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Bevor noch der Morgen graute, stand Agathon auf dem Bahnhof und erfragte die Abfahrtszeit des nächsten Zuges nach der Residenz. Um ein Viertel nach acht Uhr sah er sich durch die Ebenen Frankens rasen, über denen ein milder Nebel lag, sah Flüsse unter sich und neben sich verschwinden, tauchte den Blick in die Nacht raschverfliegender Wälder, suchte das Bild von Dörfern festzuhalten, die sich ängstlich an sanft ansteigende Höhen klammerten, von Städten, die erst aufzuwachen schienen, und er glaubte, dies alles sei vorher gar nicht dagewesen, sondern sei um dieses einen Tages willen eigens für ihn gemacht. Dann kamen Mittelgebirgsländer mit der idyllischen Ruhe dichtzusammenliegender Marktflecken, mit alten Steinbrüchen, tiefen Tälern, kahlen Hügelketten, vergoldet von der Morgensonne, die sich schlaftrunken aus umlagernden Wolken löste, dann ein Strom, breit und grün, dann wieder eine endlose, dürre Ebene, über der es zu regnen anfing, alles eine Folge von sich jagenden Bildern wie in einem Scheindasein.
In der Residenz angelangt, suchte er sogleich die Straße, die ihm Jeanette angegeben. Betäubt von Lärm und Getöse, aber ganz ohne Aufnahmefähigkeit für die Dinge um sich her, gelangte er endlich vor das Haus. Eine alte Frau öffnete ihm. Auf sein Fragen wies sie ihn ohne weiteres in ein längliches, etwas dumpfes Zimmer und bedeutete ihn, er möge warten.
So wartete er. Er hatte sich auf einen niedrigen Sessel gesetzt und blickte mit unbewegtem Gesicht vor sich hin. Er konnte kaum begreifen, wie er hierher gelangt war. Seine Wangen waren fahl, seine Augen erloschen, seine Haltung zeugte von einem sich verkriechenden Schmerz.
Plötzlich ging die Tür auf. Herein trat Jeanette. Sie warf Hut und Mantel achtlos in eine Ecke. Sie schien außer Atem, ihr Blick abgehetzt wie so oft und von trügerischem Feuer erfüllt. Sie hatte Agathon kaum begrüßt, als sie auf den nächsten Sitz sank, die Hände vor das Gesicht schlug und laut aufstöhnte.
»Warum bist du nicht früher gekommen, Agathon?« murmelte sie nach einer Weile. »Ich habe dich erwartet. Ich brauchte einen Menschen, ich brauchte dich, ein einziges Herz in dieser Wüste, ich wollte dich sehen, dein zuhörendes Auge sehen, den Rat hören, der in deinem Schweigen liegt, denn du bist klüger als du ahnst.«
Agathon stand auf und trat zu ihr. Als er sie berührte, sah sie zu ihm empor. Seine Berührung schien sie zu trösten. Sie drückte ihm die Hand. »Ich glaubte, ich hätte den Verstand verloren,« sagte sie und strich sich über die Stirn. »Setz dich zu mir, Agathon, ich will dir erzählen. Wie köstlich, wie gut, daß du da bist und ich zu dir reden kann!«
Und sie erzählte.
