Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Vierzehntes Kapitel

Im kleinen Schustergäßchen in Nürnberg, welches vom großen Schustergäßchen aus zur Burg führt, stand ein altes, düsteres Haus. Selten wurde zur Tageszeit das Tor von schwerem Eichenholz geöffnet, selten waren die vor Staub und Bejahrtheit blinden Fenster abends erleuchtet.

Das Haus war von Baldewin Estrich bewohnt, und zwar nicht in allen seinen Räumen, sondern Herr Estrich hauste vornehmlich in einer großen, mit Steinen gepflasterten Küche, die ein Fenster nach dem einsamen Hof hatte mit seinen Holzgalerien und wunderlichen Säulen und Schnitzwerken. Hier verbrachte Baldewin Estrich seine Tage und einen großen Teil der Nächte, um zu experimentieren, zu analysieren, in Retorten dickliche Flüssigkeiten zu kochen, auf seltsamfarbenen Flammen noch seltsamere Körper bis zur Weißglut zu erhitzen, und was er auf diese Art suchte und erfinden wollte, war nichts mehr und nichts weniger als die Kunst des »Goldmachens«.

Doch nicht aus gemeiner Habsucht oder nur aus dem Drang, reich zu sein, frönte Baldewin Estrich dieser Leidenschaft. Auch war er weit davon entfernt, der Wissenschaft einen Dienst leisten zu wollen. Ja, er war sogar davon überzeugt, daß sein Weg von dem der Wissenschaft weitab lag, und daß er selbst ein Gespött der Fachgelehrten bilden müsse, als ein Mensch aus vergangenen Jahrhunderten, wo Wunder und Traktätchen, Zauberei und Hexenkunst die Brücke zwischen Sehnsucht und Besitz schlagen sollten. Auch war er nicht betört durch jene uralten Bücher der schwarzen Kunst, jene dunklen und verschwommenen Nachrichten über rätselhafte Magier und über den verlorenen Schlüssel zu dem großen Geheimnis. Er war mit der Wissenschaft der Zeit gegangen, eifrig und unermüdet, hatte in ihre verstecktesten Winkel geschaut, ihre zahllosen Dokumente durchstöbert, war an ihr verzweifelt und in dieser Verzweiflung zusammengebrochen wie ein Kind. Denn was sie ihm bot, war nicht das, was er darin suchte: ein Mittel, die Menschheit glücklicher zu machen. Dann begann er aus eigenem Antrieb hinauszubauen über das Vorhandene, stellte ungeheuerliche und gefährliche Experimente an, um den chemischen Urstoff zu finden, jenes vage Etwas, Äther oder sonstwie genannt, an das er mit allen Sinnen glaubte, weil ihm das Element, sei es nun Gold oder Eisen, Schwefel oder Chlor, nicht mehr ein untrennbares Eins bedeutete. Freilich wollte er mit der Praktik nichts gemein haben, und so baute er weiter, kühn und mutig, wie ein Mann, der in der Wüste wohnt und dort Städte gründet für die späten Geschlechter, die da wohnen werden, wenn das Meer von Sand fruchtbares Erdreich geworden sein wird. Durch nichts glaubte er die Menschen sicherer glücklich zu machen, als durch Gold; er glaubte ihnen den Frieden zu bringen, wenn er die heißeste Begierde stillen konnte, die sie erfüllte, oder vielmehr, wenn er ihnen so viel des Begehrten gab, daß sie der Überfluß gleichgültig machte. Die Überzeugung durchdrang mit Glut sein ganzes Innere, gab seinen Augen einen prophetischen Glanz und seinem Wesen das Gepräge der Versunkenheit. Nur wenigen war er bekannt als der Auffinder aller Höhlen des Elends in der Stadt; er wußte Bescheid in jenen anrüchigen Kneipen, in denen der Verbrecher Unterschlupf findet, in jenen Herbergen, wo der reisende Bettler sein Nachtquartier hat, in den Schlupfwinkeln unter Brückenbögen, in den abgelegenen Gassen der Vorstadt, in den Remisen der Eisenbahn, an Kirchenmauern, in Kellern und übelberufenen Höfen, – kurz, an jenen Orten, wo sich das menschliche Elend beständig oder vorübergehend ein trauriges Asyl sichert, und es war, als ob er sich durch den Anblick von Schmutz und Verkommenheit in seinem Vorsatz und Eifer stärken wolle.

