Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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1

»Spang«, fragte Oberinspektor Murphy und wischte sich das Naß aus den Fettpolstern um die schimmernden Äuglein, »lesen Sie denn auch wirklich den ›Sunday-Narrator‹, wie ich Ihnen empfohlen habe? Da ist jetzt wieder eine Geschichte drin« – Murphys dicke Unterlippe zuckte, und er schneuzte sich nachdrücklich – »bei der man aus dem Weinen nicht herauskommt.«

Der Sergeant wollte zwar den Chef wegen einer anderen Sache sprechen, blinzelte aber sofort verständnisvoll und dämpfte seine dünne Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Jawohl, Sir. – ›Der Vampir von Deptford‹ . . .«

»Furchtbar aufregend, was?« schnaufte der gemütvolle Murphy. »Wie das arme Ding von dem verdammten Schurken ausgebeutet wird!«

»Ich glaube, er wird es nicht mehr lange treiben«, tuschelte Spang ebenso erregt. »Höchstens noch zwei oder drei Fortsetzungen. Die Polizei ist ihm ja schon auf den Fersen, und er wird wahrscheinlich gehenkt werden.«

»Unbedingt«, entschied der Oberinspektor mit einem neuerlichen Schneuzer, aber plötzlich bekam sein gerührtes Gesicht einen höchst mißmutigen Ausdruck, und er ließ seine schaufelartige Rechte klatschend auf den geliebten »Sunday-Narrator« fallen.

»Finden Sie es in Ordnung, Spang«, knurrte er, »daß unsereiner erst solche Romane lesen muß, wenn er etwas erleben will? Ich glaube, es ist schon eine Ewigkeit her, daß wir so etwas selbst mitgemacht haben.«

»Ungefähr drei Monate, Sir. Sie wissen, die gewisse Geschichte mit dem desertierten Matrosen, der mit seiner Bande die ganze Umgebung bis hinunter nach Surrey unsicher gemacht hat. Wir sind dann auch im Gefängnishof mit dabeigewesen, und noch auf der Falltür hat er Ihnen eine lange Nase gedreht.«

Murphy erinnerte sich und nickte melancholisch.

»Es war ein schöner Frühlingsmorgen, aber verdammt kalt. Ich habe mir damals einen Schnupfen geholt, den ich wochenlang nicht loswerden konnte. Aber bei solchen Gelegenheiten wird man sich wenigstens bewußt, wozu man eigentlich da ist und hat seine Befriedigung. Armselige Defraudanten und lausige Diebe zu fangen, ist kein Beruf, und etwas anderes gibt es nicht mehr zu tun. – Höchstens noch solche verrückte Geschichten, wie jene in Essex.«

Der Sergeant fand endlich Gelegenheit, anzubringen, weshalb er eigentlich gekommen war.

»Mr. Hearson möchte Sie sprechen, Sir. Er ist aus Chesterhills, und vielleicht hängt es mit dem gewissen Fall zusammen.«

Der Oberinspektor nickte und wackelte einige Male mit seinen fleischigen Ohren, was bei ihm ein Zeichen erwachenden Interesses bedeutete. Er erwartete zwar von dem Besuch nichts Besonderes, aber man konnte schließlich nicht wissen . . . Mr. Hearson, ein gut gebauter Mann von kaum fünfzig Jahren, kam in seiner Eigenschaft als Mitglied des Grafschaftsrates, aber es schien sich doch nicht um den eigenartigen Vorfall zu handeln, der sich dieser Tage in der Nähe seines Wohnsitzes abgespielt hatte.

»Ich muß vielmals um Vergebung bitten, daß ich Sie wegen einer Auskunft in Anspruch nehme«, entschuldigte er sich in seiner überaus höflichen und bescheidenen Art und rückte pedantisch an seiner Brille. »Bei der Grafschaft wissen wir uns jedoch in diesem nicht alltäglichen Fall keinen rechten Rat, und im Ministerium, wo ich eben vorsprach, hat man mich an Sie gewiesen. Ihre besonderen Vollmachten sollen sich ja auch auf unseren Distrikt erstrecken.«

Der schlanke, tadellos gekleidete Herr mit dem Gelehrtengesicht machte eine kleine Pause. Er schien von dem Oberinspektor irgendeine Aufmunterung zu erwarten, aber dieser saß mit einem breiten Lächeln da und drehte beschaulich die dicken Daumen. Es war sein Grundsatz, die Leute vorerst einmal ausreden zu lassen, und sein Besucher schien dies zu erraten, denn er fuhr nun mit geschäftsmäßiger Knappheit fort.

»Die Frage, um die es sich handelt, ist folgende: Ist es bei uns einer Privatperson gestattet, auf ihrem Grund und Boden wilde Tiere zu halten? Wir haben nämlich seit kurzem einen Mann mit dieser seltsamen Liebhaberei in unserer Gegend, und es ist möglich, daß wir uns vielleicht schon heute oder morgen von Amts wegen mit dieser Sache befassen müssen. Selbstverständlich möchten wir dabei nicht gern einen Mißgriff tun.«

Die Ohren Murphys bewegten sich unmerklich, und seine kleinen Augen begannen zu funkeln.

