Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

»Guten Morgen, Mrs. Fanny«, sagte Grace Wingrove liebenswürdig, indem sie mit strahlendem Gesicht in die Küche trat. – »Wann wird in diesem verschlafenen Haus eigentlich gefrühstückt?«

Die dralle Wirtschafterin von Spittering Farm fuhr vom Herd etwas erschreckt herum und blickte dann hastig und schuldbewußt nach der Uhr. Als sie festgestellt hatte, daß es erst gegen sieben ging, beruhigte sie sich etwas, regte aber sofort die Hände mit verdoppelter Geschäftigkeit.

»Sofort, Miß«, beeilte sie sich zu versichern. »In längstens einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen.«

Das junge Mädchen, das frisch und strahlend aussah, wie der Sommermorgen selbst, warf einen großen Buschen bunter Gartenblumen auf den Tisch und machte sich daran, ihn mit flinken Händen zu einem Strauß zu binden.

»Ich werde im Eßzimmer frühstücken«, meinte sie leichthin. »Sie wissen doch, daß wir das gestern ausgemacht haben.«

Fanny bestätigte dies weder, noch verneinte sie es, und Grace summte eine Schlagermelodie vor sich hin.

»Ich war wohl gestern abend etwas beschwipst?« unterbrach sie plötzlich das Schweigen, und ihre schönen Augen hefteten sich sehr unsicher auf die hin und her eilende Frau. »Glauben Sie, daß er es bemerkt hat?«

»Wer?« fragte Fanny mit einer Schwerfälligkeit, die das junge Mädchen höchst verlegen werden ließ.

»Nun, Mr. Rayne. Ich bin nämlich eingeschlafen und weiß nicht, was weiter geschehen ist.«

Diese Lücke in ihrer Erinnerung verursachte Grace seit ihrem Erwachen viel Kopfzerbrechen und einige Sorge, aber Fanny vermochte sie zu beruhigen und tat dies mit liebevoller Weitschweifigkeit.

»Ach wo, gar nichts hat er gemerkt. Er hat zuerst lange telefoniert, und dann ist er plötzlich zu mir gekommen und hat gesagt: ›Miß Wingrove ist vor Müdigkeit eingeschlafen. Nehmen Sie sich ihrer an!‹ Darauf ist er in sein Zimmer gegangen, um sich umzukleiden, und ich habe Sie hinaufgebracht.« Das frische Gesicht der Frau verzog sich zu einem breiten Schmunzeln, und auch ihre wasserblauen Augen lachten vergnügt. »Sie waren wirklich so schläfrig, Miß, daß ich Sie kaum auskleiden konnte und dann . . .«

Sie machte eine verlegene Pause und kicherte in sich hinein, aber Grace hatte dabei ein etwas unbehagliches Gefühl.

»Nun?« forschte sie kleinlaut, ohne den Blick von ihren Blumen zu erheben.

»Dann sind Sie mir plötzlich um den Hals gefallen und haben in einem Atem geweint und gelacht.«

»So«, meinte das junge Mädchen trocken. »Ein nettes Benehmen, nicht wahr? – Sonst aber hoffentlich nichts?« fügte sie mißtrauisch hinzu.

»Nein, sonst nichts«, versicherte Fanny lebhaft und etwas erstaunt, und der Seufzer der Erleichterung, den Grace ausstieß, war in der ganzen Küche zu hören.

Pünktlich eine Viertelstunde später, wie es versprochen worden war, bekam Grace im Eßzimmer ihr Frühstück serviert und machte sich mit großem Appetit darüber her. Sie hatte bereits einen längeren Spaziergang im Park hinter sich, und ihre Laune ließ nichts zu wünschen übrig. Die seltsame Lage, in der sie sich befand, kam ihr schon längst nicht mehr zum Bewußtsein, denn sie hatte an ganz andere Dinge zu denken.

»Wo ist Mr. Peter?« fragte sie so ganz nebenbei, als Fanny ihr den Tee eingoß. Eigentlich wollte sie etwas anderes wissen, aber vielleicht war es besser, auf Umwegen daraufzukommen.