Er lebte ganz allein. Das weite düstere Haus, das ihm selbst nicht einmal in allen Winkeln bekannt war, sah nur zwei Besucher von Zeit zu Zeit: seine Nichte Käthe und Frau Gudstikker. Diese kam nur, um den Kopf zu schütteln, und alles, was Estrich tat oder sagte, unbegreiflich zu finden; Käthe lauschte begeistert den dürftigen Reden des Oheims und gab ihm zu erkennen, daß sie an ihn und sein Werk glaube.

Im Laufe von neunundzwanzig Jahren hatte er sein ganzes Vermögen an seine Träume gesetzt. Nun war er arm und litt darunter tief. Er konnte einen, wie er glaubte, letzten und entscheidenden Versuch nicht ausführen, weil ihm das Kapital zur Anschaffung eines seltenen und teuren Apparates fehlte. Alles, was er an barem aufbringen konnte, betrug nicht mehr als zweitausend Mark. Er wandte sich an seinen Bruder, im voraus überzeugt von der Fruchtlosigkeit dieses Schrittes, denn dieser Mann, der ihn verachtete und verspottete, würde eher eine Hand hingegeben haben, als Geld zu solchen Zwecken. Da trug es sich zu, daß Baldewin Estrich mit Nieberding bekannt wurde.

Es war in der Nacht ziemlich weit draußen in der Vorstadt. Schmerzlich grübelnd, gleichgültig gegen Menschen und Dinge, schritt Estrich seines Weges, als mehrere durchdringende Schreie hörbar wurden. Am hohen Bahndamm zog ein offenbar betrunkener Kerl ein Frauenzimmer an den Haaren nach sich. Sie lag auf der Erde und so schleifte er sie weiter wie ein Bündel Holz und erwiderte jeden ihrer Schreie mit einem Schlag seines dicken Spazierstocks. Fast in demselben Augenblick, als Estrich dies gewahrte, sprang ein Mann hinzu, stellte sich erregt vor den Burschen und forderte ihn auf, das Frauenzimmer los zu lassen, worauf ihm jener eine Flut von Beschimpfungen zubrüllte. Nieberding (dies war der junge Mann) wiederholte seine etwas pathetische Aufforderung. Der Bursche schlug ihn mit dem Ende seines Prügels vor die Brust, daß er zurücktaumelte. Jetzt mischte sich Estrich darein. Sein grauer Bart, eine gewisse Feierlichkeit seines Wesens und der Zorn, der seine Stimme vibrieren ließ, mochten Eindruck auf den Burschen machen, denn er befahl der Dirne, aufzustehen und sie gingen weiter, er fluchend, sie heulend.

Nieberding und Estrich blieben die ganze Nacht zusammen. Nieberding lauschte gierig den Ideen des Greises. Seine an Idealen so armen und ihrer so bedürftigen Sinne berauschten sich au der willkürlichen Umwertung der Materie, an dem alten und nun wieder neu gewordenen Glauben vom Urstoff. Die mittelalterlich-romantische Welt der Versuchsküche, das überzeugte und überzeugende Wesen des alten Mannes, der wie ein Magier sich inmitten seines Reiches bewegte, um beim leisesten Wunsch die Geister der Luft zu bannen, daß sie den leblosen Stoff durchdrangen und beseelten, all dies machte Nieberding zum Spielball einer aufregenden Vision. Und dann kam er Tag für Tag, blieb oft eine Nacht und einmal sogar zwei Nächte hindurch in dem düstern Bau, wo er in einem riesengroßen, halbvermoderten Patrizierzimmer übernachtete. Und nach zehn Tagen kam er und brachte Baldewin Estrich fünftausend Mark zum Ankauf eines elektrischen Apparats. Mit feierlichem Schweigen nahm der Greis das Geld, dann bat er den jungen Mann, ihn allein zu lassen.

