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»Was soll ich spielen?« fragte Franziska verzagt und fühlte die feindselige Stimmung all der Menschen um sich.
»Was Sie wollen«, sagte das Achselzucken der Frau Constanza, »was Sie also können«, sagte ihre Stimme.
Einar, ein sehr hübscher, nicht einmal unmusikalischer Mensch, war der Geliebte der gefeierten Künstlerin. Er stand noch in dem Alter, in dem man die Erfolge seiner Geliebten durchaus als die seinigen ansieht und auf sie stolz ist. Nun schmeichelte es ihm, daß Frau Eleonore Constanza wie eine leibhaftige Göttin zu Gericht sitzen und entscheiden sollte, was gut und böse sei. Ohne auf seine Schwester zu achten, die ihn mit dem Ellbogen anstieß, zündete er die zwei silbernen Leuchter wieder an und hielt Franzi ihre Mappe mit den Musikheften hin. Aber Franzis Hände hatten schon, fast ohne zu wollen, die Sonate Opus III begonnen: Beethovens letzte, düsterste und grandioseste.
Franziska schloß die Augen, hörte plötzlich ihr Spiel wie aus einer fremden Welt. Die Akkorde der Einleitung zuckten, flackerten – dann aber brach wie ein Funken aus dem Fels geschlagen das Motiv des Allegros hervor, dieses unvergängliche Titanenmotiv, das nicht mehr klingt wie Musik und Melodie, sondern wie ein wilder Schrei, wie ein Hieb mit ehernem Hammer. Das schreckte Franzi auf. Sie hörte auf sich hin, sie blickte empor, und die Augen auf die zwei blassen Lichterpaare richtend, die auf silbernem Leuchter vor ihr brannten, sah sie die Flamme zittern, von ihr wegwehen, sich zur Erde beugen und dann in der ersten langen Pause still und feierlich wie eine Fermate in die Höhe schweben, sah durch ihren blassen, durchsichtigen Mantel die dunklen Augen der Mutter, der sie dies Stück am Abend vor ihrem Tode vorgespielt hatte, sah erschreckt ihre müden abgearbeiteten Hände, frierend in die alte schwarze Schürze gehüllt, sah das strenge Lächeln um ihren ernsten Mund und hörte sie ein Wort zu ihr sprechen, das sie sonst nie zu ihr gesprochen hatte. Ihr Name »Franzi« war ja auch der Name des Vaters gewesen, und die Mutter, zu allen anderen so herb und kalt, gegen ihren Gatten war sie nichts als Milde, nur Mütterlichkeit. Wenn der alte Schuldiener sonnabendabends heimkam, von der Arbeit erschöpft – denn an diesem Tage wurde das Schulhaus mit seinen vielen Bänken und Tafeln, seinen vom Wochentag angerauchten Kachelöfen, mit seinen staubigen Treppen und Korridoren für die ganze Woche in Ordnung gebracht –, wenn er blaß und erschöpft heimkam, mußten die Kinder aus dem großen Zimmer fort, nur Franziska durfte bleiben, wenn sie gerade spielte.
Wenn er heimkam und, den kleinen, blassen bärtigen Kopf gebeugt, die Mütze in der Hand, sich in eine Ofenecke setzte, da durfte er nicht reden. Gütig kam die Mutter auf ihn zu, brachte ihm alles, was er wünschte, legte es vor ihn hin, und ihr Lächeln vergoldete alles. Es war nicht mehr dieselbe Frau, die wegen eines Fleckens in einem abgetragenen Straßenkleid, wegen eines verlorenen Hellers so grauenhaft streng, so aufwühlend ungerecht strafen konnte, die so rauhe und häßliche, manchmal gemeine Schimpfworte hatte – es war eine sanfte, hingebende, mütterlich weiche Hand, die über ihres Gatten Augen strich, eine süße, weiche, mädchenhaft blühende Stimme, die zu ihm sprach. Und diesen Mund, diese Augen, diese Stimme hatte sie plötzlich nach vielen Jahren, nach einer endlosen Zeit ärmlicher, tief bedrückender Witwenschaft mit ihrem letzten Wort am letzten Abend vor ihrem Tod wiedergefunden, als Franzi am Klavier saß. Durch dieselben Kerzenlichter hatte Franziska zuletzt ihrer Mutter erblindende Augen in gütigem Schein leuchten sehen – und dies düstere, ungeheure Pfeilerwerk der Beethoven-Sonate war für die Mutter das Portal für den Tod geworden, durch das sie hindurchging mit ihren müden und hart gewordenen Händen, die in eine schwarze Schürze gehüllt waren, mit gebeugtem, grauem Kopf und mit Augen, die so tief eingesunken waren in den Staub der Zeit, daß sie das Heute nicht mehr vom Einst trennen konnten. – Nun brandeten dieselben Töne empor, wogten dahin in unwiderstehlichem Zuge des streng fungierten Satzes, Stimme gegen Stimme, leuchteten wie weiße Kämme auf einer blauen Unendlichkeit, und nun war der letzte Ton verhallt wie der Schritt eines Riesen in einer dunklen Höhle.
Einar war leise gegangen, war wiedergekommen, und jetzt sah er die Constanza und Dagmar mit großen Augen an. Die Constanza stand immer noch unbeweglich am Klavier, ihr Maiglöckchensträußchen in der zitternden gesenkten Hand, Dagmar hatte Tränen in den blauen Augen. Dagmar weinte so leicht.
»Weiter«, sagte die Constanza. Jetzt erwachte Franzi und wußte, daß der erste Satz zu Ende war.
Sie begann die »Arietta«, diese unendlich einfache süße Melodie, deren Thema vielleicht das klarste ist, was Beethoven geschrieben hatte. Aber sie blieb nicht klar, nicht einfach, nicht süß. Sie ging in die Tiefe, mit unerhörter Leidenschaft gruben sich die Töne aus dem Bodenlosen. Es war, als hätte der alte, taube, häßliche, von aller Welt verlassene Beethoven dies letzte Adagio sich selbst, sich allein geschrieben, um sich die Melodie zuzuschreien, diese unergründliche Melodie, die da ihre Augen aufriß, versteinernd wie die Meduse. Man konnte jetzt die Töne nicht mehr verstehen, es war kein Verstand, kein Aufbau, kein Sinn in ihnen, aber sie schrien, sie griffen mit eisernen Händen an die aufgewühlte Seele und erschütterten bis in die tiefsten Abgründe des menschlichen Seins.
Und ob der Schluß Jubel der Cherubim war oder der Gesang der verlorenen Geister in der Hölle – es gab keine andere Sprache auf der Welt als die der Musik, die das sagen konnte, es gab keinen anderen als Beethoven, der diese Sprache verstand.