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7

Franzi stieg langsam die Treppe des alten Gasthofes empor. Hafer und Kamillenblüte dufteten schwer in allen Winkeln des grauen Gemäuers; sie schienen in den hohen, immer verschlossenen Schränken zu liegen.

Das Zimmer war dunkel. Erwin saß am Fenster und schrieb. Eine Weile sah ihm Franzi zu. Dann glitt ihr Blick über die seidenglänzenden hohen Dächer, auf dunkelgraue, dichtgeballte Häusermassen, zwischen denen, wie Gras zwischen buckligen Pflastersteinen, sich hier und da kleine Gruppen von lichtgrünen Bäumen hervordrängten. Sie öffnete das Fenster. Überraschend schlug ihr der Atem des reinen Regens entgegen und wehte ihr über Gesicht und Hände.

Sie wandte sich nach Erwin um: »Sagst du mir nicht einmal guten Tag, Erwin?«

»Bitte, laß mich noch einen Augenblick rechnen.«

»Rechnen? Wozu?«

»Ja, wir kommen zurecht; wenn wir sparen, können wir von unserem Gelde gerade vier Monate leben.«

»Du machst dir unnütze Arbeit, lieber Erwin, hier ist ja Geld genug.« Sie legte die Scheine vor ihn hin.

»Genug? Wieviel? 600? Damit bist du für längere Zeit vor Brotsorgen geschützt.«

»Ich?« fragte Franzi und wandte sich ab.

»Nein, sieh doch«, sagte er wieder nach einer Weile, »die Geldfrage ist es nicht allein.«

»Nein, gewiß nicht.«

Erwin mit unsicherer Stimme: »Du willst wohl in Prag bleiben?«

»Ich bleibe«, sagte Franzi. »Vor allem bin ich jetzt todmüde und muß schlafen.«

Erwin nahm Mantel und Hut.

»Du willst fort?« fragte Franziska.

»Was soll ich denn hier? Du hast das Fenster aufgerissen. Mir ist kalt.«

»Weshalb sagst du es nicht? Ich kann Feuer machen.« Sie holte eine Menge beschriebenen Notenpapiers und steckte es in den Ofen. Ein heller Schein fiel über ihr schweres, blondes Haar. Doppelt dunkel war das Zimmer. »Sieh«, sagte sie und wandte ihm ihr herbes, blasses Gesicht zu. »Das ist das Stück von Schumann, das mir gestern mißlungen ist. Ich habe es heute nacht abgeschrieben, und nun bleibt es mir auf ewige Zeiten im Gedächtnis. War das nicht gut? Wenn es zum zweiten Male mißlungen wäre ...« »Nun?«

»Dann hättest du noch mehr Mühe mit mir gehabt.« Er schwieg.

»Komm doch her, Liebling, und wärme auch du dir die Hände an den Kacheln.«

Als er neben ihr stand, sah sie empor in sein Gesicht. »Wie fremd ich ihm doch bin«, dachte sie.

»Ich weiß, wenn es schlecht ausgegangen wäre, dann hättest du treu zu mir gehalten, aber jetzt?« Sie lächelte. Ihr Lächeln war eine müde Frage. »Willst du mich denn jetzt noch?«

»Ich habe dich sehr gern«, sagte er, gerührt durch dieses hilflose Lächeln. »Es gibt Menschen, die es nicht zeigen können. Das mußt du mir verzeihen.«

Eine Glocke klang von der nahen Kirche. Hohe und tiefe Töne wechselten. Die hohen schienen sich zu senken, um die tiefen mit ihren Händen emporzuziehen, und als es stille wurde, schien es, als hätten sie miteinander in den Lüften gekämpft.

»Ich verlange ja nichts von dir«, sagte sie. »Bleib' du nur bei mir!«

»Aber jetzt«, er zögerte. »Jetzt muß ich aus diesem Zimmer fort. Es ist grauenhaft dumpf hier. Und dann – wir können doch nicht immer hier wohnen, ich denke, es ist am besten, wir nehmen ein oder zwei Zimmer drüben auf der Kleinseite in einem alten Hause.«

»Aber vergiß nur nicht, den Mietleuten von meinem Klavierspiel zu sagen. Sie dürfen sich nachher nicht über mich beklagen. – Wann sehen wir uns wieder?«

»Wann hast du dich ausgeruht?«

»Um vier – nein, um sechs Uhr, denn heute nacht habe ich kein Auge zugetan. Ach, mußt mich nicht trösten ... sag' nur ... sag' mir nur, wo wir uns treffen.«

