Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Jakob Wassermann

Die Juden von Zirndorf

Roman

 

 

1918

S. Fischer, Verlag
Berlin – Wien


 
Dem Andenken meines Vaters
 


Vorspiel

Gemächlich schwebt die Zeit hin über die Länder und über die Geschlechter, und wenn sie auch Städte zertritt und Wälder zerstampft und neue Städte und neue Wälder hinwirft mit gleichgültiger Gebärde, so vermag sie doch dem heimatlichen Boden niemals seine Lieblichkeit zu rauben oder seine Rauheit, kurz jene Gestalt und jenes Antlitz, womit die Heimat ihren Sohn erfüllt, indem sie ihn gleichsam als ihr Eigentum in Anspruch nimmt und ihm auf den Weg seines Lebens die Worte ins Herz sät: aus meinem Ton bist du gemacht.

Die süße und einschmeichelnde Linie des Horizonts, die von den Mauern Nürnbergs über Altenberg nach der Kadolzburg zieht, hat sicherlich im Lauf der Jahrhunderte keinerlei Veränderung erlitten; es sei denn, daß ein gewitterreicher Sommer eine einsame Pappel gefällt, oder daß eine ungestüme Überschwemmung einen stillen Fichtenhain mit fortgerissen hätte. Dort, wo Rednitz und Pegnitz zusammenfließen, haben freilich die letzten zweihundert Jahre den Flor der Wälder vernichtet, aber weiter hinüber, jenseits der alten Veste mit ihren Steinbrüchen und ihren dunklen Tannen, dehnt sich der fränkische Gau seit Urandenken als eine weite, breite, friedliche, fruchtbare Ebene, wo das Korn gedeiht und die Kartoffel gedeiht und der Mohn blüht und die weiße Rübe reift.

Aber in jenem Winkel zwischen den beiden Strömen haben die Kriege des siebzehnten Säkulums dem natürlichen Schmuck des Bodens gar sehr Abbruch getan. In den dreißiger Jahren befand sich hier das große Lager der Schweden, und der geängstigte Bauer fand seine Äcker mit Blut gedüngt. Schnellfüßig hastete der Kriegsschrecken durch Franken, und die kurfürstlich Onolzbachischen und die Nürnbergischen sahen sich gleicherweise gedrängt, Mut und Gottvertrauen nicht fahren zu lassen. Lange Jahre gingen hin, bis die zertretenen Felder wieder zu ihrer natürlichen Fruchtbarkeit erstarkten, und selbst nach dem Friedensschluß lag noch manches Stück Land verödet. Überall zeigten sich Spuren frecher Feindeshände. Unweit der Kapelle Karls des Großen, die am Schießanger in Fürth steht, ragt ein mächtiger Steinhaufen in die Höhe, und man sagt, die Schweden hätten ihn aufgerichtet als ein Wahrzeichen ihrer Siege: nämlich jeder Stein bedeutet ein geplündertes Haus. Langsam entfaltete sich der Frieden wieder; schüchtern wuchs er heran und sah mit ungläubigen Augen ins ebene Land der Regnitz hinauf. Das Volk begann zu vergessen, und es kam die Zeit, wo schon die Väter und die alten Veteranen von den Schrecken der Schlacht erzählten, und sie ließen sich die Mühe nicht verdrießen, die erlittenen Fährlichkeiten phantasievoll auszuschmücken, und was sie an Heldentaten von andern vernommen, sich selbst zuzuschreiben. So war es Kriegerbrauch seit Kriege bestehen, und auch die von Franken waren mit ihrer Zunge mehr Helden als mit ihrem Arm. Der Krieg gewinnt an Buntheit und an Froheit, wenn ihn die Jahre fortgetragen haben, und gar mancher erzählt schmunzelnd von denselben Gräueln, die ihn einst erzittern ließen bis in seine tiefste Seele.

Auf jenem Schwedenstein bei der Kapelle befand sich unter vielem andern Gemäuer ein gut zubehauener Granitblock, welcher mit seltsamen und fremdländischen Lettern bemalt war. Es war eine jüdische Inschrift auf einem Grabmonument; die Schweden hatten ihn vom Gottesacker der Juden gestohlen und ihn mitten unter die Steine rechtgläubiger Christen geworfen. Kein Christ wagte es aber, den Stein zu entfernen, denn ein großes Befremden ging von seinen verschnörkelten Lettern aus und sie hatten Furcht, daß sie dem Bann eines Zauberspruchs verfallen möchten, wenn ihre Hand den verruchten Judenblock berührte. Mehr als drei Jahrzehnte lag der Grabstein so; wollte man seine Inschrift in die Sprache jener Zeit übersetzen, so lautete sie: »Der schöne Joseph, den man nur gern angesehen, unsere Augen-Lust ist nicht mehr vorhanden. Jetzt sind ihm Gabriel und Michael als Hüter zu seiner rechten und linken Hand zugegeben worden. Die Jahre seines Lebens waren wenig und boeß. Er brachte sie nicht höher als auf siebzig. Er war ein solcher Regent, der wie Barak und Deborah das Volk mit großem Ruhm regieret. Er suchte seine Lust in dem Studieren, sein Sterben war wie seine Geburt, nemlich ohne Sünde. Als seine Seele am fünften Tag in der Woche von ihm geschieden, hörte man Heulen und Weinen. In Bamberg ist er freudig gestorben, den achtundzwanzigsten Tag des Sivans. Jetzt ist dies die Zeit, da wir vor Jammer und Herzeleid unsere Kleider zerreißen und unserer Augen Tränen fließen lassen. Nach seinem Abscheiden hat man ihn zu Fürth zur Grabesruhe gebracht. Seine Seele soll gebunden sein in das Bündelein der Lebendigen mit der Seele Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Sara.«

Lange Zeit hindurch war es der Kummer der Juden, einen Stein aus ihrem Heiligtum solcher Entweihung preisgegeben zu wissen. Sie glaubten, die Seele des schönen Joseph, des Naphtali Sohn, hätte keine Ruhe und wandle allnächtlich klagend zum Schwedenstein. Denn auch sie wagten nicht, den Stein zu entfernen, weil der Schwedenstein als eine Art von Friedens-Symbol galt, und jede Beschädigung einer Vorbedeutung neuen Krieges gleichgeachtet wurde. Schwer trug der Bürger und der Bauer noch an Kriegeslasten, und viele ließen vom Pfaffen ein Bittgebet um langen Frieden sprechen.

