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Die Welt versank allmählich in der Dämmerung. Er ging heimwärts. Die dumpfe, drohende Geschäftigkeit, die überall herrschte und die immer mehr anschwoll, erweckte eine unbestimmte Angst in ihm. Bei einer Gartentür lag ein Stein und er ließ sich ermüdet nieder. Samson Weinschenk und die Seinen hatten schon zwei Wagen vollbepackt und saßen nun zwischen leeren Wänden. Auch David Tischbeck und Samuel Schrenz und Hutzel Davidla und Löw Wassertrüdinger und Moses Käsbauer und Maier Wolf: alle waren sie schon fertig und bereit, das fremde Land für immer zu verlassen. Der Knabe fühlte gleichsam schwere Schicksale voraus, darum war er traurig, und es war, als ob von irgendwoher eine schmerzlich schöne Musik erschalle und durch die kümmerlichen Gassen des Judenviertels fließe.
Er blickte empor und sah Rahel Nathan mit plumpen, aber hastigen Schritten daherkommen. Sie wollte vorbei, aber Benjamin rief sie an. Da fuhr sie zusammen, winkte mit beiden Armen ab und wollte schnell weitergehen, – gegen die Häuser der Christen hinüber. Doch besann sie sich eines andern und setzte sich neben den Knaben auf den Stein. »Morgen soll es fortgehen, weißt du das, Junge?« fragte sie. Er bejahte, aber sie redete nicht mehr, es war, als ob sie sich ganz in sich selbst verkröche. Der Knabe sah, daß sie mit ihren Händen das Gesicht bedeckt hatte, und die Ellbogen waren durch das niedere Sitzen tief in den Schoß vergraben. Es fiel ihm ein, daß es im Gesetz verboten sei, so niedrig zu sitzen; nur die Leidtragenden dürfen es um ihre Verstorbenen. Da stand er rasch auf. Aber ehe er sich dessen versah, hatte ihn das Mädchen heftig bei den Armen gepackt, zog ihn an sich, nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und drückte die glühendheißen trockenen Lippen leidenschaftlich auf seinen Mund. Benjamin glaubte zu versinken, auf seiner Stirn perlte seiner Schweiß, der ihn gleich Nadeln verwundete. Er hörte Rahels Herz wie einen dumpfen Hammer pochen, die Wärme ihres Körpers strömte auf ihn über, ihre aufgelösten Haare umhüllten seinen Kopf. Und nun fielen nasse Tropfen auf seine Wangen nieder, und erst durch das laute Schluchzen des jungen Mädchens ward er schaudernd inne, daß es Tränen waren. Auf einmal stand sie auf, stieß den Knaben rauh von sich und eilte davon.
In der Rosengaß stand ein kleines grünangestrichenes Haus, darin wohnte der Studiosus Thomas Peter Hummel. Rahel tastete sich mühsam durch die Finsternis des Flurs. Plötzlich fiel ihr, sie wußte nicht warum, ein Vers aus dem Talmud Taanit ein: Und ich mache allen ihren Jubel still, ihre Feste, Monden und Sabbate. Heiserer Gesang scholl aus einem Raum im Hintergrund, dann kam ein wüstes Lärmen und Durcheinanderreden, Gläserklirren und Zurufe und auf einmal war es wieder ganz still. Eine weiche, schmiegsame Mittelstimme begann ein Lied zu singen; Rahel kannte die Stimme, die so verführerisch war und von der sie meinte, daß niemand ihr widerstehen könne. »Es ist ein' Ros' entsprungen aus einer großen Zahl,« – ein altes Lied voll Trauer und Sehnsucht. Wer es sang, mußte gewiß um der Liebe willen leiden. Es war, wie wenn ein Vogel gefangen sitzt, von dem man weiß, daß er nur durch Freiheit leben kann, und er sitzt in einem finstern Käfig und flattert sich die Flügel wund. Das Lied war schon lange zu Ende, aber Rahel stand immer noch regungslos da, und ein schmaler Lichtstreifen aus der Türspalte fiel auf ihre Stirn. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und lachend, in der einen Hand den Weinkrug, mit der andern der Schar von Studenten am Tisch in der übertriebenen Lustigkeit, die ihm eigen war, zuwinkend, trat Thomas Peter Hummel heraus. Das Zimmer war von Rauch erfüllt, denn die jungen Leute saßen alle mit Pfeifen im Mund und pafften fleißig drauf los. Hummel schloß die Tür und setzte mit einem Feuerstein ein Öllicht in Brand, um in den Keller zu gehen. Als er sich mit dem Lämpchen in der Hand umdrehte, gewahrte er Rahel. Er erbleichte. Sein kleiner Mund kniff sich zusammen, die Pupillen erweiterten sich wie bei einer Katze, und endlich stieß er einen dumpfen, fragenden Laut hervor. »Wir gehn fort von hier,« murmelte Rahel, und ihr Kinn sank gegen die Brust. Der Student lächelte schnell unter seinem schwarzen, koketten Bart hervor und sagte, in eine Stube könne er sie nicht führen, sie sollte mit ihm in den Keller kommen, und Rahel folgte ihm in den feuchten Keller hinab. Hummel ließ sie auf ein leeres Fäßchen setzen, nahm ihre Hand und begann zu sprechen. Das war seine Kunst, zu sprechen. Da vergaß er sich selbst und den andern, wußte hundert Gründe oder Dinge, an die kein Mensch dachte oder denken konnte, geriet vom zehnten ins zwanzigste und von da noch weiter, unterbrach niemals den freien Fluß der Rede, setzte, wo es anging, ein gelehrtes Zitat statt eigener Meinung oder brachte füglich eine bedeutsame Geschichte von spannender Erfindung an, kurz, er wußte das Wort so vollkommen zu gebrauchen, daß er es in knapper Zeit vermochte, ein großes Unglück höchst winzig erscheinen zu lassen und war im ganzen ein glänzendes Beispiel für den Ausspruch des alten Cicero über die Beredsamkeit. Dabei war seine Stimme leise und berückend, eindringlich und gleichsam erziehend. Seine Gesten waren rund und gefällig, gemessen und wohlwollend, besonders wenn er Daumen und Zeigefinger mit den Spitzen zusammendrückte und den Arm pendelartig auf und abbewegte. Er schien nichts als Liebe und Uneigennützigkeit zu empfinden und alles, was er sagte, hatte Klang und Vernunft, sozusagen Hut und Schuh, und er vermochte einen Menschen zu trösten, daß er all seine Schmerzen vergaß und sich so vollgeredet fand, als habe er am Tisch des Großmoguls die köstlichsten Speisen gespeist.
