Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Viertes Kapitel

Agathon ging in die Küche und aß, was man ihm an Überbleibseln und für die Tafel Unbrauchbarem gab. Dann stieg er in die Bodenkammer, wo er die Nacht verbringen durfte. Von unten klang Musik herauf, Gläserklingen, dumpfe Rufe der Fröhlichkeit, das Schlürfen des Tanzschrittes und das wogende Murmeln der Gespräche.

Er wälzte sich lange Zeit schlaflos und ein bitteres Gefühl erfüllte sein Herz, daß er im Haus des reichen Verwandten auf Stroh unter dem Dach schlafen mußte; denn daß der Baron ein Vetter seiner Mutter war, hatte er Stefan Gudstikker stolz verschwiegen. Sein geschärftes Ohr vernahm durchdringender den Lärm des Festes und es war, als ob ihn eine Stimme riefe. Dunkle Sehnsucht ließ ihn zittern vor Ungeduld; er sprang aus dem Bett, warf sich wieder in die Kleider und, die Augen noch umschleiert von der Finsternis, stieg er die Treppe hinab mit dem Bewußtsein einer Schuld. Es war ihm gleich, wohin er kam; er öffnete im zweiten Stock eine Tür (deutlicher hörte er Musik und Tanz von unten) und befand sich in einem großen Salon, der noch warm war von erloschenem Kaminfeuer. Er lächelte, die Musik unter ihm ließ die Dunkelheit rings gleichsam erbeben.

Da hörte er vom Nebenzimmer ein Geräusch, wie wenn jemand weint und will es nicht hören lassen. Agathon ging hin, öffnete die Tür und stand nun verlegen und bestürzt vor seiner Base, zu deren Verlobung das prunkvolle Fest im Hause gefeiert wurde. Sie saß vor einer Kerze und schluchzte in ihr Taschentuch.

Jeanette blickte auf, und vor Erstaunen brachte sie kein Wort hervor. Endlich fragte sie heiser, was er hier zu suchen habe.

Agathon zuckte die Achseln. »Nichts,« antwortete er. »Ich habe dich weinen hören.«

»Von oben? Von deiner Kammer?«

Agathon wurde bleich und ließ den Blick verächtlich durch den geschmückten Raum schweifen. »Nein,« sagte er, »nicht von meiner Kammer«.

»Nun?«

Agathon schwieg. Die großen, von Tränen nassen Augen des Mädchens erweckten ein Gefühl von Niedrigkeit in ihm. Jeanette nahm ihn bei der Hand. »Nun gestehe. Weshalb bist du gekommen? Hast du Hunger? Dann soll man dir geben, was du willst. Auch Wein sollst du haben. Ich will es dem Diener sagen. Oder willst du Geld? Hier ist meine Börse.« Sie lächelte bitter und wollte aufstehen. Doch Agathon nahm ihre Hand und drückte sie mit großer Kraft so fest zusammen, daß das Mädchen ihn mit einem überraschten Ausdruck des Schmerzes ansah. »Ich bin nicht, was du meinst,« sagte Agathon.

»So?« Ein unsicherer Spott trat auf Jeanettens Gesicht.

»Ich bin nicht hungrig,« sagte Agathon leise. »Ich brauche auch kein Geld. Also nimm dein Geld hier weg, sonst muß ich es zum Fenster hinauswerfen.«

Jeanette sah lange in Agathons erregtes Gesicht, dann faßte sie ihn plötzlich an beiden Händen, zog ihn zu sich und sagte herzlich: »Nun sprich!«

Agathon schüttelte den Kopf. »Ich glaubte, du hast etwas zu sagen. Ich habe ja nicht geweint. Freilich, woher sollst du Vertrauen zu einem so schlecht gekleideten Menschen haben.« Er lächelte wieder, wandte das Gesicht ab und starrte ins Dunkle. Die Wände schienen sich aufzutun vor seinen Blicken, und aus zahllosen Augen schauten ihn die Sorgen an, unter denen die Menschen Schätze zusammentragen, um sie wieder von Sorgen bewachen zu lassen.

»Agathon!« flüsterte Jeanette. Sie ließ seine Hand nicht mehr los, und er fühlte, wie heiß ihre Hand war. »Ich habe dich stets übersehen wie einen Schatten. Du hast dich auch so schmal gemacht wie ein Schatten, du wunderlicher Agathon.«

Agathon antwortete nicht.