So stand also das Grabmal der Juden unter ungleichartigen Genossen wie ein Fremdling aus weiter Ferne. Es sprach eine unbekannte Sprache und seine edlere Form ließ es zu besserem Dienst berechtigt erscheinen. Es blickte nicht hinaus auf die Ebene, sondern sah herein gegen die niederen Häuser und in die krummen, winkeligen Gassen von Fürth. Unfern rauschte der Fluß hinunter ins Bistum Bamberg, und wenn er im Herbst die gelben Fluten zum Uferrand und noch weit darüber hinauswälzte, so mußten bisweilen einige Linden am Schießanger ihr Leben lassen. Das Wasser brach sie wie dürre Zweiglein und trieb sie ins Mainland hinab, innig gesellt mit Balken und Astwerk und Hausgeräten und allerlei spaßhaften Dingen, die der wildgewordene Strom aus der Stadt Nürnberg mit sich führte.

Wenn der Stein des schönen Joseph an Gottesfrieden verlor, so gewann er hingegen an Weltweisheit und Kenntnis der Dinge und Menschen. Ernst besah er sich das Treiben der Leute, die um ihn herumwandelten wie Sperlinge um einen gedeckten Tisch; Gewitter und Schneegestöber, Regen und Sonnenhitze, er hielt sie mit gleicher Geduldigkeit aus, und wenn die sanfte Nacht seine graue Stirn beschattete, so schien darauf noch ein süßer Abglanz der letzten purpurnen Sonnenröte zu haften oder ein Vorglanz des kommenden Morgenrots. Denn die Sonne strahlt diesem Erdstrich beim Aufgang und beim Niedergang mit einer unerhörten Glut, was die Gelehrten dem Dünstereichtum des Landes zuschreiben.

Fest, Tanz und Kirmesspiel waren von jeher üblich bei den Fränkischen, die einen leichten Sinn haben und ihre Pfennige gern zum Schenkwirt tragen. An einem Kirchweihtag im Oktober, siebzehn Jahre nach dem großen Friedenspakt, – das Volk jubelte auf dem Schießanger, zum Tanze schwangen sich die Mädchen und lustige Weisen spielten die Zigeuner und Spielleute – ging ein alter Mann, nachdem er lange Zeit nachdenklich vor der jüdischen Inschrift am Schwedenstein gestanden, gegen den Anger zu. Der Abend sank schon herab und der Himmel war von einem matten Rot getränkt. Blaue Schatten fielen auf den rauschenden Fluß, Schmiedehämmer tönten von fernen Gassen her, und der schrille Laut verklang erst weit draußen in den Wiesen. Dann setzte wieder die Musik ein: Orgel und Fiedelbögen, die Maultrommel und die Wasserpfeife. Die Buben lachten und sprangen wild um die alten Bäume, und die Mädchen hatten glänzendere Augen an diesem festlichen Tag. Die Nürnberger Kaufleute boten niegesehene Waren aus, und Seiltänzer, Taschenspieler und Zigeuner versprachen Wunder ihrer Kunst zu bieten. Als die Dämmerung herabsank, wurden Pechfackeln an die Stämme und die fahrenden Häuser der Komödianten befestigt, und der schwere braune Rauch erhob sich in weiten Wellungen, zog hinüber gegen den Strom, zog über die Wiesen hin, und einzelne Funken sprangen knisternd in die Lindenäste. Die dumpfe Glut gab den Gesichtern der Menschen ein abenteuerliches Farbenspiel und die Sterne am Himmel verblaßten für jeden, der sich in dem trüben Lichtkreis befand. Der alte Jude hielt die rechte Hand wie einen Schirm über die Augen und blickte finster und forschend in das heitere Getümmel. Sein Gesicht war von grünlich-weißer Färbung und ein roter Bart floß mager um Wangen und Kinn, so daß er nur eigentlich eine Art von Rahmen bildete und dem Gesicht etwas Fremdes, etwas erschreckend Deutliches verlieh. Die braunen Sterne seiner Augen irrten unruhig in dem geröteten Weiß umher, und bisweilen erweiterten sich die Pupillen rasch wie die eines Raubtieres. Es waren Judenaugen: voll Hast, voll Unfrieden, voll von unbestimmtem Flehen, von einer gedrückten Innigkeit, bald in Leidenschaft flackernd, bald in Schwermut alle Glut verlierend, die Augen des gehetzten Tieres, das angstvoll und kraftlos die Blicke dem Verfolger zuwendet, oder in bebender Sehnsucht hinausstarrt in das ferne Land der Freiheit. »Das Volk ist wild,« murmelte er, »da tanzen sie und blasen Schalmeien und morgen schon wird Gott ein Gericht halten.« Er blieb stehen, verbeugte sich tief nach Osten und lispelte ein kurzes Gebet durch die schmalen Lippen.

Unter den Linden des Angers tanzte ein Zigeunermädchen einen wunderlichen Tanz und zwei Burschen spielten die Geige dazu. Eine Menge von Zuschauern hatte sich im weiten Kreis versammelt und alle waren atemlos vor Schaubegierde. So war es immer in den Tagen Remigius, Leodegar und Lukretia in Fürth; die Menschen erwachten aus dem drückenden Traum ihrer Sorgen und dünkten sich freigeboren und glückbestimmt einmal im Jahr.

Nach der Zigeunerin kam ein junges Mädchen von großer Schönheit langsam in die Mitte des Kreises. Sonderbar irrten schmale Schatten auf ihren bleichen Wangen und auf ihrer Stirn, und sie war schlank wie jene Frauen, die man zu Florenz malte. Ein langes Gewand floß an ihrem Leib herab, und sie begann, ohne die Arme zu bewegen, ohne die Augen vom Boden zu erheben, mit klagender Stimme ein Rezitativ:

Ich weiß nicht, wo's Vöglein ist,
ich weiß nicht, wo's pfeift.
Hinterm kleinen Lädelein,
Schätzlein, wo leist?

Es sitzt ja das Vögelein
nicht allweil im Nest,
schwingt sein Flügelein,
hüpft auf die Äst'.

Wo ich gelegen bin,
darf ich wohl sagen.
Hinterm grün Nägeleinstock
Zwischen zwei Knaben.

Doch sang sie diese Worte leise und melancholisch. Ihre Lippen zitterten und sie senkte den Kopf tief gegen die Brust. Der Harlekin kam und äffte sie, aber sie blieb starr wie eine Bildsäule; er begann an ihr herumzuschnuppern und erklärte endlich grinsend, das sei ein feines Aschenputtel für sein Ehegespons. Er wollte sie umfassen und davontragen, da kam ein Ritter in glänzender Rüstung, um sie zu befreien. Der Hanswurst verwandelte sich und stand nun in seiner wahren Gestalt da: als der Teufel. Er kämpfte mit dem Ritter und als er nahe daran war, zu siegen, zog jener ein elfenbeinernes Kruzifix heraus und hielt es dem Bösen hin. Der Satan stieß ein schreckliches Geheul aus und sprang in großen Sätzen davon.