Nach geraumer Weile und als von oben das ungeduldige Fußgetrampel der andern Studenten hörbar wurde, erhob sich Rahel und ging wieder. Draußen in der Nacht erinnerte sie sich dunkel, daß Thomas Peter ihr empfohlen hatte, die Juden zu warnen, es sei etwas im Werk; aber es ließ sie kühl. Sie fühlte sich wie das tote Werkzeug in einer fremden Hand. Sie dachte an den Geliebten, von dem sie eben auf so seltsame Weise ewigen Abschied genommen, und ein Schauer zog ihr die Brust zusammen und ihr Herz lag wie Blei im Körper. Jenes Haus, das so Teures für sie beherbergt hatte, konnte nicht mehr das Bild ihrer Träume verschönen. Stand doch schon über seinem Eingang ein roher Landsknechtspruch, neu hingemalt:
Wer so fährt wie ich, fährt boeß. Meines Vaters Guett hab' ich versoffen, Bis auff einen alten Filzhuett. Der leit da. Den ofen wer ich aach ball versaufen. |
Die Nacht war kalt. Die Wolken am Himmel hatten in ihrem gelben Leuchten und ihren kargen Umrissen etwas Wesenhaftes und Persönliches. Vor manchen Haustüren der Christen standen Männer im Schein düsterer Lichter und berieten über die Vorgänge im Judenviertel. Sie schienen besorgt, denn wie auch dies Volk verhaßt bei ihnen war, so beleidigten doch all diese Dinge ihr Herrischkeitsgefühl, und sie glaubten, es nicht zugeben zu dürfen, daß sich der Knecht so leichterdings frei mache und davonziehe. Nur die zu Wucherzins Verpflichteten rieben sich insgeheim die Hände und beglückwünschten sich zu den so mühelos errungenen Kapitalien.
Rahel wagte sich nicht heim. Sie wußte nicht, was sie davon abhielt, aber ihre Seele verging in Furcht. Sie wanderte dahin, ohne über ein Ziel nachzudenken. Sie lebte völlig in einer dunklen Innenwelt und die Blicke, die sie in die erleuchteten Fenster der Wohnungen warf, hatten etwas Irres. Wie so oft, ging sie in das Haus des frommen Elieser Rappaport, der ihr Verwandter war. Die ganze Familie saß um den großen Tisch herum; die Wände waren kahl, die Schränke fortgeschafft, Geschirr, Betten, Wäsche und Gewänder auf den Wagen verpackt. Es war unheimlich zu sehen, wie die Menschen um das trübe, rauchende Licht herumhockten, mit blaßen, erwartungsvollen Gesichtern oder mit milden Gesichtern, in denen gleichsam nur noch eine entfernte, eine fliehende Sehnsucht, ein schüchternes Hoffen leuchtete, und wie sie dem Vorlesen des Elieser lauschten. Draußen fauchte der Wind und überall klimperte und klirrte es und oft blökten ängstliche Rinder oder wieherten die Pferde.
Rahel setzte sich in eine Ecke des Raumes, wo ein Balken aus der Wand hervortrat. Niemand achtete ihrer. Elieser las aus dem Buch Simchas Chamesesch, der »Seelenfreude«, welches zu Frankfurt und zu Sulzbach deutsch gedruckt worden war. Mit bebender Stimme las der alte Mann die Parabel, die von der Stärke des Glaubens handelt. »Einer hat drei gute Freund; einer is sein Leibfreund, der ander is aach ein guter Freund, un der dritter, den hat er vor gar nix geacht. Urbizling schickt der Melech, der König, einen Boten nach den Mensch, er soll geschwind zum Melech kommen. Der Mensch derschreckt sehr, denkt, was muß das bedeuten, als der Melech nach mer schickt und fercht sich sehr un geht zu sein Leibfreund, der soll mit ihm gehn zum Melech, der will aber nit mit ihn gehn. Da geht er zu den andern Freund, er soll mit ihn gehn zum Melech, da spricht er, ich will dich begleiten bis an das Schloß, aber weiter will ich nit gehn. Da geht er zu den dritten Freund, den er vor gar nix geacht hat. Da spricht er, ich will mit dir gehn zum Melech un will dich beschermen. Un is mit ihm gangen zum Melech un hat ihm beschermt. Aso aach die drei Freund; einer das is Geld, der ander, das is sein Weib un Kind, der dritt Freund, den er vor nix hat gehalten, das is die Thora, die Gebote, die guten Taten, das acht der Mensch vor nix. Der Melech das is Got, der Bote das is der Tod, den schickt Got urbizling, soll dem Menschen seine Seel nehmen. Der beste Freund das is das Geld, das bleibt derheim, wenn er gleich noch aso viel hat, kann er doch nix mitnehmen. Der ander Freund, das is sein Weib un Kinder, gehn mit ihn bis ans Grab, schreien un weinen, kennen ihm nit helfen. Der dritt Freund den acht der Mensch vor nix, der geht mit zum Melech.«
Die Stimme verklang wie in einer Höhle. Es befand sich aber noch ein Rabe im Zimmer, der vom alten Elieser aufgezogen worden war und der, lauernd auf einer Stange hockend, sein düstres Krächzen in die gelehrtesten Disputatationen zu werfen pflegte. Rahel sah den Vogel beständig an, denn ihr war, als sei ein menschliches Wesen in ihm verborgen, ja sie dachte: so ist mein Volk wie dieser Rabe. Doppelt schwarz und doppelt unruhig sah er aus im Gegensatz zu den glutgeröteten Mauern; mitten im Dunkel saß er wie auf einer Insel in einem Ozean von Finsternis.