Sie war, wie schon vorher verabredet, auf eines der königlichen Schlösser gebracht worden, in dem sich der Fürst gerade aufhielt. Es war ein unerhörter Glanz, der sie mitten im Hochwald empfing. Sie hatte den Eindruck, als verfolge man mit ihrer Person irgend eine Absicht bei dem Monarchen, der seit Jahren sich von allen Frauen ferngehalten. Sie sah also den König. Jene Leidenschaft, deren Gefäß sie von da ab war, erfüllte sie sogleich beim ersten Anblick. Er war von ziemlich fetter, aber zugleich riesenhafter Gestalt. Seine Schultern waren so breit und mächtig, daß sie für jeden, über den sie sich beugten, etwas Zermalmendes hatten. Sein Gesicht war außergewöhnlich bleich, sein Haar glanzlos, tiefschwarz und stand so dicht wie das Gras vor dem Mähen. Doch all das wurde belanglos durch die Augen. Tiefblau wie die Gebirgsseen, waren sie von einem hinreißenden Ausdruck, von einem heftigen Feuer erfüllt. Es schien, daß ihnen keine Qual erspart geblieben, daß sie keine Schönheit unwiderstrahlt gelassen. Niemand konnte ertragen, furchtlos in sie zu schauen. Seine Kleidung war die eines einfachen Bürgers. In seinem Wesen war wenig von Majestät. Ruhelosigkeit, die Angst des Verfolgten, machtloser Zorn, tiefe Bitterkeit beherrschten ihn.
»Es schien etwas Schreckliches im Werk zu sein,« fuhr Jeanette fort. »Das ganze Schloß, die Dienerschaft, die Offiziere, alles war in Bewegung, in Hast, in Erwartung. In der Nacht fuhr der König in sechsspänniger Karosse in die Residenz und Vorreiter mit Fackeln beleuchteten den Weg. Er verschmäht es die Bahn zu benutzen. Am Morgen, ich hatte nicht schlafen können, sondern war am Fenster gelegen und hatte in den Wald gestiert, am Morgen kam er wieder und die Unruhe, die ich an ihm bemerkt, hatte sich verzehnfacht. Ich beobachtete ihn vom Fenster aus und sah, wie sein gewaltiger Körper sich fröstelnd schüttelte, als er den Wagen verließ. Einen Augenblick lang kam es mir vor, als wolle er zusammenbrechen unter einer Last. Die Diener gingen hin und her, ich glaube, sie wußten nicht warum. Bald nach seiner Ankunft führte mich der Adjutant, der sein Freund und Vertrauter war, zu ihm, und ließ mich mit ihm allein.«
Jeanette schwieg lange. Dann begann sie mit etwas erhobener Stimme wieder. »Ich werde mein Lebelang diese Stunde nicht vergessen, Agathon, und wenn ich so alt würde, wie die Erde selbst. Als ich hineintrat in den Saal, der von Licht und Gold strahlte, wußte ich, daß meine Seele diesem Mann unwiderruflich angehöre, und ich küßte in Gedanken die geheimnisvolle Hand des Schicksals, die mich zu ihm geführt. Ich wußte, daß ich für ihn sterben könnte und sterben würde und sterben müßte und daß Sterben nichts bedeute gegenüber dem Glück seine Sklavin zu sein. »»Wer hat dich hereingelassen?«« fragte er mich. Ich fand keine Antwort. Meine Zunge gehorchte mir nicht. Indem ich ihn anschaute, zitterte ich am ganzen Körper. »»Du bist Tänzerin?«« – ›Ja, Majestät.‹ – »»Dann tanze.«« Er stand auf und drückte auf einen elektrischen Knopf, und eine Musik ertönte, ebenso zauberhaft wie die Art, durch die sie hervorgebracht war. Es war, wie wenn ein ganzer Wald mit seinen Mysterien sich in die Höhe hebt und zu singen und zu jauchzen anfängt. Ich tanzte also. Anfangs kam es mir vor, als wenn ich mein Bewußtsein verloren hätte und leblos hinschwebte, aber dann ging eine außerordentliche Verwandlung mit mir vor. Ich spürte den Boden nicht mehr und nicht mehr die Luft, und obwohl es eine Musik war, nach der vielleicht niemand in der Welt sonst zu tanzen vermocht hätte, fühlte ich doch, daß alles was Nerv und Bewegung heißt, gerade in ihr lag. Der König schien überrascht. Das Höhnische, Verächtliche und Finstere verschwand von seinem Gesicht; zuletzt versank er in tiefes Träumen und seine Augen schauten schmerzlich in die weite Ferne. Als die Musik schwieg, stand er auf und reichte mir die Hand, die ich küßte. »»Wer bist du?