»Wilde Tiere . . .! Schau, schau«, murmelte er überrascht. »Und die läßt er so frei herumlaufen?«

»Das eben nicht«, erklärte Mr. Hearson mit ernstem Gesicht. »Sie sind in einem großen Park in einem regelrechten Zwinger untergebracht, aber . . .«

»Natürlich«, fiel der Oberinspektor verständnisvoll ein, »das will gar nichts besagen. Mit diesen wilden Tieren ist das so eine Sache. Ich habe einmal gelesen, daß zum Beispiel so ein Elefant einen riesigen Baum mit derselben Leichtigkeit ausreißt, wie unsereiner einen Rettich. Da sind ein paar Gitterstäbe für ihn die reinsten Zahnstocher.«

»Es handelt sich um schwarze Panther«, erklärte der Herr aus Chesterhills mit Nachdruck. Murphy ließ ein überraschtes Schnalzen hören und wiegte bedenklich seinen dicken Kopf.

»Auch das noch! Ich habe mir sagen lassen, daß das besonders heimtückische und gefährliche Viecher sein sollen.«

Hearson nickte bestätigend.

»Sehr richtig. Es könnte ein furchtbares Unglück geben. – Ich vertrete daher die Ansicht, daß man die Tiere unschädlich machen sollte.«

Der Oberinspektor war dafür Feuer und Flamme.

»Unbedingt. Sobald sie jemanden gefressen haben, muß man sie schleunigst umbringen. Kurzweg erschießen. Oder noch besser, vergiften. Diese großen Katzen sollen ja ein schrecklich zähes Leben haben!«. Er dämpfte plötzlich seine Schneidigkeit und zog nachdenklich an seiner schwammigen Nase. »Aber das ist eigentlich nicht Sache der Polizei«, meinte er bedächtig. »Davon verstehen wir nichts. Da müßte sich Ihr Sheriff schon einen Tierbändiger oder einen Wärter aus einer Menagerie verschreiben.«

Der besorgte Mr. Hearson war von dieser Auffassung offenbar etwas enttäuscht.

»Sie glauben also nicht, daß schon jetzt irgendwelcher behördlicher Zwang zur Abschaffung der Tiere erfolgen könnte? Es ist doch einigermaßen unverantwortlich, zuzuwarten, bis etwas geschieht.«

»Sehr unverantwortlich sogar«, pflichtete Murphy bei. »Dasselbe sage ich auch immer, weil wir unsere schweren Jungens erst aufknüpfen dürfen, wenn sie einen um die Ecke gebracht haben.«

Der Herr aus Chesterhills zuckte mit den Achseln und machte Miene, sich zu erheben.

»Ich hätte gern einen anderen Bescheid mitgenommen. Unsere Bevölkerung ist nämlich sehr beunruhigt, und ich kann dies nach den letzten Vorkommnissen einigermaßen verstehen.«

Der Oberinspektor wackelte wieder einmal ganz leicht mit den Ohren.

»Haben Sie Vorkommnisse gehabt? Was Sie nicht sagen!« meinte er leichthin, und als der andere ihn mit einem etwas überraschten Seitenblick streifte, begegnete er einem so nichtssagenden, interesselosen Gesicht, daß er ganz verwirrt wurde.

»Ich dachte, daß Sie davon wüßten. Man spricht ja bei uns sogar davon, daß Ihnen der Fall übertragen worden sei. – Die gewisse Sache von dem Schwerverletzten«, fügte er erklärend hinzu, »der vor einigen Tagen bei Kelvedon aufgefunden wurde, aber spurlos verschwunden war, als man ihn bergen wollte.«

Murphy sah einige Sekunden völlig verständnislos drein, dann schlug er sich plötzlich an die breite Stirn, daß es nur so klatschte.

