Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am Tag Dionysius war die Luft so klar, daß man die Kirchenglocken von Nürnberg vernahm. Ein gelber Schimmer lag auf den Wiesen und der Himmel war mit weißen, feinen, runden Wölkchen marmoriert. Ein Zug jüdischer Spielleute, die von der Domprobstei Bamberg verwiesen worden waren, brachte die Nachricht, der Messias sei von Smyrna aufgebrochen und käme nach Deutschland, die Gläubigen um sich zu versammeln und an ihrer Spitze ins heilige Land zu ziehen.

Als Rahel dies vernahm, erwachte sie aus ihrer langen Apathie. In ihr war nur ein Gedanke: daß sie fort sollte aus dem Land, wo der Geliebte wohnte; denn in ihrer heißen und erregten Phantasie war ein Gerücht schon einem Geschehnis gleich. Mit glühenden Augen eilte sie auf die Gassen; niemand beachtete sie heute. Viele schienen in einer Tollheit befangen, wie eine Schar Verschmachtender, denen man feurigen Wein gegeben hat. Kein Ritus wurde mehr beachtet, weder das Abend- noch das Morgenminjan, weder der Socher, noch der Bund der Beschneidung. Über den Lilienplatz lief ein junger Mensch mit nacktem Oberkörper; er hatte sich auf die Brust die Worte gemalt: wir empfahen was unsere Taten wert sind, wir leiden Pein in heißen Flammen. Der Schmuel, der Richter der Gemeinde, ein Mann von siebzig Jahren, der sonst Tag und Nacht den Talmud studiert, hatte sich im Schulhof bis an den Hals in Erde eingegraben, und sein Leib war beinahe erstarrt. In hebräischen Worten schrie er leidenschaftlich das Lob des Messias und viele Menschen standen bleich und andächtig um ihn her. Rahel eilte hinaus zum Schießanger, wo noch von der Kirchweih die Wagen der Zigeuner standen, und dann lief sie hinüber zum Schwedenstein, wo sie kraftlos ins Gras sank. Sie hörte die Zigeuner schreien in ihrem Rotwälsch und sah sie gestikulieren, trotz des Nebels, der über der Landschaft lag. Der Schulklopfer und der Totengräber liefen an der Kapelle vorbei, aber sie nahm es nicht wahr. Ihr war zu Mut, als läge sie schon tagelang hier, ohne Sinn für die Flucht der Zeit, und als müsse sie noch tagelang und wochenlang hier kauern, unfähig zu begreifen, was in ihr vorging. Der Himmel bedeckte sich mit Wolken und ein feiner Perlenregen fiel. Eine dieser Wolken, die heraufzogen vom Vestner-Wald, hatte die Gestalt und die Züge des jungen Studenten, den sie liebte. Sie sah es genau: die Wolke trug einen schwarzen Bart, der zierlich um Kinn und Wangen stand und kokett zugespitzt war. Sie sah auch den kleinen Mund und die kleine Nase und die unsteten Augen. Und dann stand er plötzlich bei ihr, Thomas Peter Hummel, und ihr war, als könne sie seine Hand fassen. Er sprach ihr zu, fein und schnell und geschickt und wenn er überzeugte, war es nicht in dem, was er sagte, sondern in seiner Stimme, in seiner gewandten, schlangenhaften Art, in seiner heiteren Geschwätzigkeit. Er wählte seine Worte wie ein scharfer Politiker und spielte taschenspielerhaft mit den Gefühlen. Aber wie es in der Welt geht, sie liebte ihn.

Ein Mann und ein Weib kamen vom Anger her. Ihr gemächlicher Schritt zeigte, daß sie den Regen nicht achteten. Rahel erkannte Zacharias Naar und jenes schlanke Mädchen, das sie bei den Schaustellungen am Schießanger gesehen hatte. Sie war schön. Man muß die Augen zumachen, wenn man sie sieht, dachte Rahel. Sie war blaß und krank, wie verzehrt von einer geheimen Sehnsucht. Jede Linie an ihrem Körper hatte etwas Leidendes und die Form ihres Mundes verriet Geduld und Lieblichkeit. Dennoch war etwas an ihr, das all dies Lügen strafte, vielleicht in der Heftigkeit und dem Trotz ihrer Augen. Bald verschwanden sie an der Biegung des Wiesenwegs. Rahel blickte starr in die leise dämmernde Landschaft hinein und war froh, daß sie nicht gesehen worden war. Sie fühlte nicht Kraft genug, wieder nach Hause zu gehen und fürchtete, die einbrechende Nacht könne sie noch immer hier finden. Sie erschien sich ausgestoßen und verfolgt; verurteilt, für sich allein Schmach, Bedrückung, Ruhelosigkeit und Heimatlosigkeit zu ertragen; sie wollte nicht mehr heimkehren. Sie haßte Vater und Mutter, haßte die bleichen, gebetseifrigen, jüdischen Männer, ihre gefräßigen, schwatzhaften Weiber, die altklugen Knaben, die frühreifen Mädchen, die kindischen, fanatischen Greise: alle schienen ihr verächtlich und unrein. Doch wohin sollte sie gehen, wenn nicht nach Hause; sie dachte: endlos ist die Welt und für ein Judenmädchen gibt es kein Erbarmen, keine Unterkunft, selbst ein Räuber darf sie stoßen mit seinen Füßen. Schließlich stechen sie einem die Augen aus, wenn sie es für gut finden, und dann mußt du verhungern. Sie glaubte nicht an diesen Messias, sie glaubte nicht an seine Prophezeiungen, vielleicht nur deshalb, weil es ihr gelungen war, durch einen plumpen Betrug alle, die um sie herum waren, im Namen desselben Messias zu täuschen

Während sie so sann und dabei in den westlichen Himmel sah, teilten sich dort die Wolken, und auf einmal warf die untergehende Sonne eine Flut schwefelgelben Lichtes über das Firmament. Bäume, Steine, Wiesen, das Wasser, der Wald, die Häuser in der Ferne, die Kirchtürme, ja die Luft selbst schien lebendiger Körper zu werden. Da lächelte Rahel und die Spannung ihrer Seele löste sich. Tiefer Frieden erfüllte sie, und sie schloß träumend die Augen.