«« fragte er. ›Alles was Majestät aus mir machen will,‹ erwiderte ich. Er zuckte zusammen. »»Majestät, Majestät,«« murmelte er. »»Bald nicht mehr Majestät. Bald nur noch Hund vor dem Tor, bettelnder Hund. Majestät! Jedes Glied einzeln gebunden, jeden Finger verschnürt, jedes Wort beschmutzt, jede Tat bekläfft, das nennst du Majestät. Anfangs hab' ich dem Volk vertraut. Aber die Seele des Volkes ist so tief, daß man sie auf den Knien suchen muß. Ich habe mir den Kopf zerschunden an den Mauern dieses Landes. Alle diese Hände, die du um mich siehst, haben die Zeit wohl benutzt, mich zu verunreinigen. Um Land und Volk und Freund bin ich betrogen worden und muß schweigen und darf nicht einmal Frieden haben in der Einsamkeit. Ich bin um meine Würde betrogen worden und du nennst mich Majestät. Was ist Majestät heute, daß sie sich beugen muß vor einem Krämer, der in einer guten Stunde unter Beihilfe seiner Schwäger und Tanten Minister wurde und zufrieden das christliche Hausbrot ißt? Eine schöne Majestät, die sich der Kirche opfern soll und keine Hand rühren darf ohne den Pfaffen. Wäre ich doch jung gestorben, damals als ich noch glaubte, König zu sein, ein Volk zu besitzen. Wäre ich doch gestorben! Geh' fort, Weib, verlasse mich.«« Das waren seine Worte, Agathon. Zuletzt war seine Stimme heiser geworden vor Zorn und Scham. Seine Augen hatten sich noch vergrößert und die Brust arbeitete so heftig wie unter anstürmendem Wind. Ich konnte nicht mehr hören, nicht mehr sehen, ich folgte seinem Wink und eilte hinaus.
»Ich sah im Saal, der gegen den linken Flügel führte und als Audienzraum benutzt wurde, sechs bis acht vornehme Herren mit feierlichen Gesichtern, auch einige Offiziere. Sie betrachteten mich voll Staunen. Es war die Deputation des Adels, die Abgesandten vom Hof. Sie wollten den König ›zur Vernunft‹ bringen, Agathon. Bald darauf geschah etwas Schreckliches. Der Adjutant erhielt den Befehl, niemand vorzulassen und stand mit gezogenem Seitengewehr vor der Flügeltür. Er verweigerte der Deputation den Eintritt. Mitten in dem heftigen Hin- und Herreden erschien der König unter der Türe. Er hatte die Schloßwache und die Diener herbeigerufen. Ein Diener sagte mir, daß der Ausdruck seines Gesichts so schrecklich gewesen sei, daß niemand mehr zu atmen, geschweige denn zu sprechen gewagt habe. Mit vernehmlichen Worten befahl der König den Soldaten, die Abgesandten zu binden und ihnen die Augen auszustechen. »»Noch bin ich der König!«« rief er aus und erhob die Hand. Die Abgesandten wurden von unbeschreiblicher Furcht gepackt. Die Soldaten wagten sich dem Befehl nicht zu widersetzen und wagten nicht zu gehorchen. Der König war seiner nicht mehr mächtig. Er lief auf und ab wie ein wildes Tier, erhitzt und schnaufend, ballte die Fäuste, rollte die Augen, bis es seinem Adjutanten gelang, ihn in eines der Seitengemächer zu führen. Aber der König ließ die drei Saaltüren versperren und vor jeder Türe zwei Posten mit aufgepflanztem Bajonett patrouillieren. Die Deputierten schwebten in Todesangst.