Gebete und Fasten füllten allenthalben die Nacht aus. Es gab freilich manche, die wieder zaghaft geworden waren und die am liebsten zurückgeblieben wären, aber zu ihnen kam Zacharias Naar. Es war, als ob er die Schwächlinge und Feiglinge am Blick zu erkennen vermöchte. Es war erstaunlich, wenn er zu ihnen sprach und sie folgsam wurden wie Hunde, wenn er seine Augen auf sie heftete und in geheimnisvoller Weise ihre Entschlüsse formte wie Ton.
Der Zug der wandernden Juden nahm nicht ab. Im Osten häuften sich Ereignisse verwirrender Art. Es kam die Kunde, Sabbatai sei zum Sultan der Türkei zu Gast geladen worden und reise nun in Begleitung seiner zwölf Jünger und einer großen Schar von gelehrten Talmudisten zu Schiffe nach Salonichi. Eine ganze Flottille von Smyrnaer Schiffen sei in seinem Gefolge, Ehefrauen hätten ihre Männer verlassen um seinetwillen, Mütter ihre Kinder, Jungfrauen und Knaben das elterliche Heim. Gold und Geschmeide flösse ihm zu aus unerschöpflichen Bornen, und die Khalifen der Bucharei, die Fürsten Afghanistans und die Rajahs von Indien schickten Perlen und Geschmeide, Gesandte, Speisen für seine Festmahle, Gewänder von Purpur und Seide und Samt. Dergleichen war wie ein Rausch für das ganze Judenvolk der Erde. Ihre Erwartung hielt kaum Schritt mit ihrer Freude, eine sinnlose Vergötterung für den Menschengott erfüllte sie und der Jude, der so leicht der Raserei in jeglicher Gestalt zugänglich ist, vergaß sein irdisches Gut und die irdischen Dinge. Engel bliesen auf Sturmschalmeien und der finstere Gott der Juden, der Moses erhoben und Pharao gezüchtigt hatte, kam selbst, um dem Messias entgegenzuschreiten. Darum war es kein Wunder, wenn Zirle sich alsbald zu ungeahnter Höhe emporgerissen fand. Ihre Seele, im Beginn dieser Mission ein wenig fremd, entflammte sich im Angesicht des Mysteriums. Ihr Wesen war nicht keusch, wer ihr gefiel, dem ergab sie sich, oft mehr aus Mitleid als aus Begierde, denn sie sah die Männer vor sich zerschmelzen wie Wachs. Dennoch blickte sie mit Schauern hinüber in jenes heilige Land, wo der Sohn des Himmels ihrer harrte, der so schön sein sollte, daß niemand ihn anzuschauen vermochte ohne geblendet zu werden. Sie empfing auf rätselhafte Art Briefe von ihm, deren Inhalt ihrem Träumen und Wachen eine Fülle von Glückseligkeit verlieh.
Einst ging sie am Haus des Knöckers vorbei und sah Rahel unter der Türe sitzen. Etwas in dem Gesicht des Mädchens zog sie an, vielleicht die hilflosen Augen oder der bleiche Mund. Sie trat näher, stellte sich vor Rahel hin, nahm ihre Hand und drückte sie sanft. Rahel schüttelte befremdet den Kopf und lächelte störrisch. Aber plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten: es war, wie wenn etwas in ihr zerbrochen wäre: sie fiel auf die Knie und drückte ihr Gesicht schluchzend in den Schoß Zirles, die sich schmerzlich unzufrieden fand. Auf der Gasse stand Wagen an Wagen, vollbepackt zur langen, schweren Reise. Darin, und in den Mienen der alten Männer, die so besorgt waren, und doch eine freudige Zuversicht glauben ließen, lag etwas Erschütterndes für Zirle.
Der Maier Nathan wurde mit jedem Tag unruhiger, fragte seine Tochter, wann sie denn glaube, daß das Große sich ereignen würde, und holte den Rat der Frau Pesla ein, einer erfahrenen Wehmutter, von der noch in alten Chroniken zu lesen ist: daß sie mit frühem Morgen jedesmal nach dem Tempel geeylet sei, daß sie viele Jahre weder Fleisch noch Wein genossen und ohne Betten auf der Erde lag. Wenn der Nathan sein Weib betrachtete, die sich einer stillen Schwermut so ergeben hatte, daß sie oft stundenlang mit geschlossenen Augen kauerte, so wurde ihm bang in seiner Seele und seine letzte Zuflucht waren seine Kostbarkeiten. Auch tat er alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und dies um so mehr, je stärker er die Verachtung empfand, mit der man ihm begegnete. So errichtete er in einer Nacht einen großen Scheiterhaufen hinter seinem Haus, setzte ihn in Brand, stand davor wie vor einem Altar und betete, als das Feuer lohend gegen Himmel stieg. Entsetzt kamen Männer herbeigelaufen, ihn zu fragen, was dies zu bedeuten habe. »Ich hab' Flachs hineingeworfen,« sagte der Nathan, doch kein Mensch konnte es begreifen. »Ich faste,« fuhr er fort, »wegen eines bösen Traums, und Rabbi bar Mechasja sagt: Fasten ist dem Traum, wie Feuer dem Flachs.« Alle schüttelten spöttisch die Köpfe und gingen. Die Gerüchte, die über Rahel umliefen, wurden häßlich und abenteuerlich und bald galt sie für unrein; und doch wandelte sie umher wie im Schlaf, dachte der Wochen, wo noch die Liebe ihren Gang verschönt hatte, wo keine Nacht saumselig genug war für den frischen Trunk des Glücks – das aber war vorbei.
Am Samstag Kreszenz, den achtundzwanzigsten November, sollte der Aufbruch stattfinden. Frühe des Morgens, lang ehe der Osten sich rötete, versammelte sich die Gemeinde in der Synagoge. Die heilige Schrift wurde aus der Lade genommen und der Älteste trug sie mit gesenktem Kopf demütig und bleich hinaus, während die Gemeinde Mann hinter Mann betend folgte und der Schammes oder Schuldiener die Lichter verlöschte, die Türe fest versperrte und den großen, hohlen Schlüssel an einem sicheren Ort neben der Klauß vergrub. Dann hörte man weinen hinter vielen Wänden: es galt den Abschied vom Ort der Fron und der Verachtung.