Ein Bauer kam von Ronhof her über das Feld geschritten, der seinen Kopf mit einem Sack verhüllt hatte. Er sah das Judenmädchen am Boden kauern und war so erschrocken über den Anblick, den sie bot, daß er sich bekreuzigte und spornstreichs gegen die Häuser des Orts rannte. Eine Schar von Juden kam ihm entgegen, die zum Schwedenstein wollte, um das Grabmal des schönen Joseph mit Gewalt fortzunehmen, nachdem die Familie beim Schultheiß und beim Friedensrichter mit ihren Bitten abgewiesen worden war. Der Bauer, dessen eines Auge erblindet war, machte den Juden die Mitteilung, daß er eine Hexe am Schwedenstein gesehen habe. Aber jene erkannten schon von weitem die Tochter des Knöckers, und einer lief zurück, um Maier Nathan zu holen. Der Ronhofer Bauer hatte schnell erhorcht, daß die Juden den Schwedenstein berauben wollten; er schwang drohend den Arm, lief fort und alarmierte einen Hornmacher, einen Schneider, einen Goldplätter und zwei Metzger- oder Schlächterburschen, die in der Nähe des Schießangers ihre Verrichtung hatten. Als Maier Knöcker bleich und atemlos aus der Fischergasse kam, stürzten sich Hornschuch, der Kammacher und Federlein, der Schneider, voll Wut auf ihn, während ein paar alte Weiber aus dem Erdgeschoß eines grünen Hauses herauskeiften und ihren Haß gegen das Judengesindel nicht zu zügeln vermochten. Die andern Helden rannten mit dem Ronhofer Bauern zum Schwedenstein und freuten sich baß auf die bevorstehende Prügelei; im Laufen verteilten sie die Opfer unter sich und rechneten aus, daß jeder etwa drei Juden zum Prügeln bekommen würde.

Es war dunkel geworden: ein milder Abend. Die Sterne blinkten unter den Wolkentüchern hervor; auch der volle Mond stieg im Osten herauf, gerade über den Türmen Nürnbergs. Ein olivenfarbenes Licht ging von ihm aus, während im Westen das finstere Rot und das bronzene Gold allmählich verblaßten. Wer sich niederließ auf die Knie oder sich platt auf den Leib legte und aufmerksam hineinsah in das ebene Land, konnte glauben, daß die Erde Atem schöpfe wie ein Mensch, daß das melancholische Frankenland gleichsam die Brust der Erde sei, die sich auf und nieder bewegte in ruhigem Traumschlaf.

Kaum waren die händelsüchtigen Burschen am Schwedenstein angekommen, als sie erstaunt und bestürzt stillstanden. Der Schelomo Schneiors, der Bürgermeister der Juden, hatte sich seiner Kleider entledigt, und mit einer kurzen Geißel schlug er wütend auf seinen Körper los. Sein Gesicht war so verzerrt, daß es einen widerlichen Anblick bot, und seine dicken, blutroten Lippen schoben sich, Gebete murmelnd, hin und her. Sein Körper zuckte vor Schmerz, und die Rippen quollen heraus unter der magern, verwundeten Haut. Die andern Juden standen totenbleich um ihn her wie Scharwächter und beugten taktmäßig das Knie. Behrman der Levit rief mit einer Stimme, die schrill und unheimlich hinausscholl in den friedlichen Abend der Felder, eine kabbalistische Anrufung: Der König Messias wird erscheinen, und ein auf der Morgenseite befindlicher Stern wird sieben Sterne von der Mitternachtsseite verschlingen, und eine schwarze Feuersäule wird vom Himmel herabhangen sechzig Tage lang. Alsdann werden alle Völker zusammentreten gegen die Sprößlinge Jakobs, und eine große Finsternis wird in der Welt sein, fünfzehn Tage lang.

Mit einem irren Schrei stürzte Maier Nathan, den seine Feinde endlich losgelassen hatten, in den Kreis, ergriff Rahels Kopf mit beiden Händen, streichelte sie und fragte mit Todesangst in der Stimme, warum sie fort sei und ob sie krank sei. Rahel schüttelte den Kopf.

Der Schneider Federlein und der Hornmacher hatten ihren Mut eingebüßt und unverrichteter Sache zogen sie mit den andern davon; sie schickten den Ronhofer Bauern zu Herrn Pfarrer Wagenseil, damit er Bericht gebe und sie wegen des Schwedensteins keinerlei Verschulden treffe. Die beiden Schlächterburschen und der Goldplätter, die alle drei sehr gedrückt schienen, wünschten alsbald eine geruhsame Nacht und der Schneider und Herr Hornschuch gingen allein weiter. Am Gänsgraben kam ihnen ein Leiterwagen entgegen, dessen Fuhrmann dem Hornmacher bekannt war, und nun teilte jeder dem andern seine Gedanken mit. Der Fuhrmann wußte befremdliche Dinge zu sagen von Himmelszeichen und vom nahen Ende der Welt. Es sei gut, meinte er, daß es in Nürnberg keine Juden gäbe, denn dort seien die Bürgersleute noch halbwegs zu vernünftigen Dingen zu gebrauchen. Er erzählte beiläufig, daß er am Juden-Bühel in Nürnberg einen großen Stein gesehen habe mit der Inschrift:

Der Stein ist nach den Juden blieben
Als sie von Nürnberg wurden vertrieben
in Wolfgang Eysen Haus, das ist wahr
im vierzehnhundertneunundneunzigsten Jahr.

Allmählich wurden die Gassen mondhell. Herüber von den Wäldern der Veste wogten herbstliche Dünste. Die Blätter der Bäume, ein wenig regenfeucht, schimmerten silbern und zitterten im Abendwind.

Fast alle Fenster in den Häusern waren erleuchtet. Die Juden schienen dreifaches Licht zu brennen, und die Christen hatten den unbestimmten Trieb, wachsam zu sein. Uralte Prophezeiungen waren auf dem Wege der Erfüllung, und die Schwülnis, die vom Morgenland herüberkam, war so drückend wie einst vor sechzehnhundert Jahren, als man Jesus Christus gekreuzigt hatte.

Junge jüdische Mädchen liefen in den Gassen umher mit aufgelösten Haaren; manche hatten die Brust entblößt und ihre Augen glänzten wie von übermäßigem Weingenuß. Knaben saßen in Gruppen vor den Türen und sangen Psalmen und Hymnen an den Messias. In den Zimmern hatten sich die Greise versammelt und gaben sich mit tiefer Inbrunst dem Studium der Kabbala hin. Es erhob sich in einem Haus am Kohlenmarkt der neunzigjährige Chajim Chaim Rappaport und sprach: »Wäre er es nicht, der die Schmerzen von Israel über sich nähme, wahrlich kein Mensch wäre es zu erdulden imstande. Unsere Krankheiten wird er tragen und alle Übel und Schmerzen nimmt er ab von der Welt.« Dann verkündete er, Zabbatai Zewi habe den vierbuchstabigen Gottesnamen anzusprechen gewagt und der Türke Murad Effendi sei dadurch bekehrt worden.