Baldewin Estrich saß wie im Fieber vor seinem Versuchstisch, die fünf braunen Banknoten neben der Hand. Er konnte die ersehnten Apparate anschaffen und die Mischung, die jetzt im Tongefäß vor ihm stand, mußte ihm zeigen, ob sein Leben ein phantastisches Irrwandeln oder ein Schicksalspfad war. Sein Arm zitterte, als er die Hand vor die Augen legte; gleich Feuerkugeln perlte es hin vor den verfinsterten Blicken. Tiefes Schweigen herrschte in dem verödeten Haus. Die Galerien des Hofes versanken in die Dämmerung und eine blitzende Scheibe sah bisweilen aus dem Grund der Wandelgänge. Ein Kater, Estrichs einziger Gefährte während der langen, schweigenden Nächte, saß schnurrend an der heißen Glut des Kamins.

Plötzlich schreckte der Alte auf, machte Licht, – eine hektische Röte war auf seine Wangen getreten, – nahm das Tongefäß, betrachtete die weiß schillernde Mischung, entzündete ein Drumondsches Kalklicht, hielt den Topf darüber und schüttete eine Säure in die kochende Masse, bis übelriechender Qualm den Raum erfüllte und den Chemiker in einer Wolke verhüllte. Dann nahm er eine pulverisierte Masse von violetter Färbung und schüttete eine Messerspitze voll in das Gefäß, das er hermetisch verschloß. Hierauf verlöschte er die Flamme, stellte den Topf ins Wasser, um ihn einem plötzlichen Erkaltungsprozeß auszusetzen und schritt unruhig, mit zusammengepreßten Lippen auf und ab. Als er nach einer Viertelstunde das Gefäß zertrümmerte und den erstarrten Inhalt prüfte, fand er ihn unverändert, außer daß die Farbe statt des reinen Weiß in bräunliches Gelb spielte. Mutlos ließ er die Arme sinken. Schließlich ist die ungeheure Hitze, die ich durch den elektrischen Apparat erzeugen will, gar nicht nötig, dachte er. Aber auch so sah er kein Ziel mehr. All die Säuren und Basen, Metalle und Metalloide nahmen für ihn das Wesen von persönlichen Feinden an, mit einer ausdauernden Bösartigkeit begabt. Er zündete die Lampe an und sah in ihrem Schein das Zimmer noch erfüllt von dem unerträglichen Dunst. Er nahm ein Fläschchen vom Sims, das eine blauschwarze Flüssigkeit enthielt, die beim Licht herrliche Reflexe warf. Er öffnete das Glas, ging zum offenen Kohlenfeuer (immer noch hielt er fast krampfhaft das erkaltete Metall in der Hand) und wollte einige Tropfen auf die hochrot glühenden Kohlen gießen, um den schlechten Geruch zu vertreiben, als die Masse samt dem Glas seiner bebenden Hand entsank; auf den Kohlen zersprang das Glas und erschrocken bebte Estrich zurück, ging ans Fenster, öffnete es, und die milde Luft des Februarabends floß herein und streifte seine heiße Stirn. In tiefen Gedanken saß er am Fenster, fast zwei Stunden lang. Dann stand er schwerfällig und leise stöhnend auf um die Lampe zu füllen, die heruntergebrannt war. Seine Blicke hefteten sich auf die halbverglommenen Kohlen im Kamin und unter den schwarzgewordenen oder noch düsterroten Stücken erblickte er einen großen, schwach glänzenden Gegenstand. Und je mehr er hinschaute, je mehr nahm der Glanz dieses Gegenstands zu. Seiner Wahrnehmung mißtrauisch gesinnt, hörte er nicht auf, starr in den Kamin zu blicken, bis ihn plötzliche Ungeduld und Erwartung näher treten ließen. Er zündete eine Kerze an, holte das gleißende Stück mit dem Feuerhaken heraus, nahm es in die Hand, schrie laut und durchdringend auf, so daß es in allen Teilen des Hauses widerhallte und sank vor Schwäche auf die Knie . . .