Unfern der Mauer des Gottesackers kamen die Wagen zusammen. Regen wälzte sich her im grauenden Tag und der Sturmwind pfiff durch die Wagenzelte. Doppelt öde lagen die weiten Felder in der Dämmerung und die verlassenen Häuser schienen zu rufen, ihre leeren Fenster hatten etwas Ziehendes und Warnendes. Frauen kreischten auf dem feuchten Plan, Hunde bellten, Kinder wimmerten, die Männer riefen nach ihren Angehörigen und die Rinder brüllten. Zigeuner gesellten sich dem Zug bei und sie wurden geduldet, weil sie als Wegweiser dienen konnten; ihre Weiber riefen sich ihr gellendes Rotwelsch durch den brausenden Wind zu und aus einem verschlossenen Zigeunerwagen tönte in seltsamer Unbekümmertheit eine Geige in langen Mollakkorden. Es kam ein Bote und meldete, die freie Reichsstadt gebe den Durchzug durch ihr Gebiet nicht frei. Das nächste Ziel der Wanderung war daher die Schwedenveste im Süden. Die Besorgnis wurde laut, die Nürnberger möchten Soldaten aufbieten, um die Juden zum Bleiben zu zwingen. Manchen schien es, als ob Geschehnisse sich wiederholten von vieltausendjährigem Alter. Der Himmel gab ihnen recht; vor allen Plagen schien die Plage der Finsternis sich vorzudrängen. Der Tag war angebrochen und doch war es noch Nacht. Die Wege waren durchweicht und die Wagenräder standen tief im Kot. Zirle, der man eine Art vornehmer Karosse gegeben hatte, lehnte bleich im Rücksitz. Im strömenden Regen stand der junge Wagenseil vor dem Gefährt. Unter großer Feierlichkeit hatte er gestern den christlichen Glauben abgeschworen und war zum Jünger des Messias geworden; nun wollte er mit fortziehen, wollte alle Bande der Heimat zerschneiden, nur um unverwandt in Zirles Antlitz schauen zu können. Nicht beachtenswert erschien es ihm, daß sie die Braut des Sabbatai war; darin war so viel Überirdisches und Unsinnliches, daß ihn nichts bei diesem Gedanken beunruhigte. Er wußte nicht, daß er der Urheber des Verderbens für die Auswanderer war. Die stille Gärung unter den Christen des Hofmarkts war vom alten Pfarrer Wagenseil zur offenen Flamme geschürt worden, und noch im Lauf des Tages entstand ein Einverständnis mit den Nürnbergischen zur raschen Tat. Nur die Furcht vor dem Gloriosen und Erhabenen, die in der Stimmung dieser Tage lag, hatte bisher den feindseligen Arm gelähmt.
Um den Gottesacker vor frevlerischen Händen zu sichern, wurde das Tor mit fünffachem heiligem Siegel verschlossen. Gegen acht Uhr wurde endlich, mitten in der größten Verwirrung durch ein dreimaliges Hornsignal das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Die Zigeuner hatten sich bereits an die mit Lebensmitteln gefüllten Wagen gemacht und rauften um Fleisch und Brot wie die Wölfe. Keiner verstand den anderen im Tumult; Ermahnungen und Ermunterungen verhallten fruchtlos. In manchen Augen tauchte jene geheimnisvolle Verzweiflung auf, die durch einen unsicheren und brennenden Glanz den Schein von Mut erhält und sich durch rastlose Geschäftigkeit unkenntlich macht. Der Lärm und das Geschrei erscholl weit hinaus, scheuchte die Krähen aus den kahlen Feldern empor und die Peitschen der Kärrner schallten durchdringend bis an den Wald hinüber und klangen zurück als ein schüchternes Echo. Die Wolken sahen aus wie zerzauste Leinwand und der ganze Himmel glich einer grauen Wüste. Am Kreuzweg nach Unterfarrnbach stieß die kleine Judengemeinde dieses Dorfes zum großen Hauptzug. Bald flatterten schlecht befestigte Zelttücher im Wind und allerlei leichte Gegenstände flogen in der Luft herum. Was half das Beten der Frommen und das fromme Deuten der Talmudisten? Was half der Glaube und die Begeisterung? Der finstere Judengott ließ nicht mit sich spaßen und streckte seine grausame Hand herab, daß sie wie eine Mauer vor jenen süßen und verlockenden Zielen stand, die eine morgenländische Phantasie heraufgezaubert hatte. Oft saß ein Gefährt fest im dicken Kot und fünfzig und mehr Männer mußten es unter Anspannung aller Kräfte herausschieben. Ein Wagen diente als Betzelt, und in ihm war auch die heilige Lade in kostbarem Putz aufbewahrt. Der Ober-Rabbi, der Chassan, die Rumpeln und Wolf Batsch saßen herum und sangen Lieder des Sabbatai. Boruchs Klöß in seinem Wagen hielt sein Weib umschlungen; das Mittagessen, eine fettige Mehlspeise, stand in einer zinnernen Schüssel vor ihnen, aber sie aßen nicht, sondern sahen beide stumpfsinnig in die erkaltende Speise. Dumpfe Schreie schallten in ihre erbärmliche Behausung; manche hatten ihre Hauskatzen mitgenommen, und die Tiere miauten unaufhörlich aus unauffindbaren Verstecken. Dann wurde wieder das Ächzen des Windes laut; an den spärlichen Baumalleen der Straße flogen die braunen, nassen Blätter in geisterhaftem Tanz umher, und die Äste bogen sich knarrend. Der Regen prasselte und trommelte auf die dünnen Dächer, die Achsen wimmerten, an vielen Gespannen standen die Tiere störrisch still und waren nicht fortzubringen, man mochte sie quälen oder ihnen gütlich zureden. Im Gefährt des Maier Knöcker war es ruhig, denn die Thelsela kauerte teilnahmslos in einem Winkel und in einem anderen Winkel kauerte Rahel. Nur der Nathan selbst schien froh bewegt. Aus irgend einem Grunde schien er glücklich zu sein; er zwinkerte oft freundlich mit den Augen und fragte: »Rahelchen, wann kommt das güldene Mädchen? das himmlische Töchterchen?«
Nach drei Stunden erreichte die Karawane den Wald, der eine Viertelmeile entfernt lag. In sanfter Steigung sollte es nun bergan gehen, aber vorher wurde eine Stunde Rast gehalten. Der Wald war finster, die Zweige trieften vom Regen, der Boden war schwarz und schlammig. Ein eigentümlich klirrendes Geräusch lief wie eine Welle durch die Baumkronen. Zwischen den Stämmen in der Tiefe lagerte aufdringlich die Nacht und bisweilen war der ferne Schrei eines Wildes vernehmbar oder ein Laut wie das Schlagen einer Axt. Der Himmel war verschwunden, die Ebene war nicht mehr zu sehen, und Regenschleier und Nebelschleier machten den Pfad zu einem unsicheren Bilde. Ein Vogel flog auf und huschte scheu und hastig ins tiefere Gehölz. Über dem sumpfigen Grund lag der Tod. Fern fühlten sich alle schon der Heimat, ihren Gärten, ihren Häusern, dem Bereich ihrer Kinderspiele, dem Schauplatz ihrer Sorgen. Rahel lehnte, mit einem dicken Wolltuch geschützt, stumpf in ihrer Ecke. Dennoch fühlte sie etwas in sich, das sie von allen unterschied; sie fühlte sich edler und besser durch die vergangene Leidenschaft. Auch empfand sie schaudernd das junge Leben in sich, täglich mehr, täglich erschreckender, gleichwohl war es so märchenhaft und unglaubwürdig, dies zu tragen, daß die Seele stark wurde und sich aufrichtete, als sei sie selbst etwas Körperliches.