»Sprich, Agathon, hast du schon viel Böses getan? Warum zitterst du? was ist dir?«

»Böses, fragst du? Was ich getan, war nicht böse. Es war auch nicht gut. Es wäre schlechter gewesen, wenn ich einem Vogel die Flügel genommen hätte. Oder kann es böse sein, wenn es dich erhebt, glücklich macht? Oder gut, wenn es das ganze finstere Leben erkennen läßt und was man versäumt hat und was andere versäumt haben –?«

Jeanette, tief erregt durch das Wesen des jungen Menschen, flüsterte stockend: »Setz dich zu mir. So. Und nun hör mich an. Sieh, ich soll einen Menschen heiraten, den ich noch nicht zweimal im Leben gesehen habe. Er ist nicht jung, er ist nicht alt, er ist nicht edel, er ist nicht gemein, ich kenne ihn nicht, ich weiß nichts von ihm, aber ich soll ihn heiraten, der Geschäftsverbindung wegen. Ich werde verkauft und soll mich ruhig verkaufen lassen in das Bett eines Schweins. Erröte nicht, Agathon, jetzt ist nicht die Stunde zum Erröten; bei uns werden alle Mädchen verschachert wie Häuser und Grundstücke, aber du wirst doch zugeben, daß man bisweilen auch aus andern Gründen heiraten kann. Wie? Aus Liebe zum Beispiel, wie?«

»Aus Liebe, ja,« wiederholte Agathon und zuckte zusammen.

»Sieh her, sieh her,« sagte das Mädchen und ihre roten Haare fielen wild in die Stirn, und sie zog Agathon dichter neben sich. »Hab ich nicht die feinste Haut, die du dir denken kannst? Rühr mich nur an! Hab ich nicht einen weichen Mund? siehst du, ich küsse dich damit, und liebe ich nicht alles, was schön ist, zum Beispiel deine Augen? Und wenn du mich liebst, siehst du, dann ist es dir gleich, ob ich in Gold und Ehren lebe oder ob ich verstoßen und verachtet bin, ein Frauenzimmer der Gasse, es ist dir gleich, du nimmst mich, wenn du mich liebst, verstehst du? Ja, du freust dich sogar, wenn du zeigen kannst, wie hoch der Preis ist, den du für mich zahlst. Und doch gibt es einen Mann, an den ich geglaubt hatte, und der anders gehandelt hat, einzig und allein deswegen, weil er leiden wollte um mich, weil er mich mehr zu lieben wähnt, wenn er mich entbehren muß. Ist das nicht närrisch? Ich sitze da mit meinem Herzen voll Leben, daß es nur so brennt und soll das Schwein heiraten, und ich habe Ja gesagt aus Rache gegen den Leidenssüchtigen, der mich liebt und verschmäht, den ich lieben und verachten muß.«

Agathon starrte fassungslos in diese zigeunerhaften, leidenschaftlichen Züge. Jeanette sprang auf und rief: »Du mußt mit mir kommen! Du mußt sie sehen, die da drunten. Kannst du tanzen? Gut, wir wollen ihnen Schrecken einjagen, indem wir tanzen.« Sie nahm Agathon bei der Hand und zog den Erstaunten und Willenlosen, der nicht begriff, was mit ihm vorging, durch das dunkle Zimmer zur Treppe, über die Stufen hinab, bis sie mit ihm unter der Saaltür stand, die der Diener mit einem Gemisch von Respekt und Verdutztheit eifrig aufstieß. Mit blitzenden Augen sah Jeanette in das bunte Treiben der Gäste. Nicht einmal die Haare hatte sie geordnet.

Der Baron kam rasch und fragte mit einem finstern Blick auf Agathon, wo sie so lange bleibe und was der Unfug bedeute. Herren und Damen standen alsbald lauernd im Halbkreis um das junge Mädchen. Es war eine ziemlich ungemischte Gesellschaft: jüdische Kaufleute, Jonrnalisten, Ärzte und Advokaten. Alle Gesichter verrieten Intelligenz, aber nur jene Intelligenz des Augenblicks, die von den verborgenen Werten der Dinge nichts weiß, die an der Stunde klebt, mit der Stunde rechnet und die Augen schließt, wenn die Nacht kommt. Alle Gesichter hatten etwas Überlebtes, etwas von dem Abgeglühtsein, wie es das gemeine Leben mit sich bringt; das Edlere war verwischt von der Freude an flüchtigen Genüssen, von der Verachtung des wahren Ernstes und der Sucht, den Tag leicht zu nehmen. Ihre Macht war der greifbare Besitz und sie waren wie Sklaven, die heuchlerisch ihre in der Dunkelheit gesammelten Kräfte verstecken und sich auf die Stunde freuen, wo sie die Fäuste zeigen dürfen. Agathon blickte in den Lichterglanz an der Decke und plötzlich mußte er an die arme, niedere Stube zu Haus denken, und das gelbe Gesicht seiner Mutter stieg wie aus einem Schattengewühle auf. Und er verlor sich selbst: aus diesen Schatten erhoben sich Generationen: Greise und Greisinnen, die mit müdem Kopfschütteln vorbeigingen.