»Nun verfloß der ganze Nachmittag, ohne daß irgend etwas sich ereignete. Man sagte mir, der König liege wie gebrochen auf einem Ruhebett. Am Abend kam eine berittene militärische Abteilung mit einem Oberst. Er hatte ein Dekret, das ihm Zugang zum König verschaffen mußte. Ein Arzt begleitete ihn. Die Abgesandten wurden befreit. Kurze Zeit darauf bestieg der König den Wagen, und in Begleitung der Berittenen wurde er als Gefangener nach Schloß Berg am Starnberger See gebracht. So ist es zugegangen, Agathon. Ich bin nicht mehr, was ich gewesen bin, ich habe mich verloren. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, was ich tun soll, mein Hirn ist wie zerfressen. Daß dieser Mann verbluten soll, werde ich nie verwinden können. Er war zur Größe und zum Licht und zur Schönheit geboren und alle Dämonen der Finsternis haben sich geeinigt, ihn in den Schmutz zu zerren.«
Agathon starrte in das dunkler werdende Zimmer. Auf einmal trat er einen Schritt zurück, streckte die Hände aus und lispelte verstört. So stand er und seine Gestalt schwankte. Er sah den König mit dem düster flehenden Blick eines gehetzten Tieres vor sich stehen und erkannte ihn, obwohl er ihn noch nie gesehen, außer auf schlechten Bildern. Agathon wollte reden, doch er kam nicht dazu. Jeanette stürzte auf ihn los, packte seine Hände, erhaschte seinen Blick und wie durch ein wunderbares Zeichen verstand sie alles, sah selber hin und ihr war, als würde sie gerufen; mit fieberhafter Eile schlug sie den Mantel um und stürzte fort.
Agathon faßte sich, seufzte tief auf und ging. Auf der Straße standen überall Gruppen und flüsterten und beratschlagten. Vor den Zeitungsredaktionen warteten Hunderte auf Nachrichten und achteten nicht den Regen, der sie durchnäßte. Viele Tausende drängten sich vor der Residenz und keiner wich nur eine Sekunde lang von seinem mühsam eroberten Platz. Dabei wußten alle, daß der König nicht in der Stadt war. Die Behörde hatte bekannt gemacht, der König habe seines Amtes entkleidet werden müssen, da er bedeutsame und zweifellose Symptome der Geistesstörung gezeigt habe. Aber das Volk glaubte es nicht. Agathon erfuhr bald alles, und ein wilder und phantastischer Entschluß erwachte in ihm. Er ließ sich von Arbeitern den Weg erklären, der zu jenem See hinausführte und machte sich ohne Zögern, obwohl er an diesem Tag noch keinen Bissen Nahrung zu sich genommen hatte, auf die Wanderung. Er dachte nicht daran, die Eisenbahn zu benutzen oder ein anderes Beförderungsmittel. Er hatte das Gefühl, als müßten ihn seine Füße viel schneller dorthintragen, als jede Dampfmaschine es vermocht hätte. Außerhalb der Stadt fragte er noch Handwerksburschen oder Bauern um die Wegrichtung und obgleich die Dunkelheit schon angebrochen war, erschrak er nicht vor der Nachricht, daß es mehr als fünf Stunden zu gehen seien. Das Mühsame des Marsches kam ihm nicht zu Bewußtsein, er wurde nicht müde. Die Glut seiner Sehnsucht war auf eine Tat gerichtet. An der Grenze alles Denkens und der Überlegung angelangt, beherrschten ihn nur noch Gefühle, dumpfe, doch gewaltige Regungen. Er wollte die Bauern führen am Morgen und den König befreien; nie zuvor hatte er zweifelloser die Fähigkeit empfunden, alle, die sich ihm nahten, von einem Trieb entflammen zu lassen.
Die dunkle Nacht ringsum nährte seine Phantasien. Nirgends war ein Licht. Die Landstraße war nur durch einen schwachen Schein kenntlich. Der Regen plätscherte unaufhörlich herab. Schweigend lagen Felder und Wälder. Oft gelangte er an einen Kreuzweg, aber kühn und unbesorgt schritt er weiter. Er wußte, daß er nicht fehlgehen würde. Stundenlang wanderte er durch einen Wildpark, wo oft ein geheimnisvolles Murren und Rascheln hörbar wurde, aber nichts konnte ihn ablenken oder ängstigen.