Es ging zur Höhe, wo die Veste stand. Männer und Weiber waren ausgestiegen und schleppten sich zu Fuß. Die Kärrner, die für schweres Geld gemietet worden waren, weil die meisten jüdischen jungen Leute nicht mit Pferden zu hantieren verstanden, und die an der nächsten Grenze durch andere abgelöst werden mußten, machten bissige und feindselige Bemerkungen. Viele Frauen trugen ihre Kinder auf dem Rücken, in Tücher eingehüllt. Langsam und mühevoll ging es hinan. Das Geschrei der Fuhrleute erfüllte die Luft, die Zigeuner heulten durcheinander, daß es rings widerhallte wie in einem Kessel, und als einmal eine Wildsau über den Weg rannte, kreischten die furchtsamen Weiber durchdringend auf, auch Männer wurden blaß und starrten fassungslos vor sich hin. In halber Höhe begannen die Steinbrüche, die nach dem großen Frieden von Nürnberger Bürgern gekauft und ausgebeutet worden waren. Jetzt galt es, Gestrüpp und überhängende Äste aus dem Wege zu räumen, und man mußte vorsichtig sein, damit kein Rad dem Abgrund eines Bruches zu nahe kam. Drunten lagerte schwarzes Wasser und schien brunnentief zu sein. Der Regen bildete enge Ringe und der Himmel spiegelte sich darin mit düsterer Stirn. Schutt, Geröll und unbehauene Steine lagen umher; allenthalben gab es Löcher und tückische Schluchten, Heidekraut und Brennnessel wuchsen an den Hängen. Die Brüche glichen zerstörten Häusern von Riesen und hatten etwas so frisch Verlassenes, daß man oft aus einem Abgrund den ungeheuern Leib des Bewohners auftauchen zu sehen glaubte.
Es ward Abend. Dicke Pfützen von Regenwasser standen in den Höhlungen des Weges, die Räder fuhren hinein und das Wasser spritzte hoch auf. Erstaunlich war es, daß noch keiner an eine Rückkehr dachte, da doch nur Peinigungen und Mühsale zu erwarten standen. Sie blickten unerschüttert in die mysteriösen Weiten, und es war eine dumpfe Ergebung, die sie hinauswandeln hieß, verstummt vor dem unhörbaren Gebot eines Hüters in der Ferne. Wühlten Zweifel in ihrer Seele? Waren sie zu müde, mit ihren Zweifeln sich abzufinden? Zu stoisch oder zu sklavisch, den Willen der Idee zu brechen? Zu feige, um sich bloßzustellen durch Ahnungen? Ein geduldiger Fatalismus war über sie gekommen. Als es finster wurde, erhob sich ein ungestümer Sturm. Die Stämme erzitterten, die Pechfackeln verlöschten.
Auf einmal, es mochte um die sechste Nachmittagsstunde sein, erschallten von vier Seiten im Dickicht des Waldes gleichzeitig Trompetensignale. Der ganze Wagenzug hielt fast mit einem Ruck still. Ein furchtbares Schweigen, eine wahre Totenstille entstand im Nu. Alle wußten, was nun kommen würde. Da oder dort, in einer Lücke des Gehölzes erschien ein Reiter in der Tracht der Nürnbergischen Bürgersoldaten, beleuchtet von den Fackeln, die sie am Bug des Pferdes befestigt hatten. Mit höhnischem Lächeln betrachteten sie den erstarrten Zug der Auswanderer; sie verachteten die kriegerische Aufgabe, die ihnen zu teil geworden war. Die Stimme des jungen Wagenseil erschallte: zu den Waffen, zu den Waffen! Ein heiserer Schrei, erstickt durch die Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit und des Fehltritts. Da krachte donnernd eine Flinte; der greise Rabbi Elieser sank, ohne einen Laut von sich zu geben, ins schwammige Erdreich, und sein altes Blut floß ungehemmt dahin und mischte sich mit dem Regen. Jetzt wurden die Gemüter aufgerüttelt. Viele waren plötzlich wie betrunken. Sie stürzten zu den Wagen, packten, was sie gerade fanden: ein Küchengerät, einen Strick, eine Latte, einen Eisenstab, einen Besen, eine Flasche, ein altes Türschloß, Lenkriemen für die Pferde, Steine, Stöcke und Baumäste, das alles sollte Schutz geben gegen die Waffen geübter Landsknechte. Nur zehn oder zwölf hatten Flinten aufzufinden vermocht, aber da sie nicht mit der Hantierung vertraut waren, ergriffen sie sie vorn am Lauf und schwangen die Kolben drohend in der Luft. Doch schon knallten die Nürnberger von allen Seiten ihre Gewehre los und ein Knabe und zwei Frauen folgten dem Elieser in den Tod. Die Weiber begannen ein herzzerreißendes Weinen; ihr Wehklagen muß tief in den Schoß der Erde gedrungen sein, denn noch heute hört man es zur Nachtzeit dort in den Wäldern. Die Zigeuner allein verstanden zu schießen, aber sie hatten kein Ziel, denn die Pferde der Angreifer waren überaus unruhig und sprangen gequält von Baum zu Baum, während sie im Fackelfeuer ihre eigenen Schatten vor sich tanzen sahen. Viele alte Männer hockten mit fanatisch glänzenden Augen im Wagen, wo sich die Bundeslade befand, küßten die Schrift mit bebenden Lippen, beteten und sangen Psalmen. Die Kinder verkrochen sich unter die Räder, betäubt vor Schreck. Einer der Angreifer schrie auf seinem bockenden Gaul etwas von Ergeben und Umkehren, aber seine