»Ich erwarte dich an der alten Karlsbrücke.«

»Also – es bleibt dabei. Und nun geh!«

Sie schlief ein. Die Gedanken verdämmerten. Bogen für Bogen rollte sich die altertümliche Brücke auf, und Franziska ging zwischen zwei unabsehbaren Reihen blankgeküßter Heiliger dahin, rechts an der kühlen Hand ihres toten Vaters, links von Erwins dunkler, warmer Hand geleitet. Der Vater und der Geliebte sprachen miteinander. Sie verstand die Worte nicht. Sie schienen ihr in schwarze Schränke eingeschlossen. Plötzlich kam ein weites Haferfeld, goldfarben, wogte im Wind. Am Rande standen tiefgrüne Bäume, nach Regen duftend. Von feuchten, schweren Blättern floß Schatten über sie und Erwin. Immer noch sah er nach dem Vater zurück, der auf der Moldaubrücke weiter und weiter schritt, bis er verschwand. Auf einmal tickte Erwins Taschenuhr, ein weißes Zifferblatt glänzte, die goldenen Zeiger vergrößerten sich ins Ungemessene, und plötzlich waren es die Zeiger der Uhr am Altstädter Rathaus, die langsam weiterrückten, gegen die Ziffer IV hin. – Das Rauschen des Delphinenbrunnens schwebte von weitem herüber und warf sich dann plötzlich über sie, überschüttete sie mit einer betäubenden Glut, die nach Blumen duftete und zugleich in unzähligen Funken glänzte. Franzi erwachte. Mit Staunen hörte sie den Regen auf Erwins an dem Fensterbrett vergessenes Rechenheft herabfallen, zögernd, leise trippelnd wie auf kleinen Kinderfüßen ... Sie wollte aufstehen, um Erwin entgegenzugehen, da traf der Blick ihrer immer noch schlafgetränkten Augen den gewaltigen Kachelofen, wo die letzten Funken über das verkohlte Notenpapier hinglimmten.

Nun wußte sie, daß erst eine Minute ihrer Ruhezeit verstrichen war und gab sich mit einem wonnevollen Gefühl der Überwältigung dem Schlafe, der uferlosen Weite des Schlafes hin. –

Als Franziska am Abend das Haus verließ, regnete es immer noch. Aber allmählich verlor sich in der beginnenden Dämmerung der Regen, nur eine schwere Feuchtigkeit wehte noch durch die Straßen, dämpfte alles Laute, machte alles Helle sanft und mild und legte sich weich über Menschen, Stadt und Fluß. Das gotische Tor der Karlsbrücke schien sehr hoch, als Franziska unter seinem steilen, silbergrauen Bogen hindurchging; das Mühlenwehr rauschte, die Bogenlampen am Franzenskai neben dem böhmischen Nationaltheater strahlten weiß; von weitem glänzte märchenhaft die Kuppel der Niklaskirche, mit grünem Kupfer wie mit Seide überspannt. Am anderen Ufer stieg eine schimmernde Rampe, weiß, mit mächtigen Marmorbalustraden, zum böhmischen Landhaus und zu den Palästen des Hradschin empor, imposant und großartig wie der Aufgang zu einem Königsschloß. Daneben kletterten kleine, schlüpfrige Stiegen mit krummem Rücken in die Tiefe, wandständige Laternen blinkten über feuchten Stufen, aus engen Gäßchen hauchte trotz dem Regen dumpfe Luft. Hohe Paläste standen mit blinden Fenstern einander drohend gegenüber und schienen sich mit ihren vorspringenden Erkern wie mit Ellenbogen anzustoßen. Neben den schweren, schwarzen Karyatiden fürstlicher Portale bescheideten sich kleine, bürgerliche, erbsenbraune Haustore mit abgenutzter Klinke. Es dunkelten die Paläste, die vierstöckigen Häuser aber waren bis zu den Mansarden beleuchtet. Im Erdgeschoß glimmten Weinstuben, verstohlene Fenster waren mit roten Vorhängen verdeckt. Auf anderen Fensterscheiben stand die Aufschrift » Ranni polévka«, Morgensuppe, in grauweißen Lettern, die von Küchendunst innen angenagt waren. Man konnte sich bescheidenes Elend denken, ältere, ein wenig abgeschabte Menschen, die zum Frühstück die Suppe der Armut und eingebrockte große Stücke Schwarzbrot mit schlecht verzinnten Blechlöffeln aßen. In einem Lager alter Kleider ging ein bleicher Mann mit einer Bürste umher, ernst wie ein Mesner in der Kirche. Ein blondes Kind stand vor einem schmierigen Zuckerbäckerladen und hielt etwas in der kleinen schmutzigen Faust verborgen. Seinen Augen sah man an, wie es sich nach den Erdbeeren aus Zuckermasse sehnte, die auf kleinen Tellerchen ausgelegt waren. In einem Kaffeehaus lehnten sich zwei Offiziere und ein Zivilist an ein fadenscheiniges, flaschengrünes Billard, stützten sich auf ihre Queues und sahen dem Kellner zu, der ihnen einen meisterhaften Stoß auf dem kreidebestaubten Tuch zeigte.

