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7

Franziska lebte sich in ihre Liebe hinein, wie ein Mensch sich in ein fremdes Land hineinlebt. Alles erschien ihr neu, sie entdeckte eine Welt, wo sie früher nur einen Farbenfleck auf der Landkarte gesehen hatte. Sie wußte nicht, wieso es kam. Sie war überströmt von Glück, als sie Erwin am nächsten Abend wiedersah.

»Sieh, das ist für dich«, sagte sie und reichte ihm mit der Ungeduld eines Kindes ein kleines blaues Heft hin.

»Was soll ich damit?« fragte er und wog es in der Hand. »Ein Notenheft?«

»Aber du nimmst es doch an? Ich hätte dir so gern etwas mitgebracht, aber unter all meinen Sachen war nichts anderes, das ich dir hätte geben können.«

Unter einer Gaslaterne tat sie den Umschlag auseinander und zeigte ihm das Titelblatt: Erster Beginn des Klavierspiels in den leichtesten Übungen, verfaßt und der lernbegierigen Jugend zugewidmet von Kantor Sebastian Traube in Zwickau. Darunter stand mit verblichener Tinte: Franziska. Begonnen 17. Juli 1906.

»Das war mein erstes Notenheft«, sagte sie leise wie zur Entschuldigung. »Es hat mich bittere Tränen gekostet, bis ich auf Seite 24 war. Es ist ein Andenken an eine Franziska, die nicht mehr ist.«

Als er sie zum Dank küssen wollte, sagte sie:

»Nein, nicht jetzt, sonst denke ich ... sonst bringe ich dir nie mehr etwas.«

»Wie soll ich dir danken«, sagte er endlich, »ich verdiene deine Güte nicht.«

»Ach, verdienen – wer spricht davon? Ich verkaufe es dir ja nicht. Aber nun komme, sonst denken die Leute, daß wir uns streiten.«

Sie liebte ihn mit der ganzen Begeisterung, mit dem ganzen Elan eines unverbrauchten Menschen. Ihr Gefühl, das sie bis dahin beherrscht hatte, brach jetzt aus unbekannter Tiefe empor, gewitterhaft, und sie erschrak manchmal vor sich selbst.

Erwin fühlte das. Er hütete sich. Ganz leise zog er sich zurück. Sie fühlte: Alles! und sollte ich eine Stunde seines Glücks, den Schimmer eines Lächelns auf seinem allzu ernsten Mund mit allem bezahlen, was ich mir bis jetzt zusammengeschuftet habe die ganzen Jahre hindurch. Dies kleine Heft gehörte zu ihrem Leben, es war der erste Beginn ihrer Kunst. Sie konnte nicht verstehen, daß man alte Briefe von Schülerinnen oder gepreßte Blumen von längst vergangenen Schulausflügen aufbewahren konnte wie Henriette, oder silber- und goldgeränderte Heiligenbilder im Gebetbuch neben Banknoten sammeln wie Minna. Aber sie wurde nicht müde, immer wieder das vergilbte Heft von Kantor Traube durchzusehen und sich daran zu freuen. Sie hatte nie einem Menschen etwas geschenkt. Als Vater und Mutter noch lebten, spielte sie ihnen zum Geburtstag ein Stück vor. Das war Geschenk genug. Jetzt aber kam die Sehnsucht zu schenken, mit Gewalt über sie, sie verbrauchte die Hälfte von Minnas Geld (die zwei Prager Banknoten hatte sie nach ihrer Rückkehr redlich mit Henriette geteilt), und als es zu Ende war, übernahm sie noch eine Unterrichtsstunde, bloß um mit dem Geld Erwin eine Freude bereiten zu können.

Aber Geld! Was lag an Geld? Die Zeit war ihr das Wertvollste, das Unbezahlbarste. Und doch hatte sie Zeit. Sie war für ihn da, wann immer er wollte.