Endlich tauchte in der Tiefe ein oft unterbrochener Kranz von Lichtern auf; es waren die Seeufer. Agathons Augen wurden naß vor Freude. In kurzer Zeit war er im Tal angelangt. Alle Bewohner des Dorfes, das er betrat, waren in Bewegung. In jedem Haus brannte noch Licht. Er betrat die nächste Schenke, die voll war von leidenschaftlich disputierenden Bauern, während Weiber und sogar Kinder auf der Straße standen. Beim Anblick der vielen Menschen, der sich anscheinend zwecklos drehenden und windenden Körper, des Rauches, der aus Pfeifen quoll, der von der Zeit gleichsam gerösteten Bilder und Wände, fühlte Agathon plötzlich die Übermüdung seines Körpers in einer schrecklichen Weise. Es war ihm, als ob sich seine Haut löste. Dabei glaubte er fortwährend zu sinken, durch zahllose Wiederholungen desselben Raumes zu fallen.
Die Bauern wurden aufmerksam. Sein totenbleiches Gesicht übte auf sie den Zauber einer Erscheinung. Sie standen alsbald um ihn her, und einige, die höhnisch gelächelt hatten, lächelten nicht mehr, als er zu sprechen begann. Seine hohle und erschöpfte Stimme klang gedämpft und füllte trotzdem den Raum, sie hatte etwas Klingendes und Messerscharfes. Seine Rede schien von einem unsichtbaren Wesen zu kommen, das ihn umfangen hielt, denn er blieb so bewegungslos, als ob seine Glieder gefesselt seien. Es war der Schmerz und der Zorn des Königs selbst, der in geheimnisvollem Bündnis mit dem Redner zu stehen schien, dieses Königs, der ein Märtyrer seines Amtes und dessen Geist nicht, aber dessen Herz wahnsinnig geworden war.
Die Wirkung von Agathons Worten, die für ihn selbst einem Fiebertraum glichen, war auf die Bauern eine wahrhaft beängstigende. Sie schrien, tobten, stiegen auf Tische und Bänke, fuchtelten mit den Händen umher, zerbrachen Gläser und Fensterscheiben, hoben Agathon auf ihre Schultern, daß sein Kopf an die Decke stieß, schlugen den Wirt nieder, der sie besänftigen wollte, und in kurzer Zeit hatte sich die Furie eines tierischen Rausches durch das ganze Dorf verbreitet. Ein alter Bauer, dessen eines Auge verklebt war, fluchte und heulte beständig, eine Art Hausierer oder Kärrner schwang eine Sense, versammelte die jungen Leute um sich und wollte mit ihnen über den See nach dem Schlosse fahren. Agathon, nicht mehr fähig, zu gehen, zu sprechen oder zu handeln, war dem Gewühl entflohen und saß mit leeren Augen in einem Winkel der Schenke. Er war verwundert und hatte fast Angst wegen dieser grundlosen Verwunderung. Er starrte hinüber ans andere Ufer, das weit entfernt war und von dem spärliche Lichter durch den allmählich aufdämmernden Morgen flimmerten. Er sah auch Lichter, die in beständiger Bewegung von Punkt zu Punkt huschten wie Fackeln, die man hin und her trägt. Da erschallten im Innern des Dorfes durchdringende Schreie, die sich wiederholten und fortpflanzten und an Stärke zunahmen. »Der König ist tot!« gellte plötzlich eine Stimme dicht vor dem Fenster, an dem Agathon saß. »Er ist ertrunken!« schrie eine andere, und »im See ertrunken!« eine dritte Stimme. Agathon erhob sich, fiel aber gleich darauf wie ein Stock zu Boden.