Franzi stieg die steile Straße höher empor. Die Lichter in den Stuben wurden seltener; viele Frauen standen plaudernd vor den Haustüren. Ihre dicken Gesichter glänzten vor Neugierde und Zufriedenheit. Eine Frau zog einem kleinen Kind den Finger aus dem Mund. Ein fremder Mann ging vorbei und grüßte zu einem Fenster hinauf; rief etwas Komisches hinauf, wobei er herrliche Zähne zeigte ...

Leichter Nebel lag auf der Straße. – Ein weiter Platz zeigte sich, von den Schloten tief unten wehte Rauch herüber. An einem hohen Gebäude leuchtete transparent das Zifferblatt einer großen Uhr wie in einem Bahnhof. Franzi trat näher und hörte erstaunt Männer in böhmischer Sprache singen. Es war das Kellergelaß einer Infanteriekaserne. Wie eine Woge erhob sich der Gesang, klang, verrauschte, begann wieder. Zu ihren Füßen, in dem unterirdischen Saal, verteilte ein Mann aus einem blinkenden Kupferkessel das dampfende Abendessen an die Soldaten, die in langer Reihe dastanden und sangen.

Franzi stieg wieder zu einer Brücke hinab. Langsam erwachte der Wind, langsam verwehte er den Gesang der Soldaten, allmählich verschwand das Zifferblatt der Uhr – die Straße wurde wieder belebter –, unten in dem Kaffeehaus standen immer noch die Offiziere um das Billard, während der Kellner, Unhörbares sprechend und flink die dünnen Lippen bewegend, den Vorhang vor das Fenster zog.

Die Brücke kam. Erwin war noch nicht zu sehen. Franziska wartete. Hier standen sonderbare altersgraue Häuser, die tief unten am Fuß der Brückenpfeiler eingebaut waren, und deren Fenster der Brücke gegenüberlagen. Neben der märchenhaften Schönheit des Brückentores und der grünen Kirchenkuppel hatte sie diese Fenster vorhin nicht bemerkt. Nun aber sah sie in viele Stuben hinein; in solche, die dunkel waren, in andere, in denen eine milchweiße Hängelampe brannte, von einer blinkenden, dreifach gezogenen Messingkette gehalten. Hier saßen Kinder, ganz gebückt, über Schulbüchern und blätterten gedankenvolle Seiten um; ein kleines Mädchen in blauer Schürze hielt sich abseits, strickte eifrig an einem langen Strumpf und lief dann zur Mutter hin, die mit besorgtem Gesicht die geballte Faust in die Ferse des Strumpfes steckte. – Im Hintergrund eines anderen Zimmers, in dem eine verrußte Küchenlampe rötlich brannte, beugte ein dickes Dienstmädchen den üppigen Körper über ein Bügelbrett und sang zu der endlos aufgehäuften Plättwäsche ein endloses, weinerliches Lied. Weiterhin gegen das Wasser zu sah Franziska zwei uralte Frauen hinter ganz klaren Fensterscheiben sitzen, die bewegungslosen Köpfe auf verblichene Hände gestützt, sah große graue Augen auf die Straße hinausstarren wie Blinde ins Licht.

Hier hörten die Häuser auf. Tief unten strömte der Fluß, zitternd spiegelten sich die Bogenlampen im taubengrauen Wasser.

Eine Uhr schlug hart und kurz sechs.

Ein Wagen der elektrischen Straßenbahn rollte vorbei, das goldige Licht der kleinen Lampe berührte das Metallschild, das zu Füßen einer schwarzen, alten Heiligenstatue stand, sanft im Vorübergehen.

Franziska wartete. Die fremde Stadt, Paläste, Kirchen und Brücke, Häuser und Stuben, alles war gedrängt voll von Leben: Menschen sprachen zueinander, gingen Arm in Arm durch die beleuchteten Gassen, saßen am selben Tisch, waren einander nahe, teilten Schmerz und Glück, aßen gemeinsam davon wie von einem Laib Brot. Sie waren von vier Wänden beschützt, zusammengehalten vom gemeinsamen Dach.

Sie war noch immer allein. Tausendfach blühte das Leben aus allen Winkeln dieser Stadt hervor. Sie wußte: Du bist ganz allein. Mit deiner Liebe wirst du ihm nicht nahekommen. Erwin wird nie dein Glück, deine Qual und deinen Frieden, nie deine Arbeit, nie dein Versagen und Gelingen begreifen. Alle anderen hatten ihre Gemeinsamkeit, Beruf und Vergnügen, Tisch und Dach, Liebe, Not; und diese Gemeinsamkeit band erst die einzelnen aneinander, dann an alle anderen, und endlich an den guten Boden dieser guten Erde. Er aber entfernte sich immer wieder von ihr. Sie mußte ihn sich an jedem Tage von neuem erobern. Konnte das dauern? Mußte das bleiben?