Gold!

Er hielt Gold in den Händen.

Es konnte ihn nicht täuschen in Form und Farbe. Er wog es in der Hand, und es war schwer. Er hielt es zitternd, mit überquellenden Augen zum Licht und sein Glanz schien den ganzen Raum zu füllen.

Gold!

Die Sehnsucht des Mittelalters war gestillt. Der Traum des modernen Forschers in Erfüllung gegangen durch die Hand eines Blinden, der nun auf dem Thron der Welt saß und die Menschheit seinen Knecht nannte. Der jeglichen Hunger enden, jeden Durst befriedigen konnte; für den es nichts Unerreichbares mehr gab im Reich der Träume. Welcher Zufall hatte es ihm geschenkt, das edle Geheimnis? Ein langsam glühender Kohlenhaufen, eine harmlose Tinktur, – bedeuteten sie mehr als ein Leben der Einsamkeit und des Nachdenkens?

Baldewin Estrich sank zusammen und weinte. Dann hielt es ihn nicht länger in dem öden Haus. Er nahm Hut und Mantel und stürzte fort. Schon war er durch viele Gassen geeilt, als er innehielt, die Hand an die Stirn legte, zurückkehrte, die eiserne Truhe aufschloß und alles, was er noch an barem Geld besaß, in Gold und in Banknoten, zu sich steckte. Damit eilte er den Stadtteilen des Elends zu, den Herbergen für Handwerksburschen, den dachlosen Nachtquartieren im Norden. Und keine Stunde war verstrichen, als er zurückkehrte, – nicht allein. Eine Armee schreiender Männer und Frauen waren um ihn und hinter ihm, verkommene Gestalten, die den Tod auf den Wangen trugen oder das Verbrechen auf der Stirn, Gesellen in Lumpen, barfuß, mit bloßer Brust, keifende Weiber aller Lebensalter und aller Abstufungen des Lasters, Kinder mit den frühblassen Wangen der Not, – und diese entfesselte Schar schwoll und schwoll. Wo Baldewin Estrich die ersten aufgetrieben hatte, wußte er nicht, denn er handelte in einer Trunkenheit, die nach Taten verlangte. Er hatte Gold, Gold unter sie verteilt, immer mehr, und die Kunde davon eilte wie ein Lauffeuer von Straße zu Straße, so daß der Haufen zuletzt die ganze Breitegasse ausfüllte. In den Häusern wurden die Fenster aufgerissen, und lachende oder furchtsame Menschen schauten herab; die Polizei erschien in den Nebengassen und schickte sich an, das Militär zu alarmieren, aber das Ungestüm des Pöbels stieg ums hundertfache und war durch nichts mehr zu ersticken.