»Richtig«, platzte er triumphierend heraus, um jedoch sofort in einen etwas wehmütigen Seufzer überzugehen. »Mit dem Gedächtnis hatte ich leider schon immer mein Kreuz. Aber wenn man ihm etwas nachhilft, geht es schon. Sie werden sofort sehen.« Er kniff die kleinen Augen noch mehr zusammen und starrte krampfhaft nach der Decke, als ob es dort schwarz auf weiß geschrieben stünde. »Am verflossenen Samstag«, begann er dann den amtlichen Bericht herunterzuleiern, »also vor vier Tagen, kurz nach ein Uhr nachts, stieß eine Straßenpatrouille der Automobile Association etwa eine Meile südwestlich von Kelvedon auf einen verlassenen Wagen. Als der Motorradfahrer anhielt, vernahm er plötzlich aus einem kleinen Gehölz neben der Straße einen wilden Schrei und im selben Augenblick auch einen Schuß. Er eilte der Stelle zu und fand nach etwa hundertfünfzig Schritten einen bewußtlosen Mann mit einer tiefen, schweren Wunde, die vom Hinterkopf bis zur rechten Schulter lief. Der Patrouillenfahrer legte dem Schwerverletzten in aller Eile einen Notverband an und machte sich dann schleunigst auf den Weg, um ärztliche Hilfe und einen Krankenwagen herbeizuholen. Als er in dieser Begleitung nach etwa einer halben Stunde zurückkehrte, war jedoch der so arg zugerichtete Mann nicht mehr aufzufinden, und es ist bisher nicht gelungen, über sein Verbleiben und seine Person irgendwelche Anhaltspunkte zu gewinnen. Nur soviel steht fest, daß er selbst sich nicht entfernen konnte und daß in der fraglichen Zeit kein Auto und auch kein anderes Fahrzeug die betreffende Straßenstrecke passiert hat. Der führerlose Ford-Wagen befand sich noch immer auf seinem Platz, aber er trug keine Nummer und enthielt auch nicht die geringste Kleinigkeit, die einen Schluß auf seinen Besitzer zugelassen hätte. – Nun«, schloß der Oberinspektor und blinzelte seinen Besucher selbstgefällig an, »habe ich die Geschichte im Kopf, ha?«

»Vollkommen«, gab Mr. Hearson verbindlich zu. »Es ist tatsächlich alles, was bisher über den eigenartigen Vorfall bekannt geworden ist. Was sonst noch gesprochen wird, sind natürlich unkontrollierbare Gerüchte. Die Leute entwickeln bei solchen Gelegenheiten immer eine sehr rege Phantasie. So will beispielsweise ein Forstwart in dem betreffenden Gehölz die Fährte von großen Raubtieren entdeckt haben«, – der Herr aus Chesterhills rückte wieder an seiner Brille und lächelte nachsichtig – »und es sind nun die wildesten Gerüchte im Umlauf. Man lebt in einer geradezu panikartigen Furcht, und niemand traut sich mehr aus seinen vier Mauern.«

»Diese verdammten Löwen!« knurrte Murphy verzweifelt, aber Hearson verbesserte ihn höflich.

»Panther. Schwarze Panther.«

»Selbstverständlich. Ich habe mich nur versprochen. Das passiert mir öfters. Und schließlich ist es ja auch ganz egal, ob den Mann Löwen oder Panther verspeist haben. Jedenfalls ist er weg, und wir haben nun die Scherereien. Ich werde wohl selbst einmal hinschauen müssen, obwohl ich kein Freund von solchen Landpartien bin. Aber mit den Bestien möchte ich nicht in Berührung kommen. Wo sind sie und wem gehören sie?«

»In Spittering Farm. Der Besitzer dieses alten Landhauses soll ein gewisser Aubrey Rayne sein. Er hält sich aber, soviel ich weiß, die meiste Zeit in London auf, und draußen haust ein Mann, der sich Forge nennt. Ich kenne aber weder den einen noch den anderen persönlich und vermag leider keine weitere Auskunft zu geben.«

Einige Minuten, nachdem Mr. Hearson aus Chesterhills sich empfohlen hatte, veränderten sich die Züge des Oberinspektors mit einem Schlag, und er sah mit verkniffenen Augen und gespitzten Lippen vor sich hin. Dann holte er aus seiner dickleibigen Brieftasche einen arg zerknitterten und verwaschenen Papierfetzen hervor und betrachtete ihn zum soundsovielten Male innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden eingehend von allen Seiten. Dieses verschmutzte Stückchen Papier war so ziemlich die einzige Ausbeute der Nacht, die er geopfert hatte, um sich völlig allein auf dem Schauplatz der rätselhaften Begebenheit in Essex umzusehen. Er wußte aber zur Stunde noch immer nicht, ob sein Fund mit dieser Sache überhaupt zusammenhing. Das segmentförmige Schnitzel war offenbar vom Rand eines Schriftstückes abgerissen, und nur die unverkennbaren Blutspuren gaben ihm einige Bedeutung. Die wenigen zusammenhängenden Worte in Maschinenschrift, die es enthielt, waren völlig belanglos, und bloß die deutlich lesbare Stelle » . . . der kleinen Lady mit der Pantherkatze . . .« gab Murphy plötzlich zu denken.

Wenn er dazu noch das sorgfältig ausgestochene Lehmstück mit dem ungewöhnlichen Fährtenabdruck nahm, das er ebenfalls von seinem nächtlichen Ausflug mitgebracht, und die Angelegenheit, die den ängstlichen Mr. Hearson aus Chesterhills eben zu ihm geführt hatte, so fand er, daß es um ihn mit einem Male von unheimlichen Großkatzen wimmelte.


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