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Um diese Zeit lernte Hedy Erwin kennen. Erst kamen lange Spaziergänge durch den dunklen Tiergarten, den Landwehrkanal entlang; sie küßten einander, eng umschlungen, atmeten schwer, die Brust an die kühle Brüstung des Geländers gelehnt, und sahen stumm den Zillen zu, die, mit Ziegeln oder mit Äpfeln beladen, stromabwärts fuhren.
Bunte Lichter glänzten, und ihnen war, als seien sie im Theater.
Hedy liebte Erwin. Wenn sich manchmal seine muskulösen, großen Hände über ihr Gesicht breiteten, hätte sie schreien, ihn in die Finger beißen mögen. Aber sie blieb still. Sie liebte seinen Mund, seine harten Lippen. Sie dachte Tag und Nacht an ihn. Ihr Chef wurde unzufrieden, machte ihr Vorwürfe, drohte mit Entlassung; aber sie lächelte, zuckte mit den Achseln und zeigte den Kolleginnen Briefe von Erwin, die sie vorher parfümiert hatte. Ihr Glück war fast vollkommen. Wenn Erwin ihr Bonbons oder Blumen brachte, wenn er sich beim Sprechen zu ihr beugte und lächelte, dann hätte sie alles für ihn tun mögen. Aber er verlangte nichts, er fragte nichts, er war mehr Kind als sie.
Es blieb lange Zeit bei den Küssen, aber sie begannen sie zu quälen, und die Mutter fragte mißtrauisch, woher die schwarzen Ringe um die Augen kämen. Sie schwieg. Sie trotzte. Sie hätte gewünscht, die Mutter schlüge sie. Sie dachte unaufhörlich an ihn, sandte ihm Ansichtskarten, schrieb ihm Briefe mit Bleistift, auf Geschäftspapier, nachdem der Chef aus dem Bureau fortgegangen war.
Sie telephonierte Erwin, sie konnte nicht verstehen, daß er nicht glücklich war, von der Arbeit zu ihr ans Telephon gerufen zu werden. Ihre Stimme schwankte, und wenn sie die Hörmuschel ans Ohr drückte, war ihr, als küsse er sie ins Ohr. Sie wurde still, sie konnte nicht atmen, und Erwin hängte den Hörer ab, in der Meinung, sie sei vom Apparat fortgerufen worden.
Sie gingen gemeinsam ins Kino. Die Bilder flimmerten, die Luft war heiß, lähmend süß war die Musik, und als sie in den Frühlingsabend hinaustrat, erinnerte sich Hedy an nichts, als daß Erwin ihre Hand in der seinen gehalten hatte. An einem Abend nahm er sie in ein Musikcafé mit. Die Musik dröhnte; das Licht aus vielen elektrischen Lampen gegen ungeheure Spiegel, gegen die Wandbekleidung aus Marmor und Bronze geschleudert, beängstigte sie. Erwin sah sie an; still, mit einem tiefen, sanften Blick, der nichts forderte; und seine grauen Augen, die etwas mädchenhaft geschnitten waren, zogen sie unwiderstehlich an. Die Musik spielte ein Stück aus Boheme; Trompete und Flöte ahmten plump den Klang der Singstimme nach. Plötzlich aber hob sich aus dem verstummenden Orchester die Stimme eines Grammophons hervor: ein italienischer Tenor streichelte das brutal durchleuchtete, von Menschen dunstende Lokal mit der unbeschreiblichen Süße seines Organs; und das Ablaufen der Maschine klang wie das Schnurren der kleinen Katze, die keinen Namen gehabt hatte.
Hedy war von Traurigkeit übergossen. Als sie fortging, schämte sie sich vor Erwin, als hätte sie sich vor ihm im Lichte der Kronleuchter entkleidet.
Sie sprach nicht mehr viel; wenn sie lachte, klang es heiser. Erwin durfte sie nicht mehr küssen, nicht mehr anrühren; sie wollte mit ihm in kein Kino, in kein Theater, in kein Konzert. Sie ließ ihn einige Tage allein; dann kam sie zu ihm.
Es war ein regnerischer, ungewöhnlich heißer Frühlingstag. Sie trat in sein Zimmer, riß ihn an sich und zitterte.
Sie wurde ein anderer Mensch. Sie lachte, sie weinte nicht mehr wie früher. Und wenn sie sich beim Ankleiden mit einer Nadel stach, war es ein anderer Schmerz. Sie staunte, als sie wieder unten auf der Straße stand. Sie hatte gedacht, er würde sie nicht lebend aus seinen Armen lassen. Aber es war der Abend eines Arbeitstages, und die Straße draußen, das Zimmer daheim sahen nicht anders aus als sonst. Die Mutter kam »aus ihrem Konzert«, keuchte, plauderte, rumorte. Sie klagte über Schnupfen und über das feuchte Wetter; weshalb gingen nur jetzt so wenig Menschen in die Konzerte? In diesem Augenblick haßte Hedy ihre Mutter. Sie schwieg, und in ihrem Schweigen rollte sie sich zusammen.
Am nächsten Tage mochte sie nicht aufstehen; sie schrieb Erwin, sie sei krank und habe Schmerzen. Es freute sie, zu wissen, daß er vergebens auf sie wartete.