Damit aber war sie an der äußersten Grenze ihrer Kraft. Denn ihr Studium durfte gerade jetzt nicht unter dem Mangel an Zeit leiden. Alles sah sie jetzt mit neuen Augen an, mit mächtigen Armen umfaßte ihre weitgewordene Seele die Kunst, mit jedem Tage konnte sie tiefer das Menschliche der Musik erleben. Die Mühe und Not der technischen Schwierigkeiten lag beinahe ganz hinter ihr, und ruhigen Auges, des seligen Endes gewiß, konnte sie nun den weitgeschwungenen Bogen einer Sonate oder eines Konzerts vom Anfang bis zu Ende durchmessen. Zu keiner anderen Zeit hätte sie die ewige Störung durch das klägliche, dürftig kalte oder stotternde Spiel ihrer Schülerinnen ertragen können; nun hörte sie es kaum mehr, so sehr waren ihre Gedanken bei der firnenglänzenden Herrlichkeit ihrer Kunst, so sehr war ihr Herz Tag und Nacht an Erwins Brust.

Die Constanza hatte recht. Die Kunst vertrug keine Teilung. Aber Menschen wie Franziska haben Quellen neuer Kraft, die für sie erst dann zu fließen beginnen, wenn andere Menschen am Ende ihrer Möglichkeiten sind. – Aber das eine ließ sich nicht hindern: Franziska wurde bleich, und ihre allzu leuchtenden Augen machten Erwin Sorge.

»Ich bin blaß?« fragte sie. »Mußt mich gar nicht ansehen, dann machst du dir auch keine Sorgen mehr um mich. Ich kann ohne meine Arbeit nicht sein. Warte nur ab: das erste Konzert, der erste Erfolg – dann will ich mich ausruhen –, dann will ich keine Lektionen mehr geben mein ganzes Leben hindurch, wenn man mir auch zwei Kronen für eine Lektion gibt – und will auch selbst nimmermehr spielen.«

»Wie lange?« fragte Erwin.

»Drei Tage«, sagte sie. »Ist das genug?«

Solange sie neben ihm ging, war sie ruhig, und ihr Glück war so stark, daß sie dachte, die Leute müßten es ihr ansehen. Aber zu Hause begann sie die Einsamkeit zu quälen, und sie konnte nicht begreifen, daß sie nicht immer mit Erwin zusammen sein konnte. Das warf sie ihrer Schwester vor, die kein Wort mehr sagen konnte, ohne daß Franziska ihr gereizt und erbittert antwortete.

»Du wirst ganz nach unserer Mutter«, sagte Henriette zu ihr.

Das einzige Geschenk, das Franzi von Erwin annahm, waren kleine Veilchensträußchen, die er von einer mageren, bloßfüßigen Bettlerin kaufte. Die hielt sie zu Hause in der tiefsten Lade ihrer Kommode unter der Wäsche verborgen. Henriette, die ihrerseits alles mit Franzi teilte, lieh sich eines Tages in Franzis Abwesenheit ein Taschentuch aus und räumte dabei, ohne sich etwas zu denken, die Veilchensträuße auf die Platte der Kommode. Franzi kam heim, sah die Blumen, einige halb, die anderen ganz verwelkt, einige gelb und raschelnd trocken, die anderen noch blau und mit zarten Fältchen bedeckt wie alte Damen, alle aber sahen abscheulich aus wie ausgegrabene Skelette. Franzi konnte anfangs gar nicht glauben, daß das wirklich ihre Blumen seien, dann aber wurde sie blaß, starrte die Schwester wortlos an und unterdrückte ihre Wut. Während Henriette am Tisch saß und das selbstbereitete Essen vorlegte, blieb Franzi bei ihrer Kommode und räumte die Blumen sorgfältig zurück. Von dem Essen rührte sie keinen Bissen an. Das war etwas, was Henriette mehr kränkte als alle Vorwürfe. Aber die Schwester hatte sich schon an die Launen Franzis gewöhnt und nahm sie nicht ernst. Sie erzählte ganz gleichgültig, daß Minna sie für die Osterfeiertage nach Prag eingeladen habe. Franzi zuckte die Achseln, ohne zu antworten, und ging gleich nachher fort, bloß um allein zu sein.