Ihr Schmerz, ihr Friede, ihre Seligkeit, blieb das immer ihr eigen? Konnte eine Franziska es nicht geben oder er es nicht nehmen? Und doch jubelte ihm ihr Herz mit schmerzlicher Macht entgegen, als sie von weitem ihn kommen sah.

Sie mußte ihm alles geben, ob er es wollte oder nicht. Liebe, Zeit, Geld, ihre Kunst, Körper, Seele und Zukunft.

Nun da sie ihn vor sich sah, fühlte sie sich reich, stark, unbezwinglich, grenzenlos im Gefühl. Mit dem ungebrochenen Fanatismus ihrer Jugend wollte sie sich ihn erobern und dann die ganze Welt: sie mußte Egoistin sein, tausendmal mehr Egoistin als bis jetzt. Aber nicht mehr für sich allein, nicht mehr nur für dieses ewig hungrige, ewig unersättliche, erbittert gierige »Ich«, sondern für Erwin und sich zugleich, für sich und für den Menschen, an dem sie mit allen Fasern ihrer starken Seele hing.

Arm in Arm mit ihm ging sie in die alte Stadt zurück. Aus klaren Fenstern starrten immer noch unbewegliche weiße Greisengesichter auf die abendlich belebte Straße.

Franziska drückte Erwins Arm. Er sah sie erstaunt an. »Erwin, jetzt erst ist alles wieder gut. Ich liebe dich. Du darfst mich nie mehr warten lassen. Ich ertrage es nicht, nicht einmal eine Stunde. Wir sind nun hier in der großen Stadt ... ganz allein.«

Dieses Wort »ganz allein« spannte sie wie ein Dach über sich und Erwin aus. »Ich habe nichts außer dir. Ich habe keine Mutter, keine Schwester, und will niemand kennen. Du liebst mich doch auch. Wärst du sonst mit mir gekommen? Bleib' bei mir! Ich will alles für dich tun, aber es muß für immer sein. Du mußt mein sein, Erwin, ganz und für immer. Es muß nicht Ehe heißen, aber es muß Ehe sein. Willst du?« »Ja«, sagte er.

Er führte sie zu ihrer neuen Wohnung. Sie befand sich in einem hohen, grauen Palast. Zwei zyklopengliedrige Karyatiden stützten die mächtige Pforte, die für fürstliche Karossen gebaut war; aber jetzt war nur eine kleine Tür in dem gigantischen Portal geöffnet, groß genug für die bescheidenen Menschen, die jetzt noch ein und aus gingen. – Die Vorhalle und das Treppenhaus waren riesig hoch, dunkel. Ein zarter Weihrauchduft kam ihnen entgegen und beugte sich vor ihnen zur Erde.

In einem kleinen Garten rauschte ein alter Baum. Erwin zeigte Franzi die Fenster, hinter denen sie wohnen sollten. Sie waren halb geöffnet, ein weißer Vorhang drängte sich vor, vom Abendwind spielend bewegt, schimmernd wie ein lichter Frauenarm.

Franzi war tiefbewegt. Die alte Kapelle im Walde mit dem blutigroten Herzen der schmerzensreichen Mutter Gottes duftete nach Weihrauch wie dieses Haus, ihre neue Heimat. Der erste Kuß unter frühlingszitternder Pappel, die erste Nacht ihrer Liebe, stark und überwältigend, strahlend unirdisch wie ein Traum, verklang in der Morgenfrühe an den Stufen der Bergkapelle. Aber die letzte leidenschaftliche Umarmung von gestern, verzweifelt und grauenhaft kalt, erstand wieder unerbittlich in der Erinnerung.

Aber zwischen diesen zwei Nächten breitete sich ein neues Leben aus, unabsehbar wie eine Wiese zwischen zwei Flüssen, jetzt erst begrub sie die gestrige Nacht, den gestrigen Tag, die frühere Zeit, die Einsamkeit der ungezählten Stunden, deren letzte an der Moldaubrücke eben erst vergangen war.

Sie sah zu Erwin auf. Er erwiderte ihren Blick.

»Ich hoffe, hier wirst du glücklich sein.«

»Ich?« fragte sie.

»Wir beide«, sagte Erwin und führte sie sanft fort. »Ist unsere Zukunft nicht die gleiche? Ist jetzt nicht endlich Friede zwischen uns?«


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