Sie träumte den ganzen Tag von ihm. Am Abend war sie so blaß, daß die Mutter besorgt den Arzt holen wollte. Aber Hedy sagte, es sei unnötig. Die Mutter kochte Kamillentee und las aus einer Zeitung vor. Die Zeitung knisterte, es regnete draußen. Irgendwo spielte ein Grammophon. Hedy schlief ein. Als sie erwachte, war es dunkel; sie war allein, und ihr war, als sei sie jetzt erst von Erwin gekommen. Sie sehnte sich danach, ihn wiederzusehen; sie dachte, er müsse inzwischen größer, schöner geworden sein. Es schwebte ihr vor, daß er, in eine glänzende Uniform gekleidet, vor dem Tore in einem Auto auf sie warte ... sie dachte an das Meer, an Italien, an Indien, die Berge, an eine Welt jenseits dieser Welt, die sie nicht kannte.
Aber er war blaß, sein Anzug war gewöhnlich, und der Veilchenstrauß in seiner Hand war nicht größer als sonst.
Sie ging still neben ihm. Sie entschloß sich sehr schwer, ihm zu antworten. Plötzlich klang ihre Stimme kühl, hart wie aus Glas. Sie wollte ihn nicht mehr küssen, sie stieß ihn von sich, wenn er sie an sich ziehen wollte. Sein Schmerz tat ihr wohl.
Als er ihr die Hand zum Abschied gegeben hatte, als sie allein war, zürnte sie sich selbst. Sie ging von der Treppe auf die Straße zurück, suchte ihn, er war fort. Sie fuhr mit der Straßenbahn nach seiner Wohnung, aber sie hatte nicht den Mut, an seine Tür zu klopfen.
Als sie einander das nächste Mal wieder trafen, war es so, als sei nie etwas zwischen ihnen gewesen. Sie sehnte sich nach seinen Küssen, aber er mußte sie erzwingen. Seine Liebe erschien ihr groß, aber fremd, wie aus einer anderen Welt. Sie lachte manchmal darüber, wie man über Worte aus einer fremden Sprache lacht. Oft dachte sie, sie hätte als Mann anders gehandelt.
Manchmal war sie mild, sanft, still. In seinen Armen fühlte sie sich ruhig, zufrieden, aber doch nie mehr überwältigt.
Er betete sie an, verherrlichte sie, stellte sie über alle anderen Frauen. Sie spottete darüber und hätte seine überschwenglichen Briefe am liebsten ins Feuer geworfen. Sie wollte noch etwas Neues von ihm, etwas Berauschendes, etwas ganz Großes, etwas, das sie zwang, sich selbst zu vergessen; und einmal träumte sie, daß er sie an den Haaren packte und so über die Erde emportrüge. Manchmal drängte sie sich in seine Nähe, sie wartete in seinem Zimmer auf ihn, zusammengekauert in einem Winkel des Sofas. Sie atmete kaum. Und dann warf sie sich wild wie eine Katze an seinen Hals. Aber im Herzensgrunde wurde sie nie satt. An einem Tage quälte sie ihn. Am nächsten bat sie um Verzeihung. Sie bat ihn, sie zu erziehen, sie las daheim seine Bücher, schlief abends über ihnen ein, versteckte sie unter dem Kopfpolster. Wochenlang gehorchte sie ihm auf den leisesten Wink, dann hatte sie mit einem Schlag, ohne erkennbaren Grund einen unbesieglichen Widerwillen vor ihm und wollte ihn nicht sehen.
Nie mehr empfand sie das, was sie in der ersten Nacht empfunden hatte ...
Sie wollte seine Liebe stärker, rücksichtsloser, seine Sanftheit empörte sie, dann schämte sie sich ihrer selbst und sagte sich, sie sei Erwins nicht wert. Aber am nächsten Tage wollte sie ihn für immer verlassen. Seine Augen drohten. Sie duckte sich, aber er blieb still. Nun quälte sie ihn, den Schwächeren, mit eiserner Konsequenz, auch wenn sie selbst darunter litt. Sie verzweifelte an sich, sie stieß mit den Füßen nach ihm, sie schäumte vor Wut bei seinen Liebkosungen. Am nächsten Tage war sie allein.
Sie erwartete ihn; er kam nicht. Sie sandte ihm durch die Post Blumen, ohne ihren Namen zu nennen, und in einem eingeschriebenen Brief zwei Karten für das Kino, in dem sie einst zusammen gewesen waren. Er antwortete nicht. Der Brief mit den Karten kam zurück. Sein Zimmer war schon an jemand anders vergeben. Die Wirtin sagte, Erwin sei nach Südamerika. Aber sie glaubte es nicht. Sie dachte, er habe nur die Wohnung gewechselt, er versteckt sich vor ihr, nein, er wollte sie erziehen, wolle sie nur zum Nachgeben zwingen. Als sie aber allein blieb, war ihr zumute wie damals, als die Mutter ihrer Katze die Füße verknotet und das hilflose Tier auf die Straße geschleudert hatte.
Am nächsten Tage ging sie wieder nach seiner Wohnung. Nach zwei Wochen fragte sie nochmals nach ihm. Endlich mußte sie daran glauben. Jetzt erst weinte sie. Auf offener Straße wurde sie von ihrem Schmerz wie von einer Krankheit geschüttelt ... Sie schluchzte, wie ein kranker Mensch sich erbricht.