Da trat aus einer Lücke in dem Kreis der Zuschauer der alte Jude, stieg über die niedrige Planke hinweg und sein langer Kaftan flatterte im Abendwind, als er auf das blasse Mädchen zuschritt. Sie schlug ihre Augen zu ihm auf und schüttelte sich plötzlich wie im Fieberfrost; seine Blicke bohrten sich gleich Nadeln in sie ein und sie las etwas in dem flackernden Feuer dieser Augen, das lange schon ihre Seele mit grüblerischer Furcht erfüllt hatte. Es war, als ob ihre Seele auf einmal von frühen Erinnerungen der Kindheit ergriffen würde und darüber erschüttert wäre. Der rotbärtige Jude hatte seine Finger um ihren Arm gelegt, daß sie wie Spangen sich schlossen, und er blickte sie unverwandt an, als ob er einen Wunsch, einen unwiderstehlichen Befehl tief in ihr Herz zu senken wisse, so daß kein Wesen daran zu rühren vermochte. Die Musik schwieg, der Lärm in der nahen Runde dämpfte sich zum Gemurmel, viele empfanden ein zielloses Grauen, viele nur Neugier und Erwartung. Den Fluß hörte man rauschen, der Wind strich durch die Bäume; er warf gelbe Blätter herab und eine leichte Kühlnis ging herbstahnend über den Anger. Der Jude beugte sich nieder und murmelte in des Mädchens Ohr: »Gedenkst du noch an den Feuerbrand in deiner Heimat, Zirle? An den Vater, an die Mutter, an die Brüder und an alle andern, die tot sind? Zirle, denkst dus noch?« Tränen flossen über des Mädchens Wangen und es schaute völlig verloren in eine vergangene Nacht. Und der Alte fuhr fort: »Um die Mitternacht des nächsten Vollmondes mußt du zu mir kommen; du wirst Zacharias Naar zufinden wissen, wo es auch sei. Den Messias verkündige ich, dem die geheimnisvollen Tiefen der Wesenheiten offenbar geworden sind.«

Ein unwilliges Murren erhob sich über die Störung des Festes und der Fröhlichkeit. Zacharias Naar wandte sich ab von dem Mädchen und schritt bald darauf langsam dem Ausgang des Angers zu. Niemand kannte ihn, alle wichen ihm aus und schnell lief ein Wort von Mund zu Mund: Ahasverus. »Ja ja, er laufft umher wie der tolle Judt,« sagte ein verschrumpftes Weiblein und schnüffelte mit der dünnen Nase in der Luft umher. Sie wisse einen Spruch, erzählte sie mit klirrender Stimme den jungen Leuten, die sie umstanden:

Der Jud' Ahasverus weit und breit
vor alters und vor dieser Zeit
bekannt, geht nun durch alle Welt,
red't alle Sprachen, veracht' das Geld.
Was er von Christo reden tut,
kannst hören hie, doch mit Unmut.
Veracht' ihn nicht, laßt wandern ihn,
weil Gott ihm geben solchen Sinn:
daß er von Christo, seinem Sohn,
red't alles Guts und ohne Hohn.
Ihn zehret ungemessne Pein,
es ängstet ihn der Sonnenschein,
dein Urtel, wie es auch mag sein,
laß Gott, der kennt das Herz allein.

Zacharias Naar schritt durch die dunklen Straßen des Orts zum Tempel der Juden. Dort war noch Gottesdienst, denn es war der Vorabend des Versöhnungsfestes. Bald stand er unbeachtet unter der Menge der Gebete Murmelnden, den Tallis um die Schultern, und starrte mit glühenden Augen gegen den Altar. Keine friedliche Feststimmung herrschte in diesem Raum. Jeder schien seinem Gott für sich zu dienen, und bisweilen entstand ein unbestimmter Lärm, in dem sich eine schreiende oder keifende Stimme abhob. Ein dumpfer Höhlengeruch erfüllte das Gotteshaus; es roch nach altem Leder, nach alten Gewändern, nach Rauch und faulem Holz. Kinder standen umher und glotzten mit stumpfsinniger Andacht in Bücher mit gebräunten Blättern. Der Raum glich einem unterirdischen Gemach für Verschwörer, einer Büßerklause für Asketen; nichts von Lebensfreude und nichts von Gottesfreude war hier zu finden. Die Lichter qualmten und wer aus freier Luft hereinkam, glaubte alsbald in eine schwül-qualmende Schlucht zu versinken.