»Herr Salomon Hecht!« rief nun Jeanette und ihre Augen leuchteten grün.

Ein elegant gekleideter, ziemlich fetter Mann trat vor und verbeugte sich ironisch. Er hatte ein süßliches Lächeln auf den Lippen, aber in seinen Augen war die stumpfsinnige Traurigkeit eines Tieres.

»Was hast du vor?« knirschte Baron Löwengard und trat, schneebleich vor Wut, an die Seite seiner Tochter. »Was soll dieses Benehmen? Was soll der Junge hier? Wenn du nicht Vernunft annimmst, werde ich dich aus dem Haus peitschen lassen.«

»Ja, laß mich nur peitschen,« erwiderte Jeanette zum Entsetzen ihres Vaters beinahe schreiend. »Was ich vorhabe? Ich will einen Mann haben und keinen Getreidesack und keinen Geldschrank und keine zehnprozentigen Aktien. Verstehst du das nicht? Was soll ich denn anfangen mit Herrn Hecht in der Nacht, wenn ich von Männern träume, die nicht ein paar Nachtlichter im Kopf haben, andern Augen, Augen, Augen –? Wenn ihr nur das wollt, was ihr wollt, dann schachert! Verschachert euern letzten Flederwisch im Kehrichtfaß, und für das andere geb ich mich nicht her wie eure hochmütigen Weiber, die mich jetzt anglotzen wie eine Hexe. Da! da habt ihr und mich laßt zufrieden! da! da! da!« Und sie ging hin, weiß wie Kalk, warf die kostbare Broche ins Kaminfeuer, die Armreife, die Ringe an den Fingern, riß die Spitzen über der Brust entzwei und öffnete mit einem Ruck die Knöpfe der Taille. Da stürzte Löwengard mit unartikuliertem Schreien auf seine Tochter, nahm sie in die Arme und wollte sie hinaustragen. Sie wehrte sich wie von Sinnen, die Damen eilten jammernd herbei, Salomon Hecht suchte aus dem Kaminfeuer erst mit entblößtem Arm, dann mit der Schaufel die Kostbarkeiten herauszuholen, viele wandten sich feig und finster nach der Tür, der Diener sah mit eigentümlichem Lächeln in den von schwüler Luft erfüllten Raum, und auf einmal blieben alle regungslos stehen.

Der jetzt hereintrat, ohne daß der Türsteher versucht hätte, ihn abzuhalten, war ein Greis von mehr als neunzig Jahren. Er hatte etwas wie eine seltsame Ruine; etwas gleichsam Unvergängliches war in seinem Gesicht, ein Schimmer von wandelloser Milde und Güte. An Gliedern riesenhaft, in den Augen jenes Funkeln, das man zuweilen bei alten Männern sieht, die die Jugend müde hinwanken sehen und selber niemals müde zu werden scheinen, so kam er herein und Agathon lächelte wie ein Kind, das an den Wendepunkt eines Märchens gelangt ist, wo die wohlbekannte gute Fee kommt, um die Verwicklung zu lösen. Jedermann auf den Dörfern kannte den Gedalja Löwengard aus Roth.

Der Alte ging ohne weiteres auf seinen Sohn zu, stutzte aber, als er dessen Gesicht sah, ließ die halbausgestreckte Hand wieder sinken, nahm ruhig Platz und schaute grüblerisch lächelnd vor sich hin. Der Baron, der sich der armseligen Erscheinung seines Katers schämte, trat mit verlegener Miene zu seinen Gästen, die sich wie eine Phalanx vor ihm aufgepflanzt hatten. Jeanette ließ sich vor dem Greis auf die Knie nieder, streichelte seine Hände und fragte: »Großvater, was ist geschehen? Warum kommst du so spät noch zu uns?« Mit einer scheuen und entsetzten Geste wandte sie sich nun zu den andern und sagte: »Er weint.«

Der alte Gedalja packte schnell ihre Hand und lispelte ihr zu: »Sag's ihnen nicht. Sie wollen nicht sein gestört. Mein Sohn hat vergessen, daß ich nicht habe zu kaufen einen Frack. Hat vergessen, daß ich bin arm. Heut abend ist abgebrannt ganz Roth. Der Herr hat mich wollen gedenken lassen, daß es mir gegangen is zu gut im Leben. Mei Haus, mei Hof, mei bisla Vieh, alles is hin.«

Die Gesellschaft schickte sich zum Aufbruch an. Baron Löwengard verfluchte sich und seine Tochter und vermochte kaum einen oberflächlichen Anteil an dem Unglück seines Vaters zu nehmen, dem er ein Zimmer zum Schlafen anweisen ließ. Dann forderte er Jeanette auf, ihm zu folgen. Agathon hörte ihn mit heiserer Stimme schreien . . . Der Diener suchte ein vertrauliches Gespräch mit Agathon anzuknüpfen; seine Worte klangen widerlich zurück von den Wänden des verödeten Saales. Agathon schlich beschämt in seine Kammer, warf sich angekleidet aufs Lager und fiel sofort in schweren Schlaf.