Die freundlichen Mienen der Wirtschafterin wurden mit einem Schlage sehr unwirsch und eisig.

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Miß. Er hat sich heute schon am frühen Morgen wie ein Dieb aus dem Haus gestohlen, und weiß Gott, was er vorhat. Er ist nämlich in seinem besten Anzug ausgerückt, was allerdings nicht viel sagen will, und hat sogar einen Hut und so etwas wie einen Kragen gehabt. Aber trotzdem hat er genau so verwildert ausgesehen wie immer.«

Die kritische Frau schwieg und blähte verächtlich die Nasenflügel, und das junge Mädchen mußte nach einer kleinen Pause von neuem beginnen.

»Ich fürchte, ich halte Sie auf. Die anderen werden gewiß auch schon frühstücken wollen.«

Fanny schüttelte lebhaft mit dem Kopf.

»Von einem Aufhalten kann keine Rede sein«, versicherte sie. »Seine Gnaden hat das Frühstück erst für neun Uhr befohlen, und er ist sehr pünktlich. Gewöhnlich frühstückt er hier draußen bereits um halb acht«, fuhr sie vertraulich fort, »aber heute ist er erst gegen vier Uhr früh heimgekommen. Ich glaube, er war in Gesellschaft, denn er hatte den Frack und den Mantel mit dem schweren Seidenfutter an.« Das sommersprossige Gesicht der Frau begann vor Eifer und Schwärmerei zu glühen. »Schade, daß Sie ihn nicht gesehen haben, Miß«, meinte sie mit ehrlichem Bedauern. »So kann nur Seine Gnaden aussehen.«

Grace hielt in der einen Hand ein dick mit Butter und Jam bestrichenes Brötchen, in der andern die Teetasse und hörte mit großen Augen sehr geduldig zu.

»Warum sagen Sie immer ›Seine Gnaden‹?« fragte sie plötzlich, indem sie herzhaft in das Brötchen biß, und die redegewandte Fanny sah etwas erschreckt drein und wußte nicht sofort eine Antwort.

»Ich bin das so gewöhnt«, wich sie verlegen aus. »Ich habe, bevor ich heiratete, immer bei hohen Herrschaften gedient, und da sagt man eben so. Und so etwas bleibt einem dann. Aber Mr. Rayne wünscht das nicht, und ich möchte Sie bitten, ihm nicht zu sagen, daß ich ihn so nenne.« Sie schien wirklich ängstlich, aber das junge Mädchen schüttelte feierlich den feinen Kopf, und Fanny fühlte sich durch dieses stumme Gelöbnis so beruhigt, daß sie die Schleusen ihrer Mitteilsamkeit noch mehr öffnete.

»Er ist nämlich so gut, und ich möchte nicht, daß er sich über mich ärgert«, gestand sie. »Nicht nur, daß er sich meiner angenommen hat, weil er hörte, daß es mir nach dem Tode meines Mannes nicht zum Besten ging, hat er mir nun auch noch erlaubt, eine Verwandte zur Hilfe zu nehmen. Sie muß jeden Tag eintreffen, und ich freue mich schon darauf, denn dann werde ich mich etwas mehr um Sie kümmern können, Miß.«

Das war es zwar gerade nicht, wonach Grace verlangte, aber sie nickte der Frau dankbar zu, und diese sprang nun noch geschäftiger und fürsorglicher um sie herum denn je. Länger als eine halbe Stunde vermochte aber das junge Mädchen trotz des lebhaften Gesprächs das Frühstück doch nicht auszudehnen, und sie fand auch keinen rechten Vorwand, sich irgendwo unten häuslich niederzulassen. Auf der Bank vor dem Haus lag stechend die Sonne, und sonst gab es auf Spittering Farm überhaupt kein halbwegs einladendes Plätzchen.

Grace stieg daher etwas melancholisch in ihr Zimmer hinauf und machte sich mit allen möglichen Dingen zu schaffen, wobei ihre Augen immer wieder zur Uhr gingen und ihre kleinen Ohren gespannt auf jeden Laut im Hause lauschten.