Im Hause des Ober-Rabbi waren fünfzig Männer und Frauen zu einem Mahl vereinigt. Je weiter der Abend vorschritt, je ungezügelter wurde der Freudenrausch, je heißer wurden die Köpfe vom Wein, vom Spiel, von Erregungen seltsamer Art. Viele warfen die silbernen Becher in die Luft und viele knieten hin und schrien mit heiserer Stimme Gebete. Der Rabbi selbst war es, der zuerst die Kleider von sich warf und dann der schönen Esther Fränkel das Gewand vom Leibe zerrte. Ihre Lippen küßten sich, wie zwei Ertrinkende hielten sie sich umschlungen und nahezu nackt schwangen sie sich in einem orgiastischen Tanz umher. Andere folgten bald dem Beispiel; überall erhoben sich bleiche Gesichter von der Tafel, glühende Augen starrten fassungslos in die kommende Welt der Erlösungen: wie wenn ein scheuer Sklave plötzlich die Freiheit empfängt und in wilder Zügellosigkeit sich selbst zerfleischt und seine eigene Habe zerstört. Männer, die schon an der Schwelle des Greisentums standen, gebärdeten sich wie Faune. Weiber mit grauen Haaren gaben sich beklagenswerter Verirrung hin. Die Thelsela Knöcker trank fast ohne auszusetzen schweren Burgunderwein, lallte mit kindischer Stimme hebräische Worte von der Messiasbraut, bis sie besinnungslos zu Boden sank. Es waren junge Mädchen da, die sich einer rasenden Liebesgier überließen, als wollten sie damit die Jahre der Entbehrungen in ihrem Gedächtnis verwischen. Manche sahen aus wie Furien, die lechzend von Lust zu Lust wankten und sich schamlos in finstern Lastern begruben. Geschrei, Ächzen und schrilles Johlen herrschte und eine scheußliche Musik wurde ausgeübt von fünf betrunkenen Spielleuten. Dazwischen erhob sich ein düsterer Gebetskanon, den drei oder vier Männer in einer dunklen Ecke hersagten, oder ein fanatischer Schrei um Erlösung, der von einem Haus in einer fernen Gasse erwidert wurde. Michel Chased, der Chassan, hatte die Gesetzrolle von der Schul geholt und tanzte damit umher wie mit einer Geliebten; er trieb eine lächerliche und furchtbare Unzucht, und als er keuchend, die andern gleichsam um Atem bettelnd, hinstürzte, bohrte er eine stählerne Nadel tief in den Oberarm, daß dunkelrotes Blut auf die Gesetzrolle und auf den Boden rann. Boruchs Klöß, Wolf Batsch und die Rumpeln knieten hin und leckten und schlürften winselnd das halbgeronnene Blut, indes der Chassan stumm und steif in die Arme seines Sohnes sank. Zwei junge Leute sahen den bleichen Zacharias Naar durch den Raum gehen, beschwörend die Hände heben und wieder verschwinden. Auch der alte Thurathara, dessen gerötete Augen stets wie aus einem dünnen Spalt hervorblinzten, hatte die Erscheinung wahrgenommen und behauptete, jener habe ein wunderschönes blasses Kind auf den Armen getragen und lächelnd und heiter habe das goldlockige Geschöpf in das schreckliche Treiben geschaut. Der alte Seligman Schrenz wollte die Blöße seiner Tochter bedecken, wollte sie mit seinem Mantel umhüllen; aber jauchzend, mit halbgeöffneten Lippen lief die schwarze Noemi davon, warf sich in die Arme ihrer Freundin, der Schwester des Schulklopfers, und die beiden Mädchen küßten sich, warfen sich zu Boden und drückten ihre fieberheißen Körper aneinander.

Ein Haus weiter lag der Maier Lambden mit seiner Familie auf den Dielen; denn sie schliefen nicht mehr in Betten. Bei Tage hüllten sie sich in Tücher von grobem Stoff und hörten nicht auf, zu beten. Es gab Männer, die sich des Schlafes gänzlich enthielten und sich Tag und Nacht mit dem Studium des Gesetzes befaßten, denn durch die Tikkunim in der Mitternachtsstunde wurden die Sünden verwischt. Maier Wolf, genannt der Fünkler, und sein Bruder Samuel Fünkler gingen des Morgens bei dem kühlen Herbstwetter hinaus und badeten im Fluß, um ihren Leib zu reinigen. So stieg und stieg die Erregung der Gemüter, und es war bald ein gewöhnlicher Anblick, wenn einer nackend durch die Gassen taumelte und sich geißelte, bis sein Körper über und über mit Blut bedeckt war.

Als am Freitag Serapion die Glocke die zehnte Abendstunde schlug, kam die Familie des schönen Joseph auf dem Lilienplatz zusammen und vier junge Männer trugen den Grabstein vom Schwedendenkmal hinweg. Es war eine Menge Menschen dabei: Frauen und Kinder, die sich mit farbigen Tüchern geschmückt hatten und Freudengebete sangen. Auch viele Männer hatten sich eingefunden. Im langsamen, schmalen Zug schritten sie dem Gottesacker zu, an der Spitze die vier mit dem Stein, der mit goldbestickter Samtschärpe umwunden war. Der Mond lugte über das Dach der Michaeliskirche und es war, als müsse man überall erst die feinen Nebel zerreißen, bevor man hineingehen konnte in die blaue Nacht. Über dem Fluß, weit hinunter bis an ferne Waldgrenzen lag der Dunst gleich einem weißen Gewölbe oder wie die lange Säulenhalle eines Schlosses. Rote, dumpfe Flecken, wachte dort und da ein rätselhaftes Licht. Das Wasser rauschte und nichts Bewegtes war zu sehen, außer den lichten, fast blendenden Wolken am Himmel und dem jüdischen Zug an der Straße.