Am Morgen hörte er vom Hausgesinde, daß Jeanette verschwunden sei. Er fühlte sich darüber glücklich, ohne zu wissen warum. Die Luft war kühl und gleichsam gereinigt, als er zur Schule ging. Die Welt schien neu. Am Morgen hat alles nur ein Auge nach dem Licht hin; alles hat Zweck, Bedeutung, Form und Rundung, alles ist mit Frieden gesättigt, die Dächer glänzen, die Sonne taucht langsam auf mit kupferigem Glanz, der Rauch erhebt sich kerzengerade, jeder Schornstein ist ein Bild des Emporstrebens. Die Mägde haben weiße Schürzen, die Bäckerbuben pfeifen, über die große Brücke rollt der Schnellzug, aus dem rätselhafte, übernächtige Gesichter in die überschwemmte Ebene schauen; die Schranke am Dambacher Weg ist geschlossen, ganze Reihen von Ochsen stehen da und warten gutmütig. Und zwischen den Häusern verschwindet der Zug, rasselnd, polternd, pustend, und Agathon hört, wie er mit schrillen Pfiff am Bahnhof hält, und seine Sehnsucht eilt hin und steigt ein, um in ihr geheimnisvolles Vaterland zu fahren. Er geht gerade am Haus des Abraham Porkes vorbei, der Millionen besitzt und als edler Menschenfreund bekannt ist; über eine halbe Million hat er für das Waisenhaus vermacht. Es gibt viele Dinge, die Agathon bewundert, und er liebt die Menschen. Die Wandlung, die er seit kurzem durchgemacht, kommt ihm merkwürdig vor. Er weiß, daß es neu ist, was er fühlt, aber er will sich nicht durchforschen. Es ist, als ob man in seinem Herzen etwas baue, und er will warten bis es fertig ist. Er denkt an jenes Bild der Stationen, wo der nackte Jüngling mit einer Zange dem Heiland die Dornen von der Dornenkrone nimmt. Und während er daran denkt, erschrickt er, bleibt stehen und lauscht. Aber es pfeifen nur die Bäckerjungen in ihrem monotonen Diskant.

In der Schule hörte er nichts von dem, was gelehrt wurde, hatte nicht memoriert, eine wichtige Lektion nicht geschrieben und kam in den Strafbogen. Er begriff nicht, warum er all das Tote in sich aufnehmen solle, da es doch aus jedem Schritt des Lebens genug gab. Er begriff die Verachtung, in der die meisten Lehrer bei den Schülern stehen; sie galt nicht der Person, sondern dem Amt. Es galt der Handwerkerart, die feierlichen Dinge der Geschichte mit dem Gedächtnis feilschend herabzuwürdigen, erlauchte Namen so zu nennen, als ob es gälte, ein Adreßbuch durchzulesen. An diesem Morgen begann Agathon zu sehen, wie wenn ein Brett von den Augen seiner Seele genommen wäre und dies erregte ihn so, daß seine Wangen ab und zu erbleichten. Nur ein Lehrer war es, an dem er mit abgöttischer Verehrung hing, an den er mit keinem Hauch von Kritik zu rühren wagte. Dieser Lehrer, Erich Bojesen, hatte sich von Anfang an durch die Art empfohlen, wie er die Wissenschaft der Chemie vor den Schülern zerlegte, so daß auch der Blöde und der Boshafte aufmerksam wurden. Er griff gleichsam mit lebendiger Hand in die Nacht der Natur oder in die Feuer der Natur und holte ihre Rätsel hervor, die er trotz aller Erläuterungen Rätsel und Wunder bleiben ließ. Er tat nicht wichtig mit der Wissenschaft und spielte nie mit ihr, machte auch nichts »Interessantes« daraus, sondern er stand hinter seinen Retorten und Röhren wie einer, der im Tempel steht und im Begriff ist, einen Gott zu predigen, dessen ganze Schönheit und Größe nur er selbst kennt. Er glich einem jungen Priester, der die gedruckten Gebetbücher verachtet und sein eigenes Gebet haben will und hat.


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