Es war halb zehn, als plötzlich die hölzerne Treppe unter eiligen und gewichtigen Schritten knarrte, und die junge Dame vertiefte sich rasch derart in ein Buch, daß sie selbst das mehrmalige hastige Klopfen überhörte.

Es kam nur Fanny, aber auf ihrem erhitzten Gesicht lag diesmal eine gewisse Feierlichkeit, da sie in ganz offizieller Sendung erschien.

»Miß Wingrove«, sprudelte sie nach einem förmlichen Knicks hervor, »Seine Gnaden lassen fragen, ob es Ihnen angenehm wäre, mit ihm nach London zu fahren. In einer halben Stunde.«

Das junge Mädchen blickte lässig von dem Buch auf und überlegte eine Weile mit der gewissen unliebenswürdigen Falte zwischen den Brauen. Dann nickte sie gleichgültig.

Aber kaum war die Wirtschafterin bei der Tür draußen, als das Buch auf den Tisch flog und Grace in fieberhafte Eile geriet. Trotzdem war sie noch lange nicht fertig, als sie das Auto über den Kies des Vorhofes knirschen hörte, aber dafür sah sie dann so entzückend aus, daß selbst in Raynes beherrschten Mienen einige Überraschung zu lesen war.

Sie stellte das mit großer Befriedigung fest, begnügte sich aber damit, seinen förmlichen Gruß mit einem kurzen Kopfnicken zu erwidern. Er half ihr in einen Staubmantel, und statt des koketten Hütchens mußte sie sich wegen des offenen Wagens zu einer Haube verstehen, wobei sie in aller Eile feststellte, daß beide Sachen völlig neu und wie für sie gemacht waren.

Fünf Minuten später schoß der Wagen, von Tom gelenkt, von dem nach Spittering Farm führenden Seitenweg in die breite Landstraße, die von Chesterhills herkam, und nach kaum einer Meile überholte er den Zweisitzer Rowcliffes, der sich ebenfalls auf der Fahrt nach London befand.

Der Tag war klar und die Straße in tadellosem Zustand, und weder der Fahrer des großen Wagens von Spittering Farm noch sein Herr und dessen Begleiterin waren zu übersehen.

Der Colonel biß in auflodernder Wut an seinen wulstigen Lippen, und sein gelbes Gesicht sah geradezu schreckenerregend aus. Er hatte eine völlig schlaflose Nacht hinter sich, denn die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn in eine Lage gebracht, der seine Nerven nicht standzuhalten vermochten. Der Verlust des Schmuckes konnte ihn ein Vermögen kosten, und er sah augenblicklich keine Möglichkeit, wieder in seinen Besitz zu gelangen. Jetta Ormond hatte keine brauchbaren Angaben machen können, sondern sich darauf beschränkt, ihm die heftigsten Vorwürfe und die absonderlichsten Verwünschungen an den Kopf zu werfen, und von der Findigkeit des Inspektors hielt er so gut wie gar nichts. Seine einzige Hoffnung war der Alte in Limehouse. Fred Johnson hatte unbedingt verschiedene Beziehungen, die vielleicht in dieser Sache von Wert waren, und er war dem Mann so oft behilflich gewesen, daß er nun auch einmal einen Gegendienst verlangen konnte. Der Colonel war fest überzeugt, daß der Fremde von Spittering Farm, der sich so auffällig an Jetta herangemacht hatte, irgendwie mit im Spiel gewesen war, und sein Haß gegen ihn kannte keine Grenzen. Wenn der Colonel daran dachte, wie der Mann ihn aus dem Weg befördert hatte, geriet alles, was an Soldatenblut in ihm war, in heftigste Wallung, aber gleichzeitig sagte ihm auch eine innere Stimme, daß man mit einem so brutalen Burschen von derartigen Körperkräften nicht vorsichtig genug sein könne.