Das letzte Kaddisch war beendet; alle rüsteten sich zum Aufbruch. Da schritt Zacharias Naar dem Altar zu und erhob die Hand: ein Zeichen, daß er zu reden wünsche. Es wurde still und aller Augen wandten sich dem Fremdling zu. Der begann, – nicht laut und scheinbar mehr für sich selbst. Er sprach zuerst in hastig hingeworfenen Worten von der Niedrigkeit und Erbärmlichkeit des jüdischen Volkes; von der Unterdrückung, die es erlitten, und von der Zerstreuung in alle Teile der Welt. Dann, als er gewiß war, daß alle aufmerksam lauschten, wurde seine Stimme lauter, sie verlor den belanglosen Ton und seine Augen begannen zu blitzen. Er rief den alten Gott der Juden an, der Verheißung auf Verheißung gehäuft und die Armut über sein erwähltes Volk geschüttet habe und die Qualen der Heimsuchung, ärger als zur Zeit der ägyptischen Plagen. Es wurde totenstill. Selbst die Mauern schienen zu lauschen und die Worte mit Begierde einzusaugen. Der Redner fuhr fort: »Der Zorn des Herrn ist entbrannt wider sein Volk, und er streckt seine Hand aus und er schlägt es, so daß die Berge erzittern und ihre Leichen wie Kehricht auf den Straßen liegen. Haben sie uns nicht beschuldigt: ihr vergiftet unsere Brunnen? haben sie nicht unsere Brüder hingeschlachtet zu Tausenden? Haben sie nicht geschrien: ihr nehmt das Blut unserer Kinder zum Opfer beim Passahfeste? Ihr nehmt das Blut und braucht es für euere schwangeren Weiber? haben sie uns nicht ausgewiesen aus ihren Städten und unsere Häuser verbrannt? und unsere Güter geraubt? Müssen wir nicht vogelfrei dahinwandern und viele finden keine Hütte, wie Kain, der seinen Bruder erschlug? Haben sie uns nicht aufs Rad geflochten und den Henkern im Land preisgegeben wie krankes Vieh? nicht unsere Kinder verbrannt, nicht unsere Weiber geschändet und als die Pest kam, nicht schlimmer unter uns gewütet, denn die Pest? Bei alledem hat sich der Zorn des Herrn nicht gewandt. Doch jetzt, jetzt wird er ein Panier aufrichten dem Heidenvolk aus der Ferne und wird ihm pfeifen vom Ende der Erde und siehe, eilends, flugs kommt es. Kein Matter und kein Strauchelnder ist darunter; nicht gibt es sich dem Schlummer noch dem Schlafe hin; auch springt nicht der Gurt seiner Lenden, noch zerreißt der Riemen seiner Schuhe. Die Hufe seiner Rosse sind wie Kiesel zu achten und seine Räder wie der Sturmwind. Gebrüll hats wie die Löwin und brüllt wie die jungen Löwen und knurrt und packt den Raub und trägt ihn davon und niemand vermag zu retten. Und es wird über Juda dröhnen wie Meeresdröhnen und blickt er auf das Land hin, siehe da ist angsterregende Finsternis und das Licht ward dunkel in dem Gewölbe darüber. Nahet euch, ihr Heiden, um zu hören, und ihr Völker, merket auf! Es höret die Erde, was sie erfüllet, der Weltkreis, und alles, was ihm entsproßt. Denn einen Groll hat der Herr auf alle Heiden, er hat sie bestimmt für die Schlachtung und ihre Erschlagenen werden hingeworfen, und ihre Leichen, – aufsteigen soll ihr Gestank, und es sollen die Berge zerfließen von ihrem Blut. Die Sterne sollen zerbröckeln und wie ein Pergamentum soll der Himmel zusammengerollt werden. Aber unsere Trift soll lustig sein, frohlocken soll unsere Steppe und blühen wie die Narzisse. Sie soll blühen, ja blühen und frohlocken, frohlocken und jubeln! Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt und die Pracht des Karmel. Stärkt die erschlafften Glieder und die wankenden Knie macht fest! Sagt zu denen, die bekümmerten Herzens sind: seid stark! Aufgetan werden die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben geöffnet! Dann wird wie ein Hirsch der Lahme springen und jubeln die Zunge des Stummen. Denn seht: ein Mann ist aufgestanden in der kleinasiatischen Stadt Smyrna, das ist der wahre Messias und das Himmelreich ist nah! Ja, ich sehe eure Blicke leuchten und eure Hände beben! Habt ihr ihn nicht rufen hören von den Gestaden des Mittelmeers? Ein neues Erlösungswerk geht ihm voran und Olam ha Tikkun wird erstehn. Das göttliche Wesen hat er allein erkannt, er, Sabbatai Zewi![Sabbatai Z'wi, jüd. Pseudo-Messias und Kabbalist, geb. 23. Juli 1626 in Smyrna, gest. 30. Sept. 1676 in Dulcigno, stand, nachdem bereits im 16. Jahrh. die Lehren des großen Kabbalisten Isaak Lurja und seiner Schule in Italien, Polen und darüber hinaus Verehrer gefunden hatten, als Messias zuerst im Kreis von Freunden auf (1648) und brachte so in das Leben der orientalischen Juden eine weitgehende Bewegung, die zuerst den Sabbatäismus, dann im 18. Jahrh. den Chasidismus und die Sekte der Frankisten erzeugte. Seinem ersten Auftreten in seiner Vaterstadt machte der Bann des dortigen Rabbinats ein Ende. Sabbatai wandte sich, unterstützt und begleitet von dem angeblichen Propheten Nathan aus Gaza, nach Jerusalem und Ägypten, bis er schließlich 1666 als allgemein bejubelter Messias in Smyrna einzog. Die türkische Regierung nahm ihn darauf in Konstantinopel gefangen und ließ ihn in das Dardanellenschloß Abydos abführen. Von Nehemias Kohen, der in Polen die Ankunft eines Messias verkündet hatte, der türkischen Regierung von neuem denunziert, sah Sabbatai sein Leben bedroht und trat zum Mohammedanismus über, erhielt den Namen Mehemed Efendi und ward zum Kapidschi-Baschi (Kammerherr) ernannt. Als er später seine Messiasrolle wieder aufnahm, ward er nach Dulcigno in Albanien verbannt. – (Zitiert nach Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905)] Sammelt euch, Brüder, richtet euch empor, richtet eure Weiber empor, lehrt eure Kinder seinen Namen aussprechen und eure Waisen tröstet mit seinem Wort! Im Jahre fünftausendvierhundertundacht der Welt begann die Erlösungszeit zu tagen, und in diesem Jahre hat sich Sabbatai Zewi uns offenbart. Wunder über Wunder hat er verrichtet und die Juden des Morgenlandes jauchzen ihm zu.«

Ein furchtbarer Tumult unterbrach den Redner. Lange schon war die Kunde von dem Ereignis nach Franken gedrungen, aber stets waren es nur dunkle Laute gewesen, geheimnisvolle Andeutungen: von wandernden Mönchen, von wandernden Juden oder von Zigeunern hergetragen. Es war nur das dumpfe Geräusch eines sehr fernen Wetters gewesen, das die Gemüter wohl in nächtlicher Stille und Träumerei zu ergreifen vermag, aber das Licht des Tages machte zweifeln und ungläubig. Zum ersten Male nun war es wie ein Trompetenstoß in die Ohren der Juden gefahren, wie ein heller, schmetternder Schlachtruf, wie ein Klirren von tausend Schildern und Schwertern, ein Auferstehungsschrei. Es wurde leuchtend um ihre Augen, rings herum ward es Tag, das bange Los der Unterdrückung schien dem Ende nahe: Sonne, Freiheit, göttliches Auserwähltsein zu großen Dingen, Glanz und Freudigkeit und verzückte Sehnsucht, – eine wundervolle Erfüllung tausendjähriger Glaubensdienste. In ihre bedrückten Seelen fuhr es wie der Aufruf zu einer neuen Weltordnung; Knaben sahen sich zu Männern geworden, Männer ballten ihre Fäuste und es rieselte ihnen kalt und heiß über den Rücken. Und als der erste Taumel sich gelegt, drängten sie sich um den Fremden, bestürmten ihn um Einzelheiten und lauschten, lauschten. Vergessen war die Stunde der Heimkehr, vergessen die Gebote des Fasttags; die Weiber drängten sich aus ihren Verschlägen und hörten mit erhitzten Wangen zu. Sie sahen ihn in ihrer Phantasie lebendig werden, den geheimnisvollen Propheten von Smyrna, der am hellen Tag der Geschichte wie ein glühendes Meteor hinwandelte und, ergriffen von lurjanischer Mystik, das Ende der Zeitalter herbeizuführen glaubte. Zacharias Naar erzählte, versunken und hingegeben gleich einem Träumenden: wie Sabbatai seinen Leib kasteite und Sommer und Winter, bei Tag oder bei Nacht im Meer badete. Wie sein Leib vom Wasser des Ozeans einen Wohlgeruch erhielt und sein Auge klar davon wurde. Niemals hatte er ein Weib berührt und obwohl er zwei Frauen vermählt worden war, mied er sie und verstieß sie bald. Ernst und einsam war sein Wesen, und er hatte eine schöne Stimme, mit der er die kabbalistischen Verse oder seine eigenen Poesien sang. Das Jahr sechszehnhundertsechsundsechzig bezeichnete er als das messianische Jahr; den Juden sollte es eine neue Herrlichkeit bringen und sie sollten nach Jerusalem zurückkehren. Seine Seele ergab sich jauchzend dem süßen Rausch des Gottesbewußtseins. Man hatte ihn von Smyrna verjagt, aber da brach das glimmende Feuer zur verheerenden Flamme aus: seine Demütigung war seine Größe geworden und seine Verklärung. Er ließ zu Salonichi ein Fest bereiten und vermählte sich in Gegenwart seiner Freunde feierlich mit der heiligen Schrift: Thora, die Himmelstochter, ward mit dem Sohn des Himmels in unzertrennlichem Bund vereinigt. Fünfzig Talmudisten speisten an seiner Tafel und kein Armer ging hungrig von seiner Türe. Er vergoß Ströme von Tränen beim Gebet, und nächtelang sang er bei hellem Kerzenlicht die Psalmen. Er sang auch Liebeslieder. Er sang das Lied von der schönen Kaisertochter Melliselde:

Aufsteigend auf einen Berg
und niederschreitend in ein Tal,
kam ich zur schönen Melliselde
in des Kaisers Krönungssaal.
Mild kam sie einher
mit flutendem Haar
und ihr Antlitz milde,
süß ihre Stimme war;
ihr Antlitz glänzte wie ein Degen,
ihr Augenlid wie ein Bogen von Stahl,
ihre Lippen waren Korallen,
ihr Fleisch wie Milch so fahl.

Die Kinder folgten ihm auf den Straßen, indes die Mütter seinen Namen lobpriesen. Er ließ verkünden, daß er vom Flusse Sabbation aus die zehn Stämme nach dem heiligen Lande führen werde: auf einem Löwen reitend, der einen siebenköpfigen Drachen werde im Maule haben . . .

Wie von einem ergreifenden Zauber umschlungen, wanderten die Juden nach Hause. Das Fieber der Erwartung hatte sie gepackt, das von Land zu Land floß wie ein berauschender Strom. In dieser Nacht konnte keiner schlafen.

Man sagte damals, der Herr der Welten öffne seine Tore, den Propheten zu empfangen, oder er pflücke die Sterne vom Himmel, als wären es Trauben am Rebstock, das Volk sähe ein edles Licht, und die Todesschatten verschwänden neben ihm; hinabgestürzt sei die Pracht der Könige und das Rauschen ihrer Harfen; der Prophet steige zum Himmel empor und oberhalb der Gestirne errichte er seinen Thron; viele Stimmen schrien zu ihm empor: Wächter, wie weit ists in der Nacht? Da verkündete er schon das Morgenrot. In seiner Nähe gab es nichts alltägliches mehr, der Fürst schien dem Bauer gleich, der Bettler dem Richter, keine liebende Hand streckte sich dem Kranken hin, und es war erhaben, alle Pein der Kasteiung zu erdulden und der aufgehenden Gnadensonne zerknirscht entgegenzuwinseln. Die Schule der Kabbalisten glaubte die Verkündigung klarer zu verstehen. Aus dem göttlichen Schoß hatte sich die neue göttliche Person entfaltet, der wahre König, der Messias, der Erlöser und Befreier der Welt und die Herrschaft des Metatron ist zu Ende. Es steht aber im Buche Sohar, sagten sie: Metatron ist das erste der Geschöpfe, der Abglanz Gottes; er ist die mittelste Säule, die das Himmlische vollkommen macht; er ist das Vereinigende in der Mitte. Denn der wahre Messias ist der verkörperte Urmensch, der Adam Kadmon der Schrift, ein Teil der Gottheit.

Der Tag brach an, ein trüber und dunstiger Herbstmorgen. Kühler trockner Wind ging durch die Gassen. Die christlichen Einwohner waren verwundert über das aufgeregte Wesen der Juden. Der Rabbi Bärmann rannte bleich von einem Haus ins andere. Der Rabbi Salman Klef stand, ein vergilbtes Pergament lesend, stundenlang vor seinem Haus. Salman Ulman Käsbauer rief mit lebhafter Stimme nach dem Fremdling von gestern. Hutzel Davidla hinkte nachdenklich umher und Boruchs Klöß wurde nicht müde, an den heiligen Fasttag zu erinnern und daß man zur Schul gehen müsse. Gegen neun Uhr kam ein staubbedeckter Bote aus der Richtung der Stadt Nürnberg. Er brachte ein Sendschreiben. Michel Chased, der Chassan, nahm es entgegen und die Juden, Männer, Weiber und Kinder in stets wachsender Anzahl, sammelten sich um ihn, als er mit lauter Stimme vorlas. Das Schreiben kam von dem berühmten Samuel Primo, einem Jünger des Sabbatai, und lautete: »Der einzige und erstgeborene Sohn Gottes, Sabbatai Zewi, Messias und Erlöser des jüdischen Volkes, bietet allen Söhnen Israels Frieden. Nachdem ihr gewürdigt worden seid, den großen Tag und die Erfüllung des Gotteswortes durch den Propheten zu sehen, so müssen eure Klagen und Seufzer in Freude und eure Fasten in frohe Tage umgewandelt werden. Denn ihr werdet nicht mehr weinen. Freut euch mit Gesang und Lied und verwandelt den Tag der Betrübnis und der Trauer in einen Tag des Jubels, weil ich erschienen bin.«

Ein Todesschweigen folgte diesen Worten. Die Zumutung des Propheten war für dies Volk, das mit unerschütterlichem Fanatismus am Hergebrachten, am überlieferten Gesetz hing, etwas Furchtbares und Unerhörtes. Wolf Käsbauer wurde weiß wie Schnee und stotterte ein hebräisches Gebet. Viele andere, besonders Frauen, beteten ihm nach. Aber es waren doch auch solche da, die von Mut erfüllt waren für die neue und große Sache. Sie riefen Hallelujah und ihre Augen leuchteten dem Kommenden froh entgegen. Der Messias, weil er so fern war, wuchs ins Unermeßliche vor ihren Augen, sein Haupt stand golden in den Morgenwolken, ihre Seele war ausgefüllt von ihm, weil der Druck niederer Dienstbarkeit auf ihnen lastete, die Verachtung eines ganzen Volkes, einer ganzen Welt. Tagelang wohnte eine dumpfe Angst über den Juden in Fürth; sie wagten nicht aus ihren Häusern zu gehen, sie ergaben sich ganz den Gefühlen der Zerknirschung oder der Erbitterung oder der Reue oder der Hoffnung.