Die Stunde, die sie nun müßig verbrachte, mußte zwar abends am Klavier oder nachts mit dem Abschreiben von Noten wieder eingeholt werden, aber das war ihr ganz gleich, ja, sie legte sich gern Mühe und Opfer auf, wenn sie nur mit Erwin verknüpft waren. Und das war ihr eigen: so gewaltsam, fast brutal sie früher gegen sich, gegen die Schwester und alle Menschen gehandelt hatte, so zart war sie jetzt gegen Erwin. Sie fühlte nach den ersten Tagen, daß sie ihm ihre Liebe nicht unverhüllt zeigen durfte, daß er wie ein Halbgenesener noch Angst vor jedem grellen Licht hatte. Sie zwang sich zur sanften Heiterkeit, wenn sie jubeln wollte, und zu einem müden Lächeln, wenn ihr verzweifelt zumute war. Denn auch das kam vor. Das hochaufrauschende Glück der ersten Tage blieb sich nicht gleich.

Bald hatte Erwin zum zweiten Male Hedys Namen genannt (welch ein verkrüppelter Name, dachte Franziska), hatte von ihr erzählt, ohne zu fühlen, daß Franzi diesen Namen nicht mehr hören wollte, daß er ihr weh tat; sie selbst wollte mit Namen gerufen sein, oft war sie abends so müde. – Gerade jetzt sehnte sie sich so tief aus dem engen Kreis ihres Daseins hinaus in ein Leben, in dem nichts mehr an die Vergangenheit erinnerte, kein fremder Name, kein fremdes Glück und Leid.

»Sprich nicht mehr von ihr, Erwin.«

»Wie du willst«, sagte er.

»Nein, versteh mich recht, es ist nicht meinetwegen, aber für dich ist es nicht gut. Weißt du das nicht? Glaube mir, laß diese alte Sache begraben sein; versprichst du mir's?«

Erwin versprach es, aber er konnte Franziska nicht folgen. Gerade in dieser Überschwenglichkeit des ersten Gefühls, das auch ganz alltägliche Naturen über sich selbst erhebt, konnte er ihr nicht folgen. Er wehrte sich gegen sie, still und unbewußt, aber mit der ganzen Energie seines Wesens. Er wollte Ruhe. Er wollte keine Abenteuer mehr. Der Zufall hatte ihm Franzi nahegebracht, der Wunsch, sich sein Leid vom gequälten Herzen zu sprechen. Es war ein glücklicher Zufall, daß sie in derselben Stadt wohnten, aber was ihn zu ihr geführt hatte, hätte ihn zu jedem anderen Menschen führen können. Franziskas großes, glühendes Gefühl bedrückte ihn, machte ihn müde, zeigte ihm, wie schwach er war.

Er dachte, nur in seinem Beruf habe er Glück gehabt. Hedy empfand er als schweres Unglück. Er wollte überhaupt nicht daran denken, wollte an nichts denken als an seine Zukunft, an Latein und Arithmetik, an den Beruf, den er sich gewählt hatte, und an das Glück, das er sich einst mit blinder Energie schmieden wollte. War nicht alles an ihm, in ihm »Einst«? Aber noch glaubte er an seine Energie. Mit dieser Energie wollte er sich einen Weg durch die widerstrebende Gegenwart bahnen wie mit einer eisernen Stange, er glaubte, er könne sich sein Glück und seine Zukunft erzwingen, mit eigener Hand, er allein, aber auch nur für sich allein – als sei Zukunft, Glück und das ganze Leben etwas Wirkliches und nicht vielmehr bloß ein leerer Name für Begegnungen mit Menschen, freudvolle und leidvolle, und solche ohne Farbe.

Daß Franziska etwas Ungewöhnliches war und daß der Gewinn eines solchen Menschen mehr wert war als das Abiturientenexamen, die Doktorprüfung und selbst sein Patent (das vielgeliebte, das ihn an Hedy und an den Erwin von einst erinnerte), das konnte er nicht begreifen. Er hatte sich nun einmal in die Gestalt eines vom Leben betrogenen Menschen hineinphantasiert, und jetzt, nachdem die Tatsachen längst darüber hinweggegangen waren, konnte er nicht von dieser Idee lassen. Was an ihm gesund und stark war, das setzte er ungeteilt an das Studium und war wirklich glücklich, als ihm ein Professor sagte, daß er wohl noch in diesem Jahre die Prüfung bestehen könne, wenn er auch weiterhin so fleißig war wie bis jetzt, und daß dann im nächsten Jahre das Abiturientenexamen ihm sicher war. In der Enge seiner Aufgabe konnte er sogar mehr leisten als verlangt wurde, und hier allein hatte er das Gefühl von Kraft und Sicherheit.