Da sie sich den Mauern des Bes Chajim näherten, kam aus dem weitgeöffneten Tor ein Weib mit aufgelösten Haaren gelaufen und stammelte, oft unterbrochen durch staunende, erschreckte Ausrufe der Zuhörer, ein Geist schwebe über die Gräber und singe wunderbare Weisen und rufe: Messias, o Messias, o Sabbatai, Stern der Höhe! Alle blickten angestrengt hinüber. Der Gräberort lag ausgebreitet an einer Hügelsenkung und die zahllosen Grabsteine gaben ihm ein phantastisch zerklüftetes Aussehen. Darüber hinaus die nebelschimmernde Ebene, baumlos, häuserlos, einem Meer ähnlich, darin einsame Dörfer wie Toteninseln lagen.

Die Juden bemerkten nichts von dem gemeldeten Geist, überwanden ihre natürliche Furchtsamkeit und schritten ängstlich und zaudernd durch das Tor. Vorsichtig zogen sie den breiten Hauptweg entlang, immer spähend, zum Grab des schönen Joseph. Am mutigsten waren die Knaben; sie sangen ein Lied vom Stolze Zions, und ihre köstlichen frischen Stimmen erfüllten weithin die Nacht.

Das Grab lag an der westlichen Mauer, die hart au den Schindanger der Christen stieß, und wo auch die verurteilten Verbrecher hingerichtet wurden. Deutlich war die alte Veste mit ihrem düsteren Wald sichtbar und ein flötender Hornruf klang herein. Der Totengräber kam und Obadia Änsel Steinblaser trat als Vorbeter heraus, um die im Schulchan Aruch vorgeschriebenen Gebete zu sagen. Aber er fing nicht an; Minuten vergingen und weil die hinten Stehenden sein Gesicht nicht sehen konnten, drängten sie sich gierig vor. Einige verwünschten schon die Furcht vor den Christen, die sie veranlaßt hatte, die Zeremonie zur Nachtzeit vorzunehmen, und viele Weiber schlossen die Augen, um nichts sehen zu müssen. Als aber Obadia Änsel noch immer keinen Laut von sich gab, näherten sie sich ihm so dicht sie konnten, und nun sahen sie, daß er mit aufgerissenen Augen und leichenfahlem Gesicht beständig nach einem Punkt starrte. Sie folgten seinem Blick und sahen eine weibliche Gestalt bei einem Weidenbusch mitten unter den Steinen stehen. Die Stille tödlichen Schreckens entstand, als ob alle auf einmal zu atmen aufgehört hätten; leise und eindringlich erscholl eine Mädchenstimme von dorther, eine Melodie in einem fremden Rhythmus und einer fremden Sprache. Der Totengräber und der Rabbi Seligman in der Clauß waren die mutigsten, und da es doch eine menschliche Stimme war, die sie vernahmen, so folgten schließlich auch die andern Männer, dann die Kinder und zuletzt die Frauen.

Niemand erkannte Zirle in dem jungen Mädchen. Nur mit einem Hemd bekleidet stand sie da und schien doch nicht zu frieren. Wer sie so gewahrte, mußte im Innern jedes Leiden mitfühlen, das sie bedrückte. Aber es war etwas Listiges in ihrem Schmerz und etwas Begehrliches in ihren klagenden Augen.

»Was willst du hier? liegt wer von den Deinigen hier begraben?« fragte Änsel Steinblaser flüsternd.

Ein junges Weib bot ihr ein wollenes Tuch an, aber Zirle wies es schweigend zurück.

»Hört,« was ich euch erzählen will,« sagte das Mädchen und flüchtige Schauer überliefen sie, während sich alle dicht herandrängten.

»Ich bin im Kloster gewesen und Nonnen haben mich gelehrt, an Jesus Christus zu glauben. Aber als Kind war ich Jüdin und meine Heimat war im Polenland. Eines Tages sind die Christen über uns hergefallen und unsere Betten schwammen in Blut. Vater, Mutter, Brüder und Schwestern sind aufs grausamste erschlagen worden. Die Häuser brannten, Frauen und Mädchen wurden in den Tempel gesperrt und kamen in den Flammen um. Ich hörte ihr Röcheln und Wimmern, als ich in einem Stalle versteckt lag. Die Zeit verging. Und wenn ich gleich Christengebete unter Christen sagte, ich vergaß nichts, ein Jude vergißt nichts! Wieder eines Tags entlief ich und Zigeuner nahmen mich auf. Ich lebte bei ihnen wie in einem bösen Traum und von Stimmen umgeben, die mich riefen in der Nacht. Der Bräutigam wartet, riefen sie, er breitet seine Arme aus und wartet; er ist mehr als Jesus Christus, er ist selber Gott.

»Und gestern war es, gen Morgengrauen, da kam mein Vater zu mir im Schlaf. Der Herr der Heerscharen hat dich zur Braut des Sabbatai bestimmt, sagte er. Du sollst ihm entgegengehen, denn er ist der Stern, der aufgegangen ist aus Jakob, wie es in der Bibel steht. Den ganzen Tag war ich voll Angst und konnte nicht Ruhe finden. Und heute lag ich, da kam wieder der Geist meines Vaters und faßte mich mit seinen Händen an und trug mich hierher.«

Sie streifte das Hemd zurück und zeigte Nägelspuren an ihrem Leib, wo die Hand des Vaters sie gepackt hatte. Oberhalb der rechten Brust und an der linken Hüfte waren blutige Schrammen.

Ein langes Schweigen entstand. Sonderbare Scheu hielt jeden ab, das junge Mädchen anzureden. Stille Schwärmerei, fanatische Gläubigkeit, geheimnisvolle Extase und die Taumel der Bacchanterei, das alles hatten sie gesehen oder gefühlt. Aber das offenbare Wunder, so dicht vor ihren Augen, machte sie verdutzt und erfüllte sie mit Angst.