Worte verhallten, worauf er Befehl zu neuem Feuern gab. Nun mußten Boruchs Klöß und Wolf Bieresel an den Tod glauben und fielen hin und streckten sich aus. Mit ihren lächerlichen Waffen liefen die Juden auf ihre grausamen Feinde zu und fürchteten weder Sterben noch Wunden. Sie sahen nicht mehr, hörten nicht mehr, sie schrien hebräische Worte und ihre wunderliche Kleidung gab ihnen etwas Gespensterhaftes. Ein Teil stürzte zu Boden über Knorren und Wurzeln, denn das Erdreich war glatt und schlüpfrig, die nassen Zweige schlugen ihnen ins Gesicht, und dann lagen sie da und wälzten sich in konvulsivischen Zuckungen. Nichts mehr schien zu helfen, eine blutige Nacht schien im Nahen zu sein, da gellte plötzlich eine wie toll kreischende Stimme: Feuer! der Wald brennt! Und: der Wald brennt! der Wald brennt! lief es weiter in der Kette. Die Tannenstämme am zweiten Steinbruch waren wie von innen erleuchtet, in der Tiefe des Forstes stieg ein breiter Lichtkegel empor, ruhig und blendend. Die Luft war durchdrungen vom Purpur der Flammen, die nassen Blätter glänzten, das nasse Moos flimmerte. Schlängelnde Flammen spiegelten sich jäh im nachtschwarzen Moorwasser. Aufsteigend und aufsteigend wie aus einem unerschöpflichen Schlund vermehrte sich die Kraft der Feuersbrunst. Das feuchte Holz prasselte und knatterte, die Flammen leckten gierig von Baum zu Baum, angetrieben durch den sausenden Sturm, der von den Feldern herauffegte. Es wurde drückend heiß; als ob sie aus den Wolken hervorgetreten wären, erschienen die Ruinen der Schwedenveste zwischen den Feuern. Schrei auf Schrei erschallte, Schreie gräßlicher Angst, wie sie der Wald niemals vorher und niemals nachher vernommen hat. Die Gäule der Landsknechte heulten mit Tönen, die stundenweit ins Land dringen und rannten unaufhaltsam den Abhang hinunter durch Gestrüpp und über Felsen. Ein junger Reiter, der Sohn des Nürnberger Stadtschreibers, blieb mit seinen langen Haaren an einem Ast hängen, während das tolle Roß weitersauste zur Tiefe. Hilflos, mit stets schwächer werdenden Rufen hing er wie einst Absalom und mußte die Flammen heranschleichen sehen, die ihn beleckten bei lebendigem Leib. Unter den Juden war die Verwirrung so groß geworden, daß viele geradewegs in das Feuer hineinflüchten wollten; die mit Pferden bespannten Wagen rollten hinter den entsetzt fliehenden Tieren davon und wurden halb zerschmettert; schmerzliches Stöhnen drang aus allen Ecken und die Zigeuner machten sich den Wirrwarr zu nutze und stahlen, was ihnen unter die Faust kam. In der größten Ratlosigkeit erschien Zacharias Naar. Er stellte sich vor die Fliehenden, erhob die Arme und vermochte ihren Lauf zu hemmen. Er führte sie so sicher durch die Flammen, als ob ihm diese aus Ehrfurcht den Weg frei gäben und alle folgten ihm wie Lämmer dem Hirten, und ruhig zogen die Fuhrleute die Wagen nach.
Im Wagen des Maier Knöcker lag ein neugeborenes Wesen auf der bloßen Diele. Rahel, durch die Häufung von Schrecknissen erschüttert, war mit einer Frühgeburt niedergekommen. Sie lag regungslos auf nacktem Stroh, während draußen der große Tumult wie Laute aus einer fernen Welt zu ihr kam. Sie hörte, wie die beiden Ochsen vor dem Gefährt angstvoll blökten; ein feiner Lichtschein, der stärker und stärker wurde, fiel in den Raum, aber auch das vermehrte ihr Wohlbehagen. Es war ihr, als stünde der Geliebte neben ihrem Lager und streichle sie, und sie sah einen alten, gepreßten Lederdeckel vor sich schweben, den sie oft in seiner Wohnung gesehen hatte, und der etwas Fremdes und Liebliches, etwas Märchenhaftes an sich hatte. Thomas Peter hatte sie oft zum Heiland bekehren wollen, aber was war ihr der Heiland und was war ihr selbst der Gott ihrer Väter neben der Liebe, die sie empfunden! In ihr sang und klang es stolz von alten Liedern mit einem süßen, hallenden Kehrreim, da der Abend im Mai kommt und die Blüten zart umhaucht und die stille Nacht von Erwartung schwer ist.
Holpernd rollte der Wagen gleich den andern unter der Leitung von Zacharias Naar ins Tal. Wortlos kniete Maier Knöcker vor dem Neugeborenen und achtete nicht das durchdringende Quietschen des Wurms. Er war völlig zusammengebogen, der Nathan, und schien nur noch ein Haufen von Kleidern. Er hatte die Fäuste geballt wie zum Schlag und bisweilen zitterte er am ganzen Körper. Das Wesen, das vor ihm sich wand, war ein Knabe. Sonst vermochte er nichts zu denken. In seinem Innern war ein Loch und um ihn herum war es kalt und finster. Ihm gegenüber saß sein Weib. Sie hatte Hilfe geleistet bei der Geburt. Sie war durch nichts bewegt worden. Es schien, als könne sie durch nichts mehr in der Welt überrascht werden, nicht durch Reichtum und Kleinodien, nicht durch Schmerzen und die Wandlungen des blinden Schicksals.