Franziska ging neben ihm. Sie konnte nicht mehr ohne ihn sein, ohne ihn atmen. Er nahm diese Tatsache hin, aber das war auch alles. Sie durfte ihm nicht mehr als eine Schwester sein – und ein Traum in der Morgendämmerung, der ihm zeigte, daß sie ihm doch mehr als Schwester war, machte ihn unglücklich und glücklich zugleich.

Er war am Abend vorher zum ersten Male mit ihr wieder den Weg durch die Pappelallee gegangen. Nach einigen sonnigen, aber noch kühlen Tagen war es wieder warm und regnerisch geworden, und über die Wiesen wehte eine süße Luft. Franziska, die sonst immer aufrecht und frei neben Erwin herging, lehnte sich schwer an seinen Arm. Es war eine sonderbare Liebkosung, wenn ihr der erwachende Wind den rauhen Stoff seines Mantels ins Gesicht wehte.

Als sie bei der ersten Pappel standen, machte sich Franziska von Erwins Arm frei. Der Wind riß an ihren Haaren. Ein Kamm löste sich. Schildpattkämme und Nadeln waren der einzige Luxus, den Franzi sich jetzt gönnte. Erwin mußte lange suchen, bis er den goldgelben Kamm zwischen den Gräsern fand. Franzi lehnte sich schlank an eine Pappel und sah ihm zu, ihre beiden Hände hielten die schwere Haarkrone zusammen und schienen sie zu liebkosen. Diese weißen Hände in der Dunkelheit hatten Erwin seltsam ergriffen; er wußte nicht warum. Auch Franzi wußte nicht, weshalb sie auf dem Heimweg seinen Arm nicht nehmen wollte und weshalb sie so müde war.

Diese beiden Hände sah Erwin im Traum wieder. Sie schimmerten feucht und weiß, hielten mit zitternden Fingern das schwere Haar zurück; und doch glitten die Flechten unaufhaltsam durch die Finger hindurch, fielen auf Erwins bloße Brust, stiegen in warmen Wellen bis zu den Lippen empor, die nicht mehr atmen konnten, und bis zu seinen Augen, die sich gegen seinen Willen schlössen. Von allen Seiten umhüllte ihn Franzis Haar, lähmte ihn und erfüllte ihn zugleich mit einer unbeschreiblich süßen Empfindung. – Das Gefühl ihrer Nähe, ihrer zitternden Hingabe, wuchs aus verdämmender Ferne immer stärker, ging auf wie ein Licht, zögerte dann und verschwand plötzlich, wie von seinem Atem fortgeweht.

Beim Erwachen quälte er sich mit dem Gedanken, daß er sich selbst untreu geworden sei, aber abends, als er mit Franzi den Weg durch die Bergheide ging, den sie das erstemal genommen hatten, den Weg durch den Kiefernwald, an dem Muttergottesbild vorbei, da fragte er sie inmitten von gleichgültigen Worten:

»Könnte es nicht doch ganz anders zwischen uns sein? Letzte Nacht ... träumte ich von dir.« Und leise: »Warum? Warum kommst du nur im Traum zu mir?«

»Warum?« fragte sie hart. »Wäre es dann anders? Wenn du mich lieb hättest wie ich dich, könntest du dann noch fragen?« Sie tat sich Gewalt an und lächelte. Aber ihr Herz blieb doch schwer; sie konnte den weichen, warmen Abendwind von gestern nicht vergessen, der sie so nahe an Erwins Brust getrieben hatte; wie konnte es sein, daß er das nicht gefühlt hatte!

Ihre Liebe fragte nicht nach Gegenliebe und Belohnung, aber im Grunde blieb sie allein, grauenhaft allein; einst tat das »Allein« wohl, nun tat es weh. Erwins Worte streiften sie nur von fern. Sie wühlten nur Leidenschaft in ihr auf, dann verließen sie sie, ließen sie plötzlich einsam, gierig nach Glück, zerfressen von Sehnsucht nach etwas, dessen Namen sie nicht kannte.


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