Da kam am zweiten Tage nach dem Fest die Kunde aus Norden, der berühmte Hamburger Jude Manoel Texeira, der Vertraute der Königin Christine von Schweden, habe sich öffentlich in der Synagoge für den Messias erklärt. Aus Amsterdam, aus London, aus Prag, aus Mainz, aus Frankfurt und aus Wien gingen Huldigungen an den Propheten ab, und seltsame Zeichen am Himmel machten auch den Christen das Herz schwer. Der Jude Wassertrüdinger in Fürth, genannt Weiber-Lambden, der bei schwangeren Weibern herumging und mit lauter Stimme Gebete las, sah nämlich am Samstag Abend, dem ersten des Monats Tibeth, einen großen anwachsenden Feuerschein am nördlichen Himmel. Seine Augen wurden naß vor Grauen und mit seinem Hinkbein lief er, so schnell es ging, in die Häuser der Juden und schrie mit halberstickter Stimme, daß Gott ein Zeichen gegeben habe. Viel Volk sammelte sich schweigend an den Ufern der Regnitz und Pegnitz, und Christen und Juden standen in gleicher Furcht, in gleicher mystischer Andacht Schulter an Schulter. Zacharias Naar tauchte auf, fiel am Schilf des Flusses nieder und wandte sein gelbes Gesicht mit den weiten Augen dem himmlischen Feuer zu. Er begann ein flehendes Gebet zu singen, eine klagenvolle Anrufung des Gottessohnes zu Smyrna und die Gemeinde fiel im Chorus beim letzten Vers mit ein. Einsilbig rauschte der Fluß durchs Land und die erblassende Röte des Firmaments beleuchtete unsicher die dunklen Talare der in süßer Verzückung heimkehrenden Juden

In derselben Nacht erhob sich ein gewaltiger Sturm, riß das heilige Kreuz von der katholischen Kirche herab, und als die Juden in der Morgenfrühe zum Gebet gingen, sahen sie über dem niederen Portal der Synagoge die Anfangsbuchstaben vom Namen des Sabbatai Zewi in goldenen Lettern stehen.

Nun lebte ein Mann in Fürth, den man Maier Knöcker nannte; er hieß auch Maier Nathan und bei den Christen Maier Satan. Er hatte einen offenen Mund und eine häßliche Nase und war wegen seines Schacherns verhaßt. Knöckern heißt bei den Juden stammeln und ein Stammler war Maier Knöcker, der Nathan. Er sah mit scheelen Augen in das erregte Treiben seiner Glaubensbrüder, und inmitten des allgemeinen Rausches blieb er nüchtern und kalt. Er war nur besorgt, daß er von seinem Geld nichts verliere und beriet sich oft mit seiner Frau, wie man die Kasse am besten verwahren solle. Er wohnte in einem alten Haus mit vielen Löchern und Winkeln und jeden Tag in der Woche brachte er sein Geld in ein anderes Versteck. Sobald eine Nachricht von auswärts kam über irgend einen bedeutsamen Vorfall, irgend ein unerklärliches Ereignis, begann Maier Knöcker zu zittern und lief in sein Haus, um seine Schätze nachzusehen. Und als die Flut der Ereignisse schwoll und sich ausbreitete und die Länder bedeckte, wuchs auch in der Seele des Knöckers die Furcht vor dem Verluste seines Vermögens, und er konnte keinen ruhigen Schlaf mehr finden und mußte seine Bissen bei den Mahlzeiten in Unfrieden hinunterwürgen. Er betete sogar weniger, um seinem Hab und Gut ein besserer Wächter sein zu können. Er verdammte diese unruhigen Zeiten und es gab Tage, wo er sich nicht mehr über die Gasse wagte und die Türen versperrte, um einen geheimnisvollen Feind abzuhalten.

Aber es war noch eine andere Furcht in diesem schiefen und winkelreichen Haus, das in jeder Stunde einzufallen schien und das beim hellen Mondschein der Herbstnächte einer Ruine glich. Der Maier Knöcker hatte eine Tochter. Sie war nicht gerade schön, aber sie hatte die üppigen Formen und die äußerliche Leidenschaft der jüdischen Weiber, und in ihren Augen war etwas dumpf Sinnliches, das die Männer zu ihr trieb. Rahel hatte nun vor langem ein Liebesverhältnis mit einem christlichen Studiosus aus Erlangen angeknüpft und war in dessen Armen gefallen. Seit Monaten fühlte sie ein junges Leben in ihrem Leib, und so oft sie daran dachte, was Vater und Mutter sagen würden, wenn sie es entdeckten, wurde ihr das Herz wund. Ratlosigkeit und Traurigkeit verdunkelten ihr Dasein und machten ihre Jugend finster und bereuenswert. Aber als die Woge der Messiasbegeisterung in den stillen Hofmarkt stürzte, sah das gequälte Mädchen darin eine Art Erlösung. Sie fand es leichter als sonst, ihren leiblichen und seelischen Zustand geheim zu halten, denn die Erregung der Gemüter wandte sich nichts Einzelnem mehr zu. Trotzdem rückte die Zeit immer näher, wo nichts mehr zu verbergen war, wo sie, ohne zu reden, ihr Geheimnis offenbar werden lassen mußte. Sie sann und sann in schlaflosen Nächten und endlich fand sie durch angeborene Schlauheit einen verwegenen Ausweg aus ihrer Bedrängnis, und sie beschloß, ihren Geliebten um Hilfe zu bitten. Maier Knöcker war von der Abendschul nach Hause gekommen und erzählte finster, daß er mit vier andern unverrichteter Sache wieder gegangen sei. Die Juden vergäßen, sich zum Gebet zu versammeln; er sah darin ein schreckliches Zeichen. Beklommenen Herzens lugte er hinaus auf die Straße, als erwarte er Stunde für Stunde den unerbittlichen Gegner des häuslichen Friedens von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Da läutete die Hausglocke und Itzig Gänßhenker kam und berichtete atemlos, daß sich ein wahrhaftes Gotteswunder begeben habe. An der Küste von Nordschottland habe sich nämlich ein Schiff gezeigt mit seidenen Segeln und seidenen Tauen und die Schiffsleute, die es führten, hätten hebräisch gesprochen und die Flagge habe die Inschrift getragen: die zwölf Stämme oder die Geschlechter Israels. Dies Schiff sei für die Braut des Messias bestimmt.