Die Bauern standen auf den Feldern und sahen hinauf in die brennende Höhe und in den glühenden Himmel. Scheu wichen sie zurück vor den Juden, die sich langsam zu sammeln begannen. Aus allen Richtungen kamen die Verstreuten und fanden sich mit Freudenrufen ein. Für die Nacht wurde ein Lager bereitet. die Zigeuner, deren Hilfe jetzt nötig gewesen wäre, waren spurlos verschwunden. Zacharias Naar stand sinnend an einem Ginsterstrauch und lächelte trüb seinem Werk zu, dem brennenden Wald.
Noch in der Nacht kam eine große Menge von Bauern, mit Sensen, Beilen und Knüppeln bewaffnet und sie konnten nur mit Mühe und unter großen Opfern an Gold und Silber auf friedlichem Weg zum Abzug bestimmt werden. Am Mittag des nächsten Tages wollte man aufbrechen und den Marsch beschleunigen, um den Feindseligkeiten der Nürnberger zu entgehen und sich zum Weiterzug in den Schutz der Markgrafen von Onolzbach zu begeben. Der Morgen sollte der Bestattung der Toten gewidmet werden. Das Kind des Wolf Batsch und die Frau des Samuel Ermreuther waren in der Eile im Wald liegen geblieben und ihre Leichen waren verbrannt. Die Familie des Elieser war die ganze Nacht an der Leiche des Greises gesessen, während die Frauen an den Sterbekleidern näheten. Auch in den andern Wagen, in denen es Verstorbene gab, blieb das Licht brennen zu den aufrichtigen Tränen der Trauernden. Oft klang der Schrei des Wildes aus der Höhe des Waldes herab, wo sich das Feuer beruhigt hatte – über der Ruine lag eine Rauchkrone, und die noch glimmenden Stämme leuchteten herrlich in die weite Ebene hinein.
Der Morgen kam. Die Gräber waren rasch gegraben, denn das geschieht bei den Juden mit Hingebung, weil sie alles für ein gutes Werk ansehen, was für einen Verstorbenen geschieht. Die Weiber mußten in der Behausung bleiben, sie durften nicht mitgehen bei Begräbnissen, außer den nächsten Blutsverwandtinnen, und denen durfte sich während dieser Zeit kein Mann nähern, weil es hieß, der Engel des Todes tanze mit dem bloßen Schwert vor den Weibern her. Bevor der Körper in den Sarg gebettet wurde, begoß man ihn dreimal mit Wasser, und ein alter Chronist sagt schon, daß dies etwas anderes bedeute, als eine äußerliche Reinigung. Feierlich erklingen dazu die Worte des Propheten: ich will rein Wasser über euch sprengen, daß ihr rein werdet von eurer Unreinigkeit, und von all euren Götzen will ich euch reinigen. Und als die Begießung geschehen, faßte der Chassan den Körper bei der großen Zehe an und kündigte ihn der Gesellschaft der Menschen völlig auf. Dann wurde der Leichnam mit weißen Kleidern angetan, sein Haupt wurde mit dem Gebetstuch bedeckt und so wurde er in den Sarg gelegt. Und weil die Juden alle Erde außer der Erde Kanaans für unrein achten, so bedeckten sie die Augen des Toten mit einer weißen Erde, die aus dem heiligen Land sein soll, und auf die Erde legten sie zerbrochene Scherben von Töpfen. Dann wurde der Sarg zum Grab getragen, und es war üblich, ihn auf diesem Weg dreimal niederzusetzen. Und jeder Freund warf drei Schaufeln Erde in das Grab, und der nächste Blutsverwandte zerriß seine Kleider. Der Totengräber nahm dabei sein Messer und schnitt oben einen Riß in das Kleid dieses Leidtragenden, der dann den Riß mit der Hand vollendete.
Die Sonne brach hervor aus den Nebeln, und leuchtend lag das Land. Langsam schritten die Leidtragenden zurück, wuschen dreimal ihre Hände, weil sie sich mit dem Tod verunreinigt haben und rissen dreimal Gras aus, um es rückwärts hinter sich zu werfen.
Die Zurückkehrenden wurden mit der Nachricht empfangen, daß Maier Knöcker, der Nathan, in Wahnsinn verfallen sei. Der Eindruck dieser Kunde war nicht tief, um so weniger, als Zacharias Naar vor dem Aufbruch in Worten von eindringlicher Kraft den Mut und die Zuversicht schwellte wie der Sturm das schlaffe Segel. Sie vergaßen Not und Mühen wieder und weihten sich von neuem dem Glauben an die große Zukunft, an die Macht und Unumstößlichkeit des Langgehofften, Langentbehrten. In solchen Stunden des Vertrauens wirkte jede Herbstzeitlose, die kümmerlich aus den Feldern grüßte, als ein Freudezeichen, jeder Sonnenstrahl hatte etwas Liebenswürdiges und Ergreifendes. Der eine Mensch macht den andern gut und froh; es ist ein stummes Zureden unter ihnen, ein wortloses Sichbestärken. Es ist, als ob das Unglück sie nun geweiht hätte zum Dienst des Glücks.
Mit gutem Mut zogen also die Juden im Schein der Herbstsonne ins Tal der Rednitz hinunter. Drei Wagen, – die des Obadja Änsel, des Hutzel Davidla, des Simon Fränkel, – waren schon früher aufgebrochen und bildeten die Vorhut. Sie fuhren nicht mehr so langsam wie am vorhergehenden Tag. Die weißen Wagendecken leuchteten freundlich in der Landschaft, der Wald stand in seinem matten Grün wie eine niedere Wand am Horizont, der Himmel war klar und lichtbegossen, und die Helligkeit strömte verschwenderisch über die Gefilde. Weit drüben lag die alte Kadozburg und auf der andern Seite, kaum noch als zarter Umriß erkennbar, das Kaiserschloß von Nürnberg.