Hearson, der neben ihm saß, schien seine Gedanken zu erraten, denn er kam plötzlich auf diesen Zwischenfall zurück. »Ich fürchte, Colonel«, sagte er in seiner leisen, bescheidenen Art, »daß Sie sich zu sehr hinreißen ließen. Ich vermag Ihre Aufregung gewiß zu verstehen, aber« – er machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr – »wenn Ihr Verdacht wirklich zutrifft, haben Sie sich durch Ihre Heftigkeit mehr geschadet als genützt. Der Mann ist nun gewarnt und wird vorsichtiger sein, als er es sonst gewesen wäre.« – Die scharfen Brillengläser Hearsons richteten sich forschend auf Rowcliffe, und der so tadellose Herr schien, nach dem Ton seiner Frage zu schließen, doch etwas neugierig zu sein. »Wie sind Sie überhaupt so rasch auf diesen Verdacht gekommen?«

Der Colonel hatte keine Lust, darauf eine unumwundene Antwort zu geben.

»Ich weiß, was ich weiß«, stieß er brüsk hervor, und Hearson war zu sehr Weltmann, weiter in ihn zu dringen. Er begann sofort von etwas anderem zu sprechen.

»Ich beabsichtige heute, Mr. Johnson die Lage der Dinge gründlich klarzumachen. Das ist nun schon das dritte schwere Verbrechen innerhalb weniger Tage, und so kann es nicht weitergehen, wenn Chesterhills nicht um sein ganzes Renommee kommen soll. Es muß bei uns endlich gründlich aufgeräumt werden, und die verschiedenen Schlupfwinkel im Ort und in der Umgebung müssen fallen. Wenn sich Johnson nicht damit befreunden kann, soll er eben seinen Aktienbesitz abgeben. Ich bin gerne bereit, ihn zu übernehmen. Sie müssen mich dabei unterstützen, Colonel«, fuhr er eindringlich fort, »denn ich nehme an, daß Sie einen weit größeren Einfluß auf ihn haben als ich. Wir sind uns leider wiederholt bei einigen Geschäften in die Quere gekommen, und das hat zwischen uns eine gewisse Rivalität geschaffen. Aber von Ihnen hält er sehr viel, wie ich weiß. Die Sache ist ja schließlich in unser aller Interesse. Ich zittere seit Tagen, daß irgendeine Zeitung Lärm schlägt und eine Lawine ins Rollen bringt.« Er rückte nervös an seiner Brille und schüttelte ratlos den Kopf. »Dabei scheint dieser Mr. Murphy völlig zu versagen, und ich wünschte, Scotland Yard hätte uns einen weniger seltsamen Herrn geschickt.«

 

Etwa zwei Meilen südwestlich von Spittering Farm und kaum zweihundert Schritte abseits der Straße nach London lag ein kleiner, mit wenigen Föhren bestandener Hügel, und auf der Spitze dieses Hügels machte sich der seltsame Herr bereits über eine Stunde zu schaffen. Er hatte pünktlich um acht Uhr morgens Ben Kitson mit einem kleinen Tischchen und allen möglichen Instrumenten und Taschen bepackt und war dann mit ihm und dem nach ländlichen Abenteuern lüsternen Hannibal losgezogen.

Kitson machte den Führer, und als sie den Fuß der Kuppe erreicht hatten, gab er dem wißbegierigen Murphy genau an, wo er die gewisse Taube zuerst erblickt hatte und in welchem Winkel sie auf ihn zugekommen war. Alles das ließ sich der gründliche Oberinspektor noch ein zweites Mal erklären, als sie den Hügel erstiegen hatten, und dann nahm er mit dem Tischchen, einer großen Landkarte und einem seltsamen Lineal mit einem Fernrohr einige umständliche Manipulationen vor, um schließlich längs des Lineals einen dünnen Strich zu ziehen, dessen Verlauf er begierig verfolgte.