Eine schwarze Menge tauchte in der Richtung des Tores auf und kam mit dumpf-unruhigem Gemurmel näher. Am Leichenhaus zündeten sie Fackeln an, die einen blutigen Glanz über die Gesichter warfen, und deren Rauch die Mondscheibe verdüsterte. Von der Senkung des Hügels kam Zacharias Naar herauf, nahm Zirle bei der Hand und sagte laut und vernehmlich: »Führe sie, Tochter Zions! Alle, die da kommen, werden sich dir beugen.«

In den Gassen des Hofmarkts war die Nacht zum Tag geworden. Überall standen aufgeregte Leute. Von Ottensoos, Schnaittach, Unterfarrnbach und Hüttenbach waren die Juden hereingekommen. Niemand wußte, wie sich das Gerücht so schnell verbreitet hatte, zu Fürth habe sich Außerordentliches auf dem Gottesacker begeben, jede Stunde sei unerschöpflich an neuen Geschehnissen. Zwei Juden, Samuel Ermreuther und Nachman Sandel Mahler, markgräfischer Schulklopfer, hatten große kostbare Teppiche auf der Straße ausgebreitet und sie mit Blumen bestreut: Rosen, Nelken und Orchideen aus dem Treibhaus einer vornehmen Gärtnerei. Girlanden hingen an den Fenstern, und goldene und silberne Leuchter standen auf den Simsen. Höher und höher, sturmflutgleich, stieg der Aufruhr der Gemüter. Da war ein kluger und vielgereister Jude, namens David Tischbeck, ein Bruderssohn des Wolf Bieresel; er erzählte, daß überall in deutschen, österreichischen, italienischen und spanischen Landen ein so wüster Taumel, eine so entsetzliche Verwirrung herrsche, daß niemand wisse, ob nicht sein Nachbar, sein Weib oder sein Kind in Wahnsinn verfallen sei. Es war, als sei die Luft selbst zu betäubendem Wein geworden, und wer da atmete, wurde auch trunken. Könige begannen für ihren Thron zu zittern.

Im ersten Schein des Frührots ging Zacharias Naar am Haus des Ober-Rabbi vorbei, wo noch die Lichter brannten. Erstickte, gequälte Rufe, wilde Schreie, leidenschaftliche Gebete, schmerzliches Stöhnen drangen heraus. Naar ging versonnen seinen Weg weiter, hinaus gegen Westen, wo die Häuser bald im Morgendunst verschwanden. Der hagere Mann mit seinem spitzen, dütenförmigen Hut, der nach der Vorschrift jener Zeit orangegelb mit weißem Rand war, schritt unter den tiefhängenden Ästen der Bäume dahin und die braungewordenen Blätter gerieten in leise Bewegung, wenn der Judenhut sie streifte. Zacharias Naar ließ sich unter einem Apfelbaum nieder und starrte ins Morgenrot. Die Ebene schien sich zu recken und zu dehnen, und der Schlaf flog auf von ihr in Gestalt der Raben und Krähen. Der Wanderer zog eine schwarze Tafel und einen Stift aus dem Gewand und mit träumerisch zaudernden Fingern formte er Buchstaben und Worte immer bestimmter und rascher. »Mein Mund ist schwer wie der Mund eines Mörders. Mein Geist schreit nach dir. Der blasse Morgen drückt deine zitternden Lider zu, da du kommst. Du liegst schon schlafen, und ich küsse im grünlichen Schein der Nachtwende dein Gewand. Kraft, Kühnheit, Stolz und Genugtuung sind nichts mehr vor dir. Soll ich lächelnd an den kommenden Morgen denken, wenn du enteilst? Die Liebe schreitet jauchzend der Finsternis zu und verachtet den Regentag. Was ist im Himmel und auf Erden, außer der Liebe, Leib der Leiber und Schoß aller Schoße! Die heimliche Glut der Erdbrust wohnt in dir. Ich gehe durch die Dämmerung, wo die Wetter schlummern, in die jahrlose Einsamkeit der großen Ewigkeiten hinab. Ich gehe, Gott zu suchen.« Hastig fuhr der Stift wieder über das Geschriebene und machte es unleserlich. Dann wischte Naar alles mit feuchten Gräsern wieder weg und schaute bitteren Mundes hinaus ins Land, über dem die Sonne kam. Zum zweitenmal nahm er den Stift und schrieb bedächtig, bei jedem Zug den Stift gleichsam in die Tafel eingrabend: »Ist ein Gott in diesem leeren All? Ich will ihm schreien, ich will ihm die Glut meiner Seele opfern. Ist ein Gott, daß er die Unbill räche, die Kränkung des Stolzes, daß er den Höfling demütige? Ist ein barmherziger Vater, der das Feuer stillt, wenn es des Armen Dach beleckt? Der den Schläfer auf nackter Erde bewahrt, dem frierenden Hund eine Hütte gibt? Ich rufe dich, Ewiger und deine Welten verneinen dich, deine Sonnen verleugnen dich. Ich suchte dich und nirgends fand ich dich. Die Himmel sind echolos, wenn ich dich rufe, schweigend starren die Wälder. Allein bin ich gegangen im Angesicht der Nacht und die Dunkelheit war mein Mantel und meines Kummers Kleid; breit ist das Meer und tief, und maßlos dehnen sich die Himmel, aber du bist nicht. Jahrtausende verschwinden wie ein Lächeln und wer gut ist verdirbt und die Falschen und Treulosen werden zu Propheten. Aber laß es laufen, das Volk, laß es springen zu den Kammern des Todes. Wo bist du Gott? Bist du, wo das Jahr zeitlos ist, und die Unendlichkeiten zusammenschrumpfen wie Leichname? Bist du, wo die Sonne aus dem Westen steigt und der Mond aus Brunnen strahlt? Bist du beim Gastmahl der Toten und hast du den neuen Morgen der Welten verschlafen? Ach wo lauf ich hin? Der Himmel ist nur in mir. Wo ist Raum für meine Seele?«

Als er fertig war, zerschmetterte Zacharias Naar die Tafel am Baumstamm und streute die Trümmer in alle Winde. Dann erhob er sich und ging den Häusern zu.

Im Schindelhof begegnete ihm ein Zug jüdischer Männer und Frauen mit Kerzen in den Händen. Vier Jungfrauen trugen einen Purpurbaldachin, unter dem ein Knabe und ein Mädchen trippelten, beide noch Kinder. Sie sollten einander vermählt werden, denn es war der Glaube jener Zeit, dadurch den Rest der noch ungeborenen Seelen in die Leiblichkeit eingehen zu lassen und so das letzte Hindernis zum Eintreffen des Gottesreiches zu beseitigen. Die Kinder, deren Namen Benjamin und Eva waren, hielten sich fest an den Händen, und ihre Augen standen voll Tränen; wenn sie sich einander anschauten, so geschah es gleichzeitig, und sie lächelten dabei schwermütig wie Menschen, denen eine Strafe bevorsteht, der sie nicht entrinnen können und die sie auch nicht verdient haben. Plötzlich bedeckte sich Evas Gesicht mit einer glühenden Röte. Die schwarze Noemi kam mit ihrer Freundin nackt die Gasse heruntergelaufen und trotz der frischen Herbstmorgenluft schienen ihre Körper heiß zu sein von Tanz und Ausschweifungen. Schier besinnungslos, doch graziös wie Gazellen liefen sie dahin und in jedem Laut ihres Mundes war etwas Bacchantisches. Die kleine Eva wußte sich nicht zu helfen vor Scham; in heller Verzweiflung schlang sie einen Arm um den Hals des Knaben, und mit der freien Hand bedeckte sie seine Augen.

