlaubten ...


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