Ben verstand von diesen Dingen nichts und interessierte sich auch nicht dafür, sondern spielte lässig mit einer blinkenden Zigarettendose, die mit einem rassigen Pferdekopf geziert war. Sie gab zwar beim Öffnen und Schließen einen etwas blechernen Klang, aber dafür war sie dicht gefüllt, und es schien Kitson einfach unglaublich, daß er sich noch vor zwei Tagen mit einigen Stummeln in der Westentasche hatte begnügen können.

Auch Murphy schien dieser Wandel der Dinge etwas bedenklich, denn er ließ plötzlich den Feldstecher sinken, mit dem er das Vorfeld abgesucht hatte, und seine Äuglein hefteten sich mißtrauisch auf Ben.

»Wo hast du das geklaut?« fragte er barsch, aber sein neuer Gehilfe erschrak weder, noch zeigte er Entrüstung, sondern sein hageres Gesicht war würdevolle Biederkeit.

»Ein Geschenk von meiner Braut, Sir«, sagte er leichthin. »Sie hat es mir heute beim Frühstück gegeben. Und da sie etwas Erspartes hat, können wir bald heiraten. Ich bin gelernter Maschinenschlosser . . .«

»Du bist ein durchtriebener Halunke«, fuhr ihm der Oberinspektor in die hoffnungsvolle Rede, »und ich glaube, ich werde dir etwas mehr auf die Finger sehen müssen. Und wenn ich dich bei irgend etwas ertappe, tunke ich dich so ein, daß du gleich für einige Jahre genug hast. Und die Braut werde ich dir auch austreiben. Dazu, daß du mir alle Schürzen im Hotel rebellisch machst, habe ich dich nicht mitgenommen. Von jetzt an gibt's Arbeit für dich, mein Junge, und dann werden wir ja sehen.«

Murphy drückte sich über den Sinn seiner letzten Worte nicht näher aus, sondern setzte wieder das Glas an die Augen, und Ben Kitson steckte sich herabgestimmt eine neue Zigarette an. Plötzlich trat der Oberinspektor rasch hinter einen Baum, und sein Feldstecher verfolgte das Auto, das auf der Straße von Chesterhills herangeflogen kam. Den Herrn auf dem Rücksitz kannte er, aber das junge, auffallend hübsche Mädchen neben ihm gab ihm zu denken, und er verfolgte den Wagen, soweit er dies vermochte.

Der ehemalige Vagabund bedurfte keines Glases, um auf zweihundert Schritte ein Gesicht zu unterscheiden, und das Auto war kaum vorbei, als er Murphy auch schon hastig zuraunte: »Das waren sie, Sir. Sie wissen schon – der Schofför und der Herr, mit dem er gesprochen hat.«

Der Oberinspektor erwiderte nichts, denn eben kam ein zweiter Wagen in Sicht, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, aber an dem Colonel und Mr. Hearson war nicht viel zu sehen, und er hielt sich damit auch nicht weiter auf.

Vom Westen her drang das ratternde Rollen eines Eisenbahnzuges, und eine dunkle Linie, über der eine weiße Rauchfahne tanzte, bezeichnete seinen Weg. Chesterhills hatte keine eigene Station, aber es lag zwischen zwei Haltestellen, von denen es zu Fuß bequem in einer halben Stunde zu erreichen war.

Von der südlichen Station führte der Weg an Spittering Farm vorbei und für diesen entschied sich auch Murphy, als er zum Aufbruch gerüstet war. Vorerst mußte allerdings noch Hannibal herbeigepfiffen werden, der sich, wie immer, sehr viel Zeit ließ, und, als er endlich erschien, mit verzerrtem Maul noch rasch an einem großen Frosch würgte.