Der sonderbare Brautzug kam in ein buntes Gewühle. Über den Gärtnerplatz ging eine Kinderprozession und jedes Kind trug einen Teller südländischer Früchte, oder Schalen mit Wein oder Backwerk. In diesen Tagen des Wahnsinns ging auch kein Christ im weiten Umkreis seinen Geschäften nach, und keiner, wie mächtig er auch sein mochte, versuchte den leidenschaftlichen Brand, der unter dem verachteten und verhaßen Judenvolk ausgebrochen war, zu dämpfen, oder gar zu verspotten. Fremde Musikanten kamen des Wegs, (es wußte niemand woher), und spielten auf Instrumenten, die man vorher niemals gehört. Alles war zauberisch, überirdisch, aufregend und bestürzend.

Unerhörtes begab sich auf dem Platz vor dem Pfarrhof. Dort nahm ein junges und schönes Mädchen die symbolische Handlung vor, deren Deutung war, daß auch die Tiere eingehen sollten in das messianische Reich. Die Zeremonie geschah mit einem mächtigen Hunde und das junge Mädchen sang dabei wilde Lieder und schrie verzückt. Die Zuschauer waren wohl entsetzt oder erschüttert oder verwundert, aber sie empfanden es gleichwohl als einen religiösen Vorgang von tiefer Feier. Mit bleichen Wangen standen sie umher und zitterten vor Grauen. In der Synagoge blies man das Schofar, und es klang wie ein einsamer Weckruf in alle Gassen, hinweg über alle Häuser, – wie ein Ruf aus den dunklen Tiefen der Kabbala. Eine Krone auf dem Haar, kam Zirle einher, mit einem Gefolge wie eine Fürstin. Wer sie sah, glaubte an sie wie an den Erlöser selbst. Ein junger Christ namens Wagenseil, der Sohn des Pfarrers, folgte ihr wie behext auf Tritt und Schritt. Schließlich sang er das Lob des Sabbatai fast in dichterischen Worten und Zirle erhörte ihn, noch ehe der Tag zur Neige ging. Ihr Wesen war ohne Schüchternheit; sie hatte etwas Glänzendes in jeder Gebärde. Die Männer verloren alle Vernunft, wenn sie vor ihnen stand, und die Glorie der Messiasbraut gab ihrem Wort ein unwiderstehliches Gepräge. Sie kam zu den Fastenden und Betenden und richtete sie auf. Denn manche wälzten sich tagelang wie Würmer auf der Erde, enthielten sich jeglicher Nahrung, oder sie hockten regungslos in den feuchten Winkeln unterirdischer Gewölbe, hatten Visionen, »strahlende Nächte«, wie sie sagten, fromme Gesichte, widerstanden so den Verlockungen des Satans und Erfüllten zur Nachtzeit die Luft mit ihren Klageliedern. Ohne zu erlahmen studierten sie alle Bücher der Kabbala, alle Seiten des Talmud nach neuen und wunderbaren Deutungen; ihre Weiber, wenn sie nicht zu den Orgien gingen, ergaben sich einem grenzenlosen Fanatismus, stellten sich auf den Markt unter viele Leute, stachelten zu nutzlosen Grausamkeiten und nutzlosen Versündigungen auf und fluchten den Christen bitter. Die Kinder waren sich selbst überlassen, Säuglinge schrien umsonst nach der Mutterbrust und starben bald. Hunger und Überfluß, Prunk und Erbärmlichkeit reichten einander die Hände. Es fand kein regelmäßiger Gottesdienst mehr statt, und wenn man gemeinsam vor dem Altar betete, schrie, forderte, triumphierte, war es einer Schändung des alten Gottes gleich. Zigeuner zogen umher und vermehrten das Unheimliche und die Verwirrung. Der Papst und der Kaiser schickten wie in alle Städte auch hierher Beamte und Abgesandte, die unverrichteter Sache wieder ziehen mußten. Die freie Stadt Nürnberg entbot einen Hauptmann und fünfzig Reiter, aber den Hauptmann samt seinen Reitern sah man noch am selben Abend wüst johlend durch die Gassen taumeln. Am Fluß oben, gegen Buch zu, wohnte ein ehrwürdiger christlicher Mann von bedeutender Gelehrsamkeit. Er kannte gründlich die klassischen Sprachen und befaßte sich auch mit Astrologie und Alchymie. Die Leute behaupteten, er habe den Stein der Weisen gefunden und ihn für einen unermeßlichen Schatz an den Großtürken abgegeben. Er wurde befragt, was er von all dem Sturm und Aufruhr halte, und da sagte er: »Der Jüd ist ein tolles Tier. So ihr ihn aus dem Käfig laßt, frißt er euch auf mit Stumpf und Stiel. So er aber im Käfig bleibt, ist er zahm wie ein Hund. Viel Verstand hat der Jüd und er ist wie ein Blindschleich. So du ihn entzwei hackst, kriechen zweie hinweg.«

Niemals stand die Anarchie drohender über den Völkern, als zu dieser Zeit der Dämonie und der Ekstase. Da die Nachricht eintraf, die Juden von Frankfurt, Worms und Mainz rüsteten sich zum Aufbruch nach Zion, entstand eine Erregung, die mit einer langen, inbrünstigen Andacht zu vergleichen war. Alle Sehnsucht hatte nun ein Ziel bekommen, und jeder einzelne beschloß, dem Rufe des Propheten zu folgen.

An demselben Tage, es war Allerseelen, lag Rahel auf ihrem Bette und starrte stumpf-gleichgültig durch das Fenster in den Abendhimmel. Das Haus war leer; die Schritte mochten darin nachhallen, denn die Dielen knisterten oft von selbst. Rahel hatte die Mutter schon seit zwei Tagen nicht gesehen, der Vater war seit dem Morgen fort. Niemand hatte sich in der letzten Zeit um sie gekümmert, und keine der jüdischen Frauen kam mehr, um stundenlang bei ihr zu sitzen. Aber darüber dachte sie nicht nach. Sie war froh, daß wieder die Nacht kam.