Am weißen Turm tauchte eine Abteilung des Reiterregiments mit blankgezogenen Säbeln auf, aber eher hätte sie eine Felsenmauer durchbrechen können als die dichtgestaute Volksmenge, die Kopf an Kopf stand, über die es hinwogte von Schreien und Zurufen und Hilferufen und Anfeuerungen und heiseren Lauten der Begierde. Alle drängten nach oben, wo Baldewin Estrich totenbleich in einem engen Kreis finsterer Burschen stand, die ihm näher und näher rückten, tobsüchtig gemacht durch den Geruch des Goldes. Mit den wildesten Drohungen drangen sie auf den Greis ein, der kein Glied zu rühren vermochte. Es war, als könne er nicht glauben, was um ihn her vorging. Ihm war, als seien es fürchterliche Traumbilder, diese von den scheußlichsten Trieben bewegte Masse, die um ihn wogte, ihn haßerfüllt anstierte, den kleinen Kreis um ihn verengerte und verengerte, als ob sie ihn erdrücken und ersticken wollte, die nach Geld schrie und heulte, nach Geld und nach sonst nichts. Ein stürmischer und geheimnisvoller Schmerz erfüllte seine Brust, und er erschien sich wie ins große Meer verschlagen, schiffbrüchig, dem Tod geweiht. Da nahm er sämtliche Banknoten in seiner Tasche mit einer leidenschaftlich verächtlichen Bewegung und schleuderte sie fort, hinein in das brodelnde Meer, den ausgestreckten Händen, den funkelnden Augen entgegen. Wahnsinnige Schreie erschallten, er fühlte sich fortgerissen wie in einem Strudel, dahingeschleudert, dorthingeschleudert, fühlte Stoß auf Stoß an seiner Brust, sah hundert Arme hoffnungslos ausgestreckt, und wieder andre, die mehr Geld wollten, mehr, da schwanden ihm die Sinne. Er erhielt einen schrecklichen Schlag an die Stirn, sank hin, wurde mit Füßen getreten, fühlte Blut an sich herabströmen, und doch schlossen sich seine Augen nicht, als wolle seine Seele gewaltsam wach bleiben und alles sehend erdulden.

Und der Strom, der nun einmal in Bewegung geraten war, wälzte sich weiter. Diejenigen, die Gold erhalten hatten, waren noch unersättlicher, als die andern. Ihr Geist befand sich in Raserei, und diese Raserei war ansteckend. Viele zertrümmerten die Fensterscheiben der Bürgerhäuser, Steine flogen in die Stockwerke hinauf; die Weiber benutzten ihre Schuhe als Wurfgeschosse. Die Rufe: Blut! Rache! Tod! Nieder! donnerten oder kreischten durch die Luft. Die Verkaufsläden wurden eingeschlagen und mit dem Schrei: nieder die Juden! erstürmten entfesselte Scharen die verschlossenen Räume, demolierten Tische, Fenster, Verkaufsgegenstände und manche reizten zu Brandlegung und Plünderung. An vielen Punkten gelang es dem Militär durchzuringen; einzelne Schüsse wurden abgefeuert, denen höhnisches Gebrüll folgte.

Während dieser Vorgänge war ein eigentümlich schwüler Wind durch die Gassen gefahren; erschreckend schwarze Wolken waren heraufgezogen und hatten sich im Norden getürmt, indes ihnen gegenüber ein Stück reinen Himmels lag, auf dem der klare Mond schwamm. Dann zuckten Blitze aus dieser Wolkenwand, deren beängstigendes Dunkel die Firste der Häuser seltsam bleich erscheinen ließ, leiser Donner rollte über die Dächer hin, allmählich anschwellend; die Blitze wurden fahler, zackiger, breiter, schneidender und tiefer, der Donner weniger schwerfällig, und das Februargewitter hatte sich drohend angesammelt, ohne daß in dem Tumult irgend jemand darauf geachtet hätte.