Zur größten Enttäuschung Bens, der bereits wieder Hunger verspürte, schlug der Oberinspektor nicht die Richtung zu den heimatlichen Fleischtöpfen, sondern gegen die Bahnstation ein und noch dazu in einem Schneckentempo, das kein Ende dieser Wanderung absehen ließ. Es war, wie Ben fand, ein höchst langweiliger Spaziergang, bei dem nur Hannibal auf seine Kosten kam, da er keinen Maulwurfshügel und kein Kaninchenloch ungeschoren ließ. Einen Augenblick hoffte Kitson, in dem seit vierundzwanzig Stunden der Don Juan erwacht war, daß es vielleicht doch einen Lichtstrahl geben würde, da vor ihnen plötzlich eine Frauengestalt auftauchte, aber schon nach wenigen weiteren Schritten stellte er enttäuscht fest, daß sie nicht mehr jung und von völlig reizloser Hagerkeit war. Sie schleppte sich mit einem ziemlich umfangreichen Koffer, den sie zur Erde stellte, als die beiden Männer sich ihr näherten.

»Bitte, Sir, bin ich hier auf dem rechten Weg nach Spittering Farm?« wandte sie sich schüchtern an Murphy, und dieser machte sofort halt, um ihr in höflichster und weitschweifigster Weise Auskunft zu geben.

»Gewiß, liebe Frau. Sie gehen immer geradeaus, und wenn Sie hinter jenes Wäldchen dort kommen, haben Sie die Farm bereits vor sich. Ein Haus mit einem roten Dach und einem großen Garten. – Wohl zu Besuch?« fügte er mit einem sehr freundlichen Grinsen hinzu, das die einfache Frau zu dem leutseligen Herrn sofort Zutrauen gewinnen ließ.

»Nein, in Dienst«, erwiderte sie offenherzig. »Meine Kusine ist dort Wirtschafterin, und ich soll ihr zur Hand gehen.«

»Oh«, sagte der Oberinspektor mit hochgezogenen Brauen und rundem Mund, »die Kusine! Schau, schau. – Eine sehr tüchtige Hausfrau, die Dame in Spittering Farm«, stellte er sachverständig fest, »und eine fesche Person.«

Über die abgehärmten Züge der Fremden ging ein etwas mattes Lächeln.

»Kennen Sie sie?« fragte sie lebhaft.

»Ob ich sie kenne! Erst gestern habe ich wieder einen Blick in ihre Küche getan, und ich kann nur sagen: Alle Hochachtung. Alles so nett, freundlich und blitzsauber, wie sie selbst.« Die Frau freute sich, sofort einen Bekannten von Fanny getroffen zu haben, die sie selbst seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, aber das überschwengliche Lob, das sie über diese zu hören bekam, stimmte sie etwas bitter.

»Ja«, seufzte sie, »ihr ist es eben nie so schlecht gegangen wie mir, und sie hat auch nicht so viel Schreckliches durchgemacht. Sie hat doch wenigstens einige Pfund gehabt, als ihr Mann im Krieg gefallen ist, aber nach dem Tod meines Mannes ist nicht ein Schilling im Haus geblieben. Er war Bauarbeiter und ist bei einem Gerüsteinsturz ums Leben gekommen.. Dazu war gerade noch ein Kind unterwegs, und wenn damals nicht unsere Lady gewesen wäre . . .«

Sie wurde von ihren traurigen Erinnerungen übermannt und begann zu schlucken, und solche Dinge vertrug die »heulende Daumenschraube« von Scotland Yard nicht. Murphys Augen wurden sofort feucht, und seine dicke Unterlippe geriet in Bewegung. Er kramte hastig in allen Taschen, aber es dauerte eine geraume Weile, bis er die verklebte Tüte, die er suchte, gefunden hatte.

»Nehmen Sie, gute Frau«, drängte er. »Ausgezeichnete Pfefferminz. Das wird Sie etwas erfrischen. Es ist verdammt heiß, und dazu haben Sie auch noch so schwer zu schleppen.« Er traf zu Bens größtem Mißvergnügen Anstalten, sich in dem Grün am Wegrand niederzulassen und deutete einladend auf das Plätzchen neben sich.

»Es wird Ihnen gut tun, ein bißchen auszuruhen. Bis nach Spittering Farm sind etwa noch zwanzig Minuten, und Sie würden ganz erschöpft ankommen.«

Die Frau ließ sich das nicht zweimal sagen, und gleich darauf saßen sie, hörbar an ihren Pfefferminz-Bonbons lutschend, gemütlich nebeneinander.