Sie sprachen nun von vielen Dingen, auch Thelsela, das Weib des Knöckers, mischte sich in die Unterhaltung, bis Boruchs Klöß kam und man im Talmud lesen wollte. Auch Klöß wußte von dem geheimnisvollen Schiff und alle, alle draußen wußten es schon. Es kam nicht zum Studium des Talmuds, da Boruchs Klöß manche neue Seltsamkeiten zu berichten wußte: wie ein jüdischer Schneider zu Mailand in einen Zustand der Raserei gefallen sei und sich seitdem in prophetischen Verzückungen winde; stundenlang liege er am Boden und spreche bald lachend, bald weinend von der nahen Erlösung und von Sabbatais Macht im Himmel und auf Erden. Ferner erzählte er, daß sein Oheim aus der Türkei nach Hause zurückgekehrt sei und gänzlich betäubt sei von dem Großen und Wundervollen, das er dort gesehen. Das Volk von Smyrna sei wie im Wahnsinn und jauchze dem Befreier zu, der in Prozessionen von nie gesehener Pracht durch die Straßen ziehe. Die Ungläubigen, die Chofrim, seien ihres Lebens nicht sicher; Chajim Peña sei vom Volk fast zerfleischt worden, als er gegen Sabbatai aufgetreten war; des Peña eigne Tochter habe mit verzückten Sinnen das Heil des Erlösers ausgerufen, habe geweissagt und sei wie berauscht gewesen. Da gaben sie Chajim Peña frei, und er wurde später zum Jünger. So wurde erzählt und Boruchs Klöß wußte immer noch erstaunlichere Dinge als Itzig Gänßhenker. Maier Knöcker aber schwieg mit schwerem Herzen. Ringsum sah er den wilden Tanz sich gestalten; seine Klugheit warnte ihn davor, zu widerstehen, um so mehr, als noch in derselben Nacht das Gerücht laut wurde, Zacharias Naar stehe in Verbindung mit dem Propheten selbst. Er erhielt dadurch eine förmliche Weihe; er ging in die Häuser der Juden, überzeugte die Zweifler und entflammte die Hoffenden. Überall schritt er umher, überall fand man ihn, oft hob er sich gegen den dunklen Himmel der Felder ab, einsam im Abend.

Die Glocke verkündete die Mitternacht. Ein junger Mensch schlich über den Lilienplatz in die Wassergaß zum Haus des Knöckers. Er hatte ein langes Rohr unter seinem Mantel verborgen, und sein Kopf war sorglich in eine Kapuze gehüllt. Der rote Mond senkte sich gegen Westen und schien ein zauberhaftes Blühen auf die Dächer zu breiten. Gelbe Blüten, zarte Nebelschleier, er hauchte sie hin, daß es keiner sah, und die Steine waren nicht mehr Steine, sondern Knospen von Mondblüten und jeder Zaunpfahl erwachte aus einem traumlosen Schlaf und guckte schwermütig in die Welt. Die windschiefen Häuser sahen unbekleidet, hilflos und gottverlassen aus; manche erschienen rührend in ihrer trostlosen Verfallenheit, während ihre Fenster traurigen Augen glichen, die in die dunstige Glasglocke des Himmels hineinstarrten, als ob sie geblendet wären von dem sanften natürlichen Licht.

Der junge Mensch überkletterte einen niederen Zaun und erstieg eine schmale morsche Treppe, von wo er auf ein Dach kam, und dort schritt er auf den Zehen weiter. Vor einem grünen Fensterladen stand er still und steckte sein Rohr durch einen schmalen Spalt. Nun rief er mit dumpfer und verstellter Stimme in das Sprachrohr: »Boruch ado adonai elohim! O ihr gerechten und gottliebenden Eheleute Maier Nathan und Thelsela! freuet euch, denn eure Tochter, die eine Jungfrau ist, hat eine Tochter in ihrem Leib empfangen, die wird die Braut sein dem Erlöser des Volkes Israel, dem Messias zu Smyrna.«

Der Knöcker, der vergebens seine Kissen um Schlaf zerwühlt hatte, und dessen Phantasie in wilder Bewegung war, weckte sein Weib. »O meine Liebste,« flüsterte er beklommen, »hast du die himmlische Stimme gehört? Es ist ein Engel dagewesen; stehe auf, wir wollen beten, daß du die himmlische Stimme auch zu hören gewürdigt werdest.« Zitterndes Leibes erhob sich die Frau; sie lauschte in die Nacht hinaus, legte die vermagerte Hand auf die klopfende Brust und kniete nieder. Da ertönte die Stimme von neuem: »Ihr sollt eure Tochter in hohen Ehren halten und großen Fleiß anwenden, daß sie wohl versorgt werde. Denn aus ihrem jungfräulichen Leib wird die Messiasbraut geboren werden.«

Da packte Thelsela ihren Mann und zog ihn hinüber in das Zimmer, wo die Tochter schlief. Sie schien ruhig zu schlummern, sah abgehärmt aus und ihre Lider zuckten ein wenig. Als die Mutter ihr die Decke vom Körper ziehen wollte, stieß sie einen heiseren Schrei aus und krampfte die Hände von tödlicher Angst erfaßt, in den Stoff. Doch der Knöcker streichelte ihr die Wangen und stotterte unverständliche Zärtlichkeiten, während Thelsela den Leib des Mädchens befühlte, ernst nickte und von Andachtsschauern durchrieselt wurde. Eine große Freude hatte den Maier Nathan befallen: sein Haus war zu solch vorzüglichen Dingen auserwählt worden, daß er in diesen Stunden sogar der Sorge um sein Geld vergaß und mit seinem Weib am Lager der Tochter sitzen blieb, um ungeduldig den Anbruch des Tages zu erwarten. Über Rahels Wangen flossen bittere Tränen. Mit weitgeöffneten Augen sah sie beständig auf einen Punkt. Böse Gesichte schienen sie zu foltern; das Licht tat ihr weh, jede Tröstung schmerzte sie.

Der Maier Nathan indessen, dem eine ganz neue Welt aufgegangen war, sah sich schon als den Patriarchen der Gemeinde, gepriesen als den Vater eines unerhörten Glückes. Er nahm sein Weib bei der Hand, führte sie in das Schlafgemach zurück, stammelte trunken, fuhr sich in die Haare, lachte, tänzelte und ging endlich fort, um zuerst seinen Freund Boruchs Klöß und dann den Chassan aufzusuchen.