Die Soldaten begannen erregte Massen von Männern und Weibern vor sich her zu treiben. Ein vor Haß wütender Haufe von Männern stellte sich gegen eine ganze Kompagnie; die Leute an den Fenstern stießen Angstrufe aus; Steine flogen unter die Soldaten, aufgestellte Messer, Glasscherben von eingedrückten Fenstern, ja ganze Holzklötze, bis endlich der Kommandant der Abteilung zum Angriff überging. Alles wandte sich zur Flucht; ein panischer Schrecken verbreitete sich; nur noch verzerrte Gesichter waren zu erblicken; die Weiber stürzten hin und waren vor Entsetzen gelähmt, die Männer nahmen Kinder unter den Arm und eilten davon wie gejagt. Aus den ferner liegenden Straßen kamen Zuschauer herbei und, mitergriffen von dem furchtbaren Schauspiel schrien sie so laut sie konnten, ergriffen nach dieser oder jener Seite hin Partei, folgten entflammt den immer noch tätlich vorgehenden Soldaten, wurden jedoch von der nachkommenden Reiterkolonne in die Seitenstraßen vertrieben. Währenddem floh der geängstigte Volkshaufen in immer größerer Verwirrung und gelangte auf den Lorenzerplatz, wo die Türen der Kirche weit offen standen. Aus dem Innern, wie aus einer dunklen Höhle schimmerte das glührote ewige Licht, und die von den Soldaten wie Hühner vorwärts getriebene Menge flüchtete sich in die Kirche, drängte sich unter heiseren Schreien hinein, zum Teil mit emporgehobenen Händen, als ob sie beten wollten, was jedoch nur deshalb geschah, weil das unbeschreibliche Gedränge sie dazu nötigte. Zornige Rufe erschallten aus dem seitab sich schiebenden Publikum; Polizisten und Gendarmen versuchten umsonst sich Bahn zu machen. Die Soldaten schienen wie trunken von blödsinniger Kampf- und Verfolgungsbegier und hörten die Befehle ihrer Vorgesetzten nicht mehr. Die ersten Reihen wollten eben durch das Tor des Domes eindringen, als eine Gestalt vor ihnen in Wahrheit förmlich aufwuchs. Die Soldaten blieben stehen. Sie sahen finster staunend in das Gesicht dieses Menschen.

Es war Agathon.

Wie eine Mauer stand er da.

Auf einmal fuhr ein entsetzlicher Blitz herab, der den ganzen Himmel in Stücke zu zerreißen schien. Ein fürchterlicher Schlag folgte. Und darauf Totenstille. Plötzlich erschallte von draußen aus einer engen Nebengasse ein langgezogener Schrei. Mehrere Schreie folgten. Die Leute an den Fenstern deuteten angstvoll in die Höhe und wandten die Blicke von dem Schauspiel auf der Gasse ab. Zugleich mit dem Blitz waren die elektrischen Bogenlampen an der Straßenkreuzung erloschen, so daß einen Augenblick lang eine drückende Dämmerung den Platz füllte, die durch den Wind auf- und abbewegt zu werden schien. Dann fiel eine schmale Feuergarbe aus der Höhe herab, ähnlich dem Aufflackern eines Strohfeuers, nur dunkler, purpurner, und zugleich wurde das Wächterhorn auf dem Henkerturm hörbar; die Menschen fingen an zu heulen, mit den Händen zu deuten, liefen dahin, dorthin, die Offiziere schrien, die Pferde der ausgerückten Eskadron begannen scheu zu werden. Eine grauenhafte Verwirrung entstand. Im Innern der Kirche hatte sich ein Knäuel von Menschen um den Altar gedrängt und starrte empor. Der Blitz war durch die Kirche gefahren und mehrere leblose Körper lagen auf den Steinfließen ausgestreckt. Das mystische Halbdunkel des Raumes begann allmählich einer satten Helligkeit zu weichen mit unruhigen, gespenstisch flackernden Schatten. Dabei blieben die bemalten Glasfenster dunkel, hinter ihnen lag graue Nacht, denn die Brandflut kam aus der Höhe. Viele zwängten sich mit Schreien und Rufen herein, riefen nach der Feuerwehr; dazu tönte schauerlich die Glocke vom brennenden Turm; es schien, daß der Glöckner, der keinen Ausweg sah, dessen Weg nach unten in Flammen stand, es schien, daß er mit der Anstrengung der Todesangst am Glockenstrang riß, während rote und trübe Flammen, Rauch und Funken um ihn emporschlugen.