Sie seufzte auf und sah Murphy schüchtern und dankbar an. »Sie meinen es sehr gut mit mir, Sir. Unsereiner wird meist nur herumgestoßen und hört kein freundliches Wort. Da tut es einem dann doppelt wohl, wenn man jemanden findet, der ein bißchen Herz hat.« Ihre herben Züge verzogen sich schon wieder, und ihre Hand griff nach dem Taschentuch. »Deshalb werde ich es auch unserer Lady nie vergessen, was sie für mich getan hat. Wenigstens in der Zeit, bevor das Kind kam. Später hat sie sich ja auch nicht mehr um mich gekümmert, aber da hat sie wohl selbst ihre Sorgen gehabt.«

Sie schneuzte sich kräftig, und der gemütvolle Oberinspektor tat es ihr nach.

»Nun, auf Spittering Farm wird ja jetzt alles wieder gut werden«, tröstete er lebhaft. »Und das Kind . . .«

Sie schüttelte trübselig den Kopf und begann wieder zu schluchzen.

»Es ist gestorben, Sir. Noch in der ersten Nacht. Den Armen nimmt der Herr alles«, fügte sie bitter hinzu, »und den Reichen gibt er's. Ich habe meinen Jungen verlieren müssen, und in derselben Nacht hat unsere Lady einen Sohn bekommen. Aber ich will mich nicht versündigen. Lady Margaret hat das nicht um mich verdient.«

»Wer?« fragte Murphy so hastig, daß ihm sein Pfefferminzplätzchen aus dem offenen Mund sprang.

»Lady Shelley«, erklärte die Frau unbefangen. »Ich bin nämlich aus der Ortschaft Stevenford, und wir gehören zu Highgate-Castle. Fanny ist auch aus der Gegend, aber aus Bidington, das zu Highgate-Abbey gehört«, fuhr sie gesprächig fort, als sie gewahrte, mit welch lebhaftem Interesse ihr der freundliche Herr zuhörte. »Unsere Eltern und Großeltern waren bei beiden Herrschaften bedienstet, weil diese nämlich eigentlich . . .«

»Ich weiß«, unterbrach sie Murphy mit wichtigem Gesicht und tätschelte ihre Hand. »Highgate-Castle und Highgate-Abbey, natürlich. Also, aus Stevenford sind Sie. Eine sehr schöne Gegend und sehr brave Leute. Lady Margaret . . .«

Er warf den Köder hin, und sie hing auch schon daran.

»Jawohl, sie ist eine sehr feine und hilfreiche Dame, wenn man auch alles mögliche über sie spricht. Ich weiß das viel besser, denn ich habe ihr gutes Herz kennengelernt. In den letzten Wochen, bevor das Kind kam und ich schon nicht mehr recht arbeiten konnte, hat sie mich fast täglich besucht und mir immer etwas mitgebracht, damit ich bei Kräften bliebe, wie sie sagte. Und auch ihren Arzt aus London hat sie mir geschickt, der jeden Tag nach Highgate-Castle kam, weil es ja auch bei ihr schon bald so weit war. Und der Doktor ist auch der einzige gewesen, der in meiner schweren Stunde bei mir war. Sonst wäre es vielleicht noch schlimmer ausgefallen. Ich bin ohnedies wochenlang krank gelegen, und im Hospital sagten sie, es sei eine Blutvergiftung gewesen.« Sie hatte einen leeren Blick, und die Falten in ihrem mageren Gesicht traten noch schärfer hervor. »Vielleicht war es besser so, denn wenn ich mein Kind, auf das ich mich so gefreut hatte, tot gesehen hätte . . .«

Sie brach jäh ab und merkte nicht einmal, daß der teilnahmsvolle Herr schon wieder ihre abgearbeitete Hand streichelte. Auch Murphy merkte es eigentlich nicht, sondern tat es ganz unbewußt, weil seine Gedanken in wilder Hast ganz eigene und verworrene Wege gingen.