Als es dunkel war, trat Maier Nathan ins Zimmer. Sein Wesen war verstört, und bisweilen brach er in kurzes meckerndes Lachen aus. Beim Schein eines Öllichts zählte er sein Geld nach und vergrub später einen Kasten mit Perlen und Schmucksachen im Hofe neben dem Brunnen. Erhitzt von der Arbeit, schnaufend und pustend kam er zurück und setzte sich neben seine Tochter, das Kinn auf den Griff des Spatens gestützt. Er seufzte, fuhr mit den Fingern in die Haare, schnitt Grimassen, sprang endlich auf, warf den Spaten heftig von sich, focht mit den Armen in der Luft umher und brach in ein glucksendes Weinen aus. Rahel rührte sich nicht. Sie war daran gewöhnt, seit Zirle erschienen war. »Schadai, Schadai voller Gnade!« rief der Knöcker aus. »Ich habe die himmlische Stimme gehört, ich hab sie doch sicherlich gehört mit meinen Ohren. Gott soll mich strafen, aber mein Rahelchen ist doch keine Hur!« Er kniete vor Rahel hin, streichelte mit der Hand ihre Haare und stammelte: »Mein Rahelchen, mein gutes Jeleth, mein Engelchen. Mise meschinne über die Narren, daß sie an die falsche Braut glauben. Sterben sollen sie den Tod durch Aussatz.« Und er erhob sich und rannte wie gepeitscht davon.

Die Nacht war stürmisch. Die Winde kamen von Süden, und draußen in der Ebene gurgelte es wie in einem Strudel. Der Mond grinste fahl durch geborstene Wolken, und es war, als ob er selbst sie zerrissen hätte und sie aufgelöst vor sich her triebe. Gegen Mitternacht kam ein Herbstgewitter. Flatternde, schwere, lichtsaugende Nebel fielen nieder, und die Blitze fuhren hinein mit einem süßgelben Leuchten. Rahel sah zu, und ihr wurde bitter in der Kehle vor Grauen; in der Ferne heulten die Hunde.

Rahel war müde. Was da draußen vorging in der Welt, sie kümmerte sich nicht darum. An nichts glaubte sie, mitten in einem Haufen von Wahnsinnigen blieb sie ruhig und nachdenklich. Doch hatte sie Furcht vor der Zukunft. Was soll aus dem Kind werden? dachte sie, und was aus mir, wenn sie alles erfahren? Gegen zwei Uhr, das Gewitter hatte sich verzogen, rief das Schofar die Juden in den Tempelhof. Zacharias Naar verlas einen Brief des Sabbatai an seine Braut Zirle, die er Zilla nannte. Es war ein feuriges und sinnlich überschwengliches Liebesgedicht, und es hieß zum Schluß, daß er sie samt ihrem Volk, den Lebenden und denen, welche von den Toten auferstehen würden, am siebzehnten Tag des Monats Tamuz zu Salonichi empfangen würde. Darauf stellte Zacharias Naar drei Fragen an die schweigende Gemeinde: Ob sie mit Gut und Blut sich dem Messias ergeben wollten? ob sie die Mühen und Beschwerden der langen Wanderung nicht scheuen wollten? ob sie ohne Murren und Weigern die Göttlichkeit der Messiasbraut anerkennen und ihren Befehlen folgen wollten? Ein bebendes Ja aus vielen hundert Kehlen antwortete. Nun trat Zirle in die Mitte des Kreises, hob ihre Arme verzückt zum Himmel, und ihr leidenschaftliches Gebet ließ die Zuhörer erglühen vor Sehnsucht und Begierde nach dem Neuen, Großen, Wundervollen, das für sie bereit war. Noch wußten sie nichts, was ihnen Sicherheit gab, aber mehr war es, zu glauben und dem Kommenden begeistert entgegen zu leben. Jauchzend wollten sie ein Land verlassen, das nur Verachtung und unmenschliche Grausamkeit für sie gehabt hatte. Es schien leicht, alles hinter sich zu werfen, wenn im Osten die Triften der ererbten Wohnsitze lockten, wenn ein königlicher Prophet sie zum unverbrüchlichen Bunde rief. Hier war kein Vaterland für sie und konnte es niemals werden, wie sich auch die Zeiten wandeln mochten.

Die Ältesten der Gemeinde erklärten sich zum Aufbruch bereit; bei Anbruch des Tages sollte mit den Vorbereitungen begonnen werden. Plötzlich sprang Maier Knöcker, der Nathan, schreiend auf Zirle zu, packte sie bei den Haaren und riß sie zu Boden. Die andern Juden hätten ihn sicherlich in Stücke zerrissen, wenn nicht sein Weib, die Thelsela und die tugendsame Treinla, des Rabbi Man Ehewirtin, sich über ihn geworfen und flehentlich um sein Leben gebeten hätten.

Gleich fernem Brandschein zeigte sich der erste Streifen des Morgenrots und hoch in der Luft zogen Vögel mit zirpenden Schreien dahin.

Als Maier Knöcker nach Haus kam, fand er seine Tochter schlafend. Aber es bedurfte nur einer leisen Berührung und sie erwachte. Ihr Blick war scheu, verstört und furchtsam. »Gebenscht, ich hab se zugericht,« sagte der Nathan mit stumpfsinnigem Frohlocken. »Unbeschrien ich hab'r die Haare ausgerissen, der falschen Braut.« Er sah seine Tochter durchdringend an, schüttelte bekümmert den Kopf und fragte die Thelsela, wie lang es noch dauern könne bis zu Rahels Niederkunft. Geistesabwesend erwiderte das arme Weib, sie wisse das nicht; jedenfalls aber noch vier bis sechs Wochen. Gegen Mittag kam der Ober-Rabbi mit finsterem Gesicht und fünf Älteste begleiteten ihn. In harten Worten stellte er den Knöcker zur Rede und gab schließlich Zweifel darüber zu erkennen, daß Maier Nathan die himmlische Stimme gehört habe. Der Knöcker begann zu weinen. Sein leidenschaftlicher Protest und die schwermütige Bestätigung der Tatsache durch die Thelsela stimmten den Rabbi milder und Chajim Chaim Rappaport meinte in seiner wohlwollenden Art, man könne ja doch das Ende der Schwangerschaft abwarten; auch sei es nicht ausgeschlossen, daß dem Messias zwei Bräute bestimmt seien, obwohl Zacharias Naar ein Gegner solchen Glaubens sei.