Agathon stand totenbleich. Er streckte die Hände empor und von den mageren Armen glitt der Rockärmel zurück. Die am Altar gestanden, scharten sich bang um ihn, und jetzt kamen drohende oder warnende Stimmen, die Zurück und Hinaus riefen, auch hörte man das Gerassel der auffahrenden Spritzen, während die Glocke im Turm rasend wurde und lauter hell gellende Hilfeschreie von sich gab. Agathon blickte in das versteinerte Gesicht eines der Leblosen unter ihm und der Kampf der vergangenen Wochen wurde ihm in diesem Augenblick leuchtend gegenwärtig. Wie er in Winkeln und Verstecken die Nächte hingebracht; wie er einsam auf den Landstraßen geirrt, trank- und speiselos; wie er die stürmischen Tage an sich hatte vorbeisausen lassen; wie trotzdem mit unbezähmbarer Kraft seine Liebe zum Leben gewachsen war; wie seine Vergangenheit stimmenlos versunken war, ein Nichts; wie sein Auge schärfer wurde für die Zeit und für die Menschen; wie er überall Geducktheit und Unfrohheit gewahrte, Unoffenheit, Duckmäuserei, geheime Empörungslust. Und je einsamer er ward da draußen, je feuriger wurden seine Phantasien von einer gewaltsamen Wandlung, und er dachte, daß nicht nur das Alte stürzen müsse, damit das Neue komme, sondern daß es gestürzt werden müsse. Er dachte, daß die Städte zerstört, niedergerissen werden, verlassen werden müßten, damit der Mensch wieder sich selbst finde. Er schwelgte in glühenden Träumen, sein jugendlicher Geist saugte sich fest an den Brüsten des Lebens. Und wie er sich Herr über die Kräfte der Natur fühlte, empfand er auch Macht über die Menschen. Er dachte, als er jetzt eine bebende Menge sich um ihn drängen sah, daran, wie die Kinder aus den Dörfern ihm gefolgt, als wären sie durch einen Zauberruf angelockt, wie ihm die Bauern Essen und Trank gegeben, ohne daß er darum gebeten. So, voll von sich selbst, berührte er mit der Hand den Körper eines der vom Blitz Hingestreckten, während die Kommandorufe der Feuerwehrleute erschallten, das Militär dem Zudrang Neugieriger Einhalt tat, das Dach eines benachbarten Hauses vom Feuer ergriffen wurde, die Glocke des Turmes schwächer, gleichsam hinsterbend erschallte, die Dämmerung in der Kirche einer hellen Brunst wich und ein junger Priester in die Flammen stürzte, die auf den Altar herabgefallen waren, um das Allerheiligste zu retten. In diesem Moment bewegte der leblos Daliegende die Hand; Agathon, selbst bestürzt, wich zurück, Rufe wurden laut, die Kirche müsse geräumt werden. Gebrause und Zischen der Spritzen erschallte; da stieg Agathon auf eine Bank und gellte hinaus in den Raum mit einer Stimme, als ob es gälte, über den ganzem Erdkreis hinzuschreien:

»Laßt sie brennen, die Kirche!«

Er sah viele Gesichter unter sich verzerrt und lauernd zu ihm aufblicken, elende, sorgenvolle Stirnen, Munde mit kriechendem, fast flehentlichem Ausdruck, sogar Kinder, deren kranke Glieder er zu empfinden glaubte, und es war, als könne er durch das ganze Elend der Welt hindurchblicken, den verknoteten Knäuel des Daseins entwirren und er schrie noch einmal: »Laßt sie brennen, die Kirche!« Er hatte das Gefühl, als schauten alle Menschen sterbend nach ihm, und er dünkte sich wie der Vater eines neuen, freien, Gott-losen Geschlechts. Der fanatische Priester stürzte auf ihn zu und wollte ihn herunterreißen; seine fahlen Wangen zitterten vor Gier, aber die Menge schützte Agathon. Die Gefahr nahm zu; Agathon riß eine brennende Leiste vom Altar, hielt sie hoch wie eine Fackel und wandte sich dem Tore zu, gefolgt und umringt von einem erregten Schwarm.

Die Glocke hatte aufgehört zu läuten.


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