Der angebrochene Morgen sah das Landvolk in hellen Scharen gegen das königliche Schloß ziehen, und man erfuhr, daß die Leiche des Königs erst vor einer Stunde im See aufgefunden worden war. In allen Dörfern der Umgegend läuteten die Glocken. Tausende von Bauern standen am Ufer und vor dem Schloßpark. Viele schrien um Einlaß, und als niemand erschien, erbrachen sie das Tor. Eine furchtbare Erregung hatte die Gemüter ergriffen; mit Sensen, Knütteln, Schaufeln und Hacken organisierten sich ganze Haufen, um nach der Hauptstadt zu ziehen und die Residenz zu stürmen. Am Mittag rückten einige Regimenter Infanterie aus der Stadt, um die Ordnung herzustellen. Ein hünenhaft gebauter Kerl, der sich auf unerklärliche Weise den Wortlaut einer Proklamation verschafft hatte, die des Königs letzte Niederschrift war, lief damit von Dorf zu Dorf, von Weiler zu Weiler, von einem Wirtshaus ins andere, und wurde nicht müde, sie aus der Abschrift immer wieder in einer rührenden und schlichten Weise vorzulesen. Diese Proklamation war das Glänzendste und Bewegteste, was jemals die verzweifelte Seele eines Fürsten geschaffen. Sie ist unbekannt geblieben, und es gab Gründe, ihre Verbreitung nicht zu wünschen. Ihre Sprache war einfach und klar, jedes Wort ein Bekenntnis, eine Klage, eine Anklage. Sie war von einer bitteren Ruhe diktiert, und ein kraftvoll gebändigtes Feuer war in ihr und niemals ward dem Thron ein besserer Dienst geleistet, als durch die Verheimlichung dieses gefährlichen Dokuments, das auf dem Thron entstanden war.
In der Stadt waren alle Beziehungen der Gewerbe und des Handels gelöst. Kaufhäuser und Schulen, Krämereien und Fabriken waren geschlossen. Trauerfahnen wehten, vierundzwanzig Stunden lang tönten ununterbrochen die Glocken in einem niederdrückenden Konzert. Aufgeregte Menschenmassen füllten Plätze und Straßen und Kirchen; an den Fenstern sah man heulende Weiber; aber auch Männer schämten sich nicht zu weinen. Der König, der seit fünfzehn Jahren sich nicht mehr öffentlich gezeigt, dessen Leben für alle ein Geheimnis war, dessen Stolz bis zur Schroffheit ging, dessen Menschenverachtung am Hof gefürchtet war, er hatte die Liebe seines Volkes in unvergleichlichem Maße genossen.
Agathon ging durch die Straßen der Stadt, einsam und verlassen. Er fühlte sich krank und wund. Ihm schien es vergeblich, zu leben, zu fühlen, zu wollen wie er gelebt, gefühlt, gewollt. Ihm war, als trage er sein Herz ausgebrannt in der dunklen Brust und in einem andern, zermalmenderen Sinne nahm er an der Trauer des Volkes teil.
Da ging er an einem Haus vorbei, in dessen Erdgeschoß ein Fenster offen stand. Verdrossen und trotzig blieb er stehen, und nach einer Weile blickte er hinein in ein ärmliches Zimmer. Drei Kinder saßen darin und spielten, drei schöne Kinder. Sie spielten ein gewöhnliches Spiel und waren allein. Aber wie sie sich dabei benahmen, wie sie nicht etwa jauchzten, sondern innig froh waren, wie ihre Augen glänzten, wie sie miteinander und mit sich selbst zufrieden und befriedigt waren von dem Gang des Spiels, das sich doch wenig unterschied von allen Spielen aller andern Kinder, darin lag etwas so Warmes, Gutes und Befreiendes, es stand in so leuchtendem Gegensatz zu der Welt da außen, daß es wie ein Stück Zukunft in der Gegenwart berührte.
Daher atmete Agathon tief und lange auf; sein Körper begann zu zittern wie unter Wellenschlägen neuen Lebens, und lächelnd setzte er seinen Weg fort.