Der Morgen war nahe. Eine drückende Öde lag auf den Gassen. Fern in der Ebene rauschte der Fluß, und bisweilen klang es herein wie das Klappern eines Mühlenrades oder das Geläute von Kuhglocken. Den Zenit belagerten große Wolken. Wie Raubtiere lagen sie und schienen bereit, sich auf das Land zu stürzen.

Fast in allen Judenhäusern war Licht. Wo auch Maier Knöcker das neugierige Ohr an einen Türverschluß oder an eine dünne Mauerwand legte, hörte er Gebete murmeln, Klagen, Anrufungen und Lobpreisungen.

Als der helle Tag angebrochen war, kam wunderbare Kunde. Es hieß nämlich, die Juden in dem Städtchen Avricourt rüsteten sich, nach Jerusalem zu ziehen. Dann hieß es auch, Jakob Sasportas, der wütende Feind des Zewi, sei plötzlich zum glühenden Anhänger geworden, und mit der heiligen Schrift im Arm tanze er verzückt durch die Straßen von Worms. Ferner kam die Nachricht, Manoel Texeira sei mit zehn Ältesten nach Smyrna gepilgert und habe sich dem Messias zu Füßen geworfen. Ein gewisser Nathan Ghazati war von Sabbatai zum König von Griechenland und Elisa Levi, ein Bettler, zum Kaiser von Afrika bestimmt worden. Die Palästiner, die durch Jakob Zemach eine Huldigung an den neuen König der Juden abgeschickt hatten, schmückten ihren Tempel und zogen psalmensingend und blumenstreuend durch die Städte, als ob Davids Zeiten sich erneuert hätten. Der berühmte Sabbatai Raphael in Polen und Mathatia Bloch seien vom heiligen Geist erfaßt, so daß sie wahrsagten auf offenem Markt in Warschau und in Thorn.

So kommt der Föhn im Frühjahr über das deutsche Hochland wie all diese Botschaften nach Fürth. Selbst die Christen wurden miterregt von der Wucht der fremdartigen Ereignisse. Ein Taumel ging durch Europa; die alte Welt schien aufzuwachen aus einem Schlaf. Der Bedrücker fürchtete den Bedrückten, der Knecht träumte von Freiheit. Kein Tag verging, an dem nicht Kunde von Außerordentlichem eintraf, wäre es nur auch ein geheimnisvolles, deutungsreiches Wort des Messias gewesen. Er steht auf einer Terrasse am Meer, streckt seine Hand aus und spricht: Seht, ich gebe euch heute das Leben und den Tod. So wurde von wandernden Juden berichtet. Sendschreiben liefen durch die Städte; wunderliche Dinge lagen in der Luft.

Maier Knöcker, der Nathan, der das unerwartete Glück, dessen er teilhaftig geworden, voll Entzücken weitergetragen hatte, traf zuerst aus Mißtrauen, dann auf Verwunderung, dann auf blinden Glauben. Er fand einen begeisterten Apostel in Boruchs Klöß und dieser beredsame Mann erwies sich in der Tat als der beste Anwalt einer so begnadeten Sache. Die Ältesten der Gemeinde kamen zu Rahel, um sie durch Gebete heilig zu sprechen. Am gleichen Abend wurde ein großes Festmahl unter dem Vorsitz des Ober-Rabbis abgehalten, und das Haus des Stammlers wurde als eine fromme Zuflucht erklärt. Aber Rahel selbst blieb finster und verschlossen. Sie wich jedermann aus und hatte es verlernt, Vater und Mutter gerade ins Gesicht zu sehen. Wenn einer länger mit ihr redete, begann sie zu zittern. Ihre Hände waren feucht, ihre Lippen trocken und aufgesprungen, ihre Augen gerötet. Sie konnte in keiner Nacht mehr schlafen; die Finsternis nahm eine purpurne Färbung an, so daß es wie ein Vorhang vor ihren Blicken lag, undurchdringlich und beängstigend. Oft bevor noch der Tag anbrach, erhob sie sich vom Lager und schleppte sich hinaus in die Bodenkammer, um an irgend einer Luke zu kauern und starren Blickes stundenlang zu brüten. Sie freute sich, wenn sie fror; sie wünschte zu frieren, wünschte zu leiden, ein äußerer Schmerz verlieh dem inneren Milderung. Am Sabbat nach der Schul kamen die Weiber zu ihr; aber sie war so bedrückt, daß sie vor den Besucherinnen in lautes Weinen ausbrach. Sie rang die Hände, stöhnte, warf sich zu Boden, fletschte die Zähne, und murmelte Worte ohne Sinn und Klang. Das war ein sehenswertes Schauspiel, eine Bestätigung des Wunders, das mit dieser Jungfrau vorgegangen. Sie brachten Geschenke, doch das Mädchen warf sie ihnen vor die Füße und schalt und drohte fassungslos. Auch viele Männer kamen: Thurathara, Wolf Batsch, Seligman Schrenz, Seligman Rumpel, Hirsch und Herz, die Rumpeln, Wolf Bieresel, Joel und David, die Bieresel, Maier Anschel und Itzik Gänßhenker, ja sogar Moses Bock aus Würzburg und Michael bar Abraham aus Markt Erlbach. So schnell hatte sich die Kunde im Lande verbreitet. Alle brachten sie Geschenke: Güldene Schleier oder Sternlein oder durchgezogene Sternlein oder Umhänge von Drapd'or oder gestickte von Gold, von goldenen oder silbernen Blumen, Kleider von Samt mit einer Blumenbordüre, einen Mantel von Damast, Schuhe oder Pantoffeln mit gutem oder schlechtem Gold verbrämt, Bänder von schwarzem oder gefärbtem Leder, Kartelsteine oder andere Gehänge, auch Hand- und Leibschnallen, güldene Gürtel und einen Gürtel von Gold, der mit Diamanten besetzt war, Ringe und Ohrgehänge, Handschuhe von Pelz und Halstücher bis auf zwei Gülden Wert.

Das waren festliche Tage für Maier Knöcker, den Nathan. Mit zitternden Händen tastete er über den Reichtum; nahm die Tücher, faltete sie wieder zusammen, liebkoste die Schuhe und Ringe, legte die Gehänge um seinen Hals und stolzierte im Zimmer damit auf und ab; auch stellte er sich damit vor einen Spiegel, machte Bücklinge, schnitt lächerliche Grimassen und ging dem finsteren Schicksal mit kindischer Heiterkeit entgegen.


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