Da sah der Hauptzug, wie die Vorhut im Gelände stille hielt. Maier Lambden hielt die Hand über die Augen und sagte, er sehe eine Anzahl fremder Wagen, die aus einem Gehölz herausgefahren kämen. Jetzt stiegen mehrere auf die Kutschböcke und sahen aufmerksam hinaus. Den meisten schlug das Herz in der Brust; sie fürchteten einen neuen Überfall. Der junge Wagenseil, der vortreffliche Augen hatte, sagte, es seien Leute in fremdländischer Kleidung, aber er hielte sie für Juden. Dann sagte er, Obadja Änsel ginge den Vordersten der unbekannten Karawane entgegen. Dann sahen alle, wie sie sich trafen, und wie sie kurze Zeit miteinander redeten. Und dann sahen sie, wie der Obadja Änsel die Arme ausbreitete wie ein Ertrinkender und hinfiel wie ein Stock. Und dann liefen zwei nach und redeten ebenfalls und schienen in Weinen auszubrechen und gebärdeten sich wie Verrückte. Zirle stand und schaute unablässig in die Ferne, wo diese Bilder spielten und plötzlich stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, als ob sie alles durch die Lüfte vernommen hätte und sank vom Wagen herab. Die vordersten Wagen kehrten um, kehrten zurück und in kurzer Zeit hatte sich ein tötender Bann von wildem Schmerz um die vorher so wanderungslustigen Menschen gelegt.
Sabbatai Zewi war zum Islam übergetreten.
Der Prophet, der seine Zeit beunruhigt hatte wie eine seltene Himmelserscheinung, hat bei Zeitgenossen und Nachwelt nur den Schatten des Geheimnisvollen hinterlassen. Wenn nicht seine außerordentliche Schönheit die Welt trunken gemacht, so war es doch der Zauber seines Geistes, die Größe seiner Seele oder das Hinreißende seiner Worte. Oder wäre es nichts dergleichen gewesen? Es gibt Stimmen aus jener Zeit, die ihn dem Teufel gleich erachten oder einem schlechten Schauspieler oder einem Würfelspieler oder einem Lüsternen oder einem Charlatan. Aber wer kann den Beweggrund seiner Handlungen kennen? Die Geschichte, wie ein leichtgläubiges Frauenzimmer, läßt sich betören von der Fabel und von der Fama und das ist gut, denn wie sollte der Nachgeborene die Fülle erdrückender Wahrheit ertragen, die sie ihm sonst nicht vorenthalten konnte?
Der fremde Zug, der den Weg der Fürther Juden so jäh gehemmt hatte, war ein kleiner Teil der Wiener Juden, die um diese Zeit von Kaiser Leopold des Landes verwiesen worden waren. Die Verzweiflung der Juden war groß. Es war, wie wenn ein hoffnungsvoller Sohn plötzlich hinstirbt, auf den man alles gesetzt, von dem man alles erwartet, und der nun geht. Doch es war schlimmer. Es war mehr als der Tod, schrecklicher als der Tod, etwas, das die ganze Haltlosigkeit des Lebens in einem grellen Blitz zeigte. Die Juden sind ein starkes und störrisches Volk; doch sind sie nur groß, wenn ein wenig Gelingen bei ihnen wohnt, und sie sind nicht lange groß, denn sie brechen leicht in dem Erstaunen über ihre eigne Große. Auch Sabbatai Zewi war ein Jude, vielleicht das klarste Bild des Juden, ein Stück Judenschicksal.
Viele zogen wieder nach Fürth zurück. Einige Familien der österreichischen Vertriebenen, die große Not litten und furchtbare Entbehrungen hinter sich hatten, siedelten sich nebst einigen jungen Leuten aus Fürth in dem stillen Tale an. Bei ihnen blieb Thelsela, das Weib des blödsinnigen Maier Nathan, mit ihrer Tochter und ihrem Enkel, der der Stammvater jenes denkwürdigen Menschen wurde, von dem in den folgenden Blättern die Rede ist. Die Thelsela war zu müde geworden, nach der stiefmütterlichen Heimat zurückzukehren, an der Seite der Christen zu leben und stets durch den Ort, wo sie gelitten, an die Reihe ihrer Leiden erinnert zu werden. Sie verkaufte ihr Haus und baute dort drüben ein neues. Sie wollte nichts mehr vom Leben; sie trug ihre Tage knechtisch und trug still.
Jener Ort, der mit Erlaubnis des freundlichen Herrn von Onolzbach gegründet wurde, hieß zuerst Zionsdorf, welcher Name dann durch die einwandernden Christen in Zirndorf umgewandelt wurde. Er gedieh, die Felder um ihn herum waren fruchtbar und gern bereit, die anvertraute Saat zehnfach zurückzugeben.
Zacharias Naar und Zirle blieben für immer verschwunden. Ihr Leben verlor sich in eine Folge von Sagen und schließlich wurden auch ihre Taten sagenhaft. Geschlecht auf Geschlecht erstand und verblühte, und eine neue Zeit kam. Und das Kommende war immer größer, freier und vollendeter, als das Vergangene, und der Jude, anfänglich nur Knecht, wert genug, den Fußtritt des übelgelaunten Herrn zu empfangen, tat seine Augen auf und erspähte die Schwächen und erriet die Geheimnisse dieses Herrn. Da griff er alsbald mit seinen Händen hinein in die Maschinerie der Völker und ihrer Gerichte und ihrer Kriege und oft verrichtete er ungesehen kaiserliche Dinge, wenn die Monarchen schliefen und die Minister schwach waren. Sabbatai wurde ein Moslem, und manche sagen zum Schein. Der Jude wurde ein Kulturmensch und manche sagen zum Schein. Manche sagen, der Verderber und der Verführer sitze in ihm und er verstünde die Bühne dieser Welt besser als ihre Erbauer. Dies ist sicher: ein Schauspieler oder ein wahrer Mensch; der Schönheit fähig und doch häßlich; lüstern und asketisch, ein Charlatan oder ein Würfelspieler, ein Fanatiker oder ein feiger Sklave, alles das ist der Jude. Hat ihn die Zeit dazu gemacht, die Geschichte, der Schmerz oder der Erfolg? Gott allein weiß es. Vor den Blicken tut sich ein unermeßliches Bild auf, denn das Wesen eines Volkes ist wie das Wesen einer einzelnen Person: sein Charakter ist sein Schicksal.