»Das ist nun schon ein paar Jahre her«, sagte er nach einer Weile mit belegter Stimme, und die Frau nickte traurig.

»Fünf Jahre, Sir, fast genau auf den Tag. Aber so etwas vergißt sich nicht so leicht. Und immer, wenn sie in Highgate-Castle den Geburtstag des jungen Herrn feierten, wurde ich doppelt schwer daran erinnert. – Deshalb war ich auch froh, als ich fort konnte.«

Sie fühlte die kleinen tränenfeuchten Äuglein des fremden Mannes mit einem höchst seltsamen Ausdruck auf sich gerichtet und geriet etwas in Verlegenheit. Aber Murphy hatte seine Fassung bereits wiedergewonnen und krabbelte sich schwerfällig vom Boden auf.

»Die Wege des Herrn sind wunderbar, liebe Frau«, sagte er feierlich und salbungsvoll, indem er den Staub von seinen Kleidern klopfte. »Grüßen Sie Ihre Kusine in Spittering Farm, und wenn ich wieder einmal vorbeikomme, darf ich wohl nach Ihnen sehen?«

Die Frau nickte stumm aber eifrig, und der Oberinspektor empfahl sich mit einem herzlichen Händedruck.

Erst vor dem Stationsgebäude schien er sich daran zu erinnern, daß Ben hinter ihm dreintrabte.

»Kennst du so etwas, wie ein besseres Einkehrgasthaus im Ort?« fragte er über die Schulter. »Aber nicht etwa ein Logis für deinesgleichen, sondern eine Unterkunft ohne Schmutz und Ungeziefer.«

Kitson war wegen der unabsehbaren Dauer dieses Morgenspazierganges sehr übel gelaunt und über die ewigen Anzüglichkeiten seines Herrn äußerst gekränkt, und seine Antwort klang daher ziemlich kurz und kühl.

»›Zum tanzenden Delphin‹, Sir.«

Eine Viertelstunde später saß Murphy in dem kleinen Zimmer des Telegrafisten der Bahnstation, kaute heftig an einem Bleistiftstummel und brütete im Schweiße seines Angesichts über einem Depeschenformular. Dann grub er eine Reihe kürzerer und längerer Schattenstriche von verschiedener Dicke in das Papier, aber als er es dem Beamten in die Hand drückte, wußte dieser damit nichts anzufangen.

»Vielleicht lesen Sie es mir noch einmal vor und ich schreibe nach«, schlug er höflich vor, da es sich um einen Mann handelte, der sich mit der gewissen Marke ausgewiesen hatte.

Der Oberinspektor vermochte zwar den Zweck nicht einzusehen, da er sich doch einer besonders deutlichen Handschrift befleißigt hatte, aber schließlich war das nicht seine Sache, sondern der andere mußte wissen, was er zu tun hatte. »Spang, Scotland Yard«, begann er daher langsam und nachdrücklich und setzte dann silbenweise fort: »Hannibal kratzt sich hinterm Ohr und fletscht die Zähne. Heute Nacht elf Uhr sitzt er in Chesterhills fünfhundert Schritte westlich vom Tanzenden Delphin und guckt nach dem Mond aus.«

»Keine Unterschrift?« fragte der Telegrafist mit einem sehr seltsamen Blick, als Murphy zu Ende war.

»Nicht notwendig«, versicherte dieser mit einem liebenswürdigen Grinsen und freute sich über das komische und mißtrauische Gesicht, das er vor sich hatte.

Das Telegramm wurde um elf Uhr acht Minuten befördert, aber es war bereits spät am Nachmittag, als Spang es in die Hände bekam und mit verträumten Augen überflog. Neben ihm stand eine kleine Handtasche aus abgescheuertem Waterproof, denn er war eben im Begriff, eine Reise anzutreten. Er hatte einen sehr heißen Vormittag hinter sich, mit dessen Ergebnissen er allein nichts anzufangen wußte, und er empfand daher eine große Erleichterung, daß Hannibal ihn erwartete.


 << zurück weiter >>