Wenn Maier Knöcker sich auf den Gassen blicken ließ, sah er sich mit Mißtrauen beobachtet, und seine ehemaligen Freunde gingen ihm aus dem Weg. Nur die ameisenhafte Geschäftigkeit, die überall herrschte, schützte ihn vor Schlimmerem. Doch hatte er nirgends Rast. Ein wühlender Schmerz über die ungeordneten Zustände bedrückte ihn. Er suchte nach der Reihe seine Schuldner auf und keifte überall und drohte mit dem Landrichter. Dann eilte er wieder schnellen Laufs nach Hause, in die Kammern, zu seinen Kostbarkeiten und Pfandpapieren. Da er sich von allen verachtet fand, nahm die Liebe zu den Schätzen zu, wie auch ein gewisses trotziges Vertrauen in die Mission seiner Tochter, und mit zorniger Ungeduld erwartete er die Ankunft der gottgeweihten Enkelin, überzeugt, daß es dabei an himmlischen und weit erkennbaren Zeichen nicht fehlen werde.

Änsel Obadja und Hutzel Davidla standen am Abend des vierten November tuschelnd unter einem Haustor und gaben ihren Sorgen Ausdruck über die Vernachlässigung jeglichen Gottesdienstes. »Wenn es sich zuträgt, daß viele trinken werden,« sagte Hutzel Davidla zitternd und seine Mausaugen schauten glitzernd gegen Himmel, »dann hat unser Herrgott uns strafen gewollt.« Davidla gebrauchte das Wort ›trinken‹ und meinte damit den Tod, denn die Juden reden ungern vom Sterben, und schon im Talmud Ketuboth steht die Redensart vom Trinken. Ein gelehrter Chronist, der zu Fürth lebte, schreibt: Man frage nicht, warum sich dieses Volk allezeit so sehr für dem Tod entsetzet? Dies macht es: sie wissen nicht, wie sie dem künftigen Zorn entfliehen sollen. Das Sterben der Juden ist daher allezeit mit Furcht und Schrecken umgeben. Alle, alle müssen mit Entsetzen für den Dingen, die da kommen, aus der Welt scheiden.

Das Laubhüttenfest war unbeachtet herangekommen und sah nun in den Taumel und Wirrwarr der kommenden großen Wanderung. Breite Lastwagen, die von Bauern draußen oder von Christen im Markt erkauft worden waren, rumpelten ununterbrochen vor die Häuser der Juden. Die streitenden Stimmen der Fuhrleute mengten sich mit dem Gekeife der Weiber; Pferde, Esel und Rinder wurden mit vielem Lärm erhandelt; die Gassen lagen voll von zerbrochenem Hausrat, leeren Kisten, Kleider und Leinwandfetzen, Stroh, Pergamenten und Spänen. Wenn Christen vorbeikamen, hatten sie ein finsteres und drohendes Gesicht und sahen aus, als ob sie die Mittel überlegten, um diese Anstalten zu nichte zu machen.

Auf einer Kiste saß sinnend der kleine Benjamin und pendelte mit den Beinchen hin und her. Ihm war unwohnlich. Durch die hohlen Fensterlöcher schaute er in das Haus des Maier Lambden; er sah Kasten auf Kasten getürmt, sah die Weiber mit weißen Tüchern um den Kopf hin- und hereilen, wie sie die Schränke leerten und das Geschirr verpackten, und er hörte das Silberzeug klirren und den Lärm von Hammer und Meißel. Daneben stand das Haus von Samuel Ermreuther, der von seinen Söhnen das Dach abtragen ließ, denn nichts sollte den Gojim verbleiben von seinem Gut und Eigentum. Bei Itzig Genßhenker hatten sich viele junge Mädchen zusammengefunden und nähten emsig Wagendecken und Reisegewänder und sangen alte Gesänge. Stunde für Stunde zogen arme Juden aus fremden Ortschaften durch die Hauptstraße, und in der frischen Glut ihrer Begeisterung vermochten sie nicht länger Rast zu machen, als es nötig ist, um ein Gebet zu sagen. Dann eilten sie weiter in ihren Lumpen und mit ihrer jämmerlichen Habe.

Betrübt ging Benjamin an den Häusern entlang. Er blickte in die Gärten, in denen alle Blüten verwelkt waren und dürre Blätter den Boden bedeckten. Einmal sah er Eva, seine Verlobte, über die Gasse eilen, und er ging zu ihr hin. Aber das Kind, mit aufgestreiften Ärmeln und geröteten Wangen, schüttelte den Kopf und sagte, sie habe zu viel zu tun, um plaudern zu können. Benjamin hatte Hunger, und weil man ihm daheim nicht zu essen gab, ging er hinaus an den Fluß, wo er Haselstauden wußte und wo er sich sättigen wollte. Die Ereignisse, von seiner melancholischen Stimmung in farbige Dämmerung gehüllt, gaben ihm viel zu denken und er träumte sich mit klopfendem Herzen das Land der Verheißung, wo es keine Christen gab und keinen Stadtvogt und keine Daumenschrauben und kein Spießrutenlaufen. Wie klar und furchtbar erinnerte er sich des Tages, wo sein Vater wegen einer angeblich gestohlenen Sanduhr gefoltert worden war. Seinen Oheim hatten sie aus Nürnberg hinausgepeitscht, weil er dort übernachtet hatte. Oft hatte die Mutter erzählt, daß ihre Muhme als Hexe verbrannt worden war, obwohl sie eine fromme und sanfte Frau gewesen war. Dies alles machte ihn ungeduldig nach Macht und Größe.

Ein Jubelgesang scholl von den Häusern herüber. Er hörte eine Weile zu und fragte sich, warum eigentlich die Juden so verachtet seien. Er kam zu keinem Schluß. Im Grunde schmerzte es ihn, von diesen Feldern fort zu müssen, wer weiß wie weit. Es war so schön hier! Wie breit und ruhig lag das Land da! Ein glanzloser Nebel kroch über die Äcker und drüben lag Nürnberg mit seiner kaiserlichen Burg, mit seinen starken Mauern, mit seinen schmalen, stolzen Türmen. Die Häuser waren vielleicht aus Marmor gebaut, und die Stoffe und das viele Gold und die herrlichen Rosse, die Kampfspiele, der Jahrmarkt auf der Schuttinsel, der Metzgersprung, – wie bunt und wechselvoll, wie freudig und schimmernd alles!


 << zurück weiter >>