Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Siebzehntes Kapitel

Der flüchtige Traum von Frühling war schon wieder vorbei, als Agathon an einem kalten Spätnachmittag nach Fürth kam. Er war ziemlich lange umhergewandert, ohne daß er sich entschließen konnte, jemand von den Menschen aufzusuchen, die er kannte. Es dunkelte schon, als er aus dem ersten Stock eines kleinen Hauses zu seinem Erstaunen den wolligen Kopf der Frau Olifat gewahrte. Im Nu hatte die lebhafte Dame auch ihn erkannt und winkte ihm zu, er solle hinaufkommen.

Monika saß in einem Lehnstuhl und schaute mit einem haßerfüllten Blick auf ihn, als er eintrat. Sie wehrte ihre Mutter von sich ab, die mit schmeichlerischer Geschwätzigkeit auf polnisch in sie hineinredete, darauf wandte sich Frau Olifat an Agathon und setzte ihm mit großer Zungengeläufigkeit, halb deutsch, halb französisch die Gründe auseinander, weshalb sie in die Stadt gezogen sei. Dann klagte sie über Monika, die den ganzen Tag dasitze, ohne zu sprechen, ohne zu essen, ohne zu lachen. Und wieder ergriff sie Monikas Hände und redete auf sie ein. Doch das Mädchen drehte mit einer bösartigen Gleichgültigkeit, als sei sie taub, das Gesicht nach einer anderen Richtung. Die gequälte Mutter wurde zornig; unerschöpflich entflog ein Strom von Schmähungen ihren Lippen, und sie erhob den Arm wie zum Schlag. Dann richtete sie sich gravitätisch auf, schritt zur Tür und warf sie dröhnend hinter sich zu.

Agathon sah sich mit Monika allein. Wieder fühlte er eine atemraubende Beklemmung ihr gegenüber. Er vermochte nichts zu reden. Ihre Wangen hatten sich, kaum daß die Mutter das Zimmer verlassen, mit einem brennenden Rot bedeckt, und ihre Augen glänzten feucht, – vor Scham und Verzweiflung. »Ich kann ja gehen, Agathon, wenn Sie nicht mit mir allein sein wollen,« sagte sie mit einer eigentümlich brüchigen Stimme, und um ihre Lippen spielte ein sinnloses Lächeln.

Gern hätte Agathon ihre Hand ergriffen, um sie zu bitten, sie möge wieder du sagen. Aber er konnte nicht. Unüberwindliche Scheu fesselte ihn an den Platz, wo er war. »Was hast du nun eigentlich, Monika?« fragte er ruhig.

Ihre Blicke begegneten sich zum erstenmal. Agathon hatte dabei das Gefühl, als schaue er in einen Raum mit kahlen Wänden.

»Ich weiß es, du hast Gudstikker geliebt,« sagte Agathon, »aber deshalb mußt du noch nicht am Leben verzweifeln, Monika. Du hast ja den Kopf immer hoch getragen. Und jetzt? Was ist mit dir? Ist denn das Leben für dich weniger groß und gut geworden? Viele haben geliebt und entbehren müssen, Monika. Nun kommt bald der Frühling, und du wirst dich freuen, wenn die warme Sonne auf dich scheint, und du wirst mit Esther in den Wald gehen und deine Wangen werden wieder rot sein. Und wenn der Herbst kommt, wirst du alles vergessen haben, Monika, diesen ganzen elenden Winter wirst du vergessen haben.«

Da richtete sich Monika auf, und über ihre Züge ging eine zuckende Bewegung. »O Agathon,« rief sie aus, »nie mehr können meine Wangen rot werden, nie mehr, nie mehr. Nie mehr kann ich in den Wald und die Sonne sehen, nie mehr kann ich vergessen, Agathon, nie mehr, nie mehr.«

Agathon näherte sich ihr, beugte sich herab, ergriff ihre Hand und schaute sie an. »Was hast du getan, Monika? Warum schweigst du? Warum verschweigst du mirs?«

Monika erhob beide Arme und legte die Hände um Agathons Nacken. So sah sie zu ihm empor mit einem feierlichen Blick, der etwas Drohendes in der Ferne zu erblicken schien und sagte, jede Silbe betonend: »Er hat mich betrogen. Geh hin und räche mich.«

»Monika!« flüsterte Agathon und machte sich los von ihr.

»Es ist so finster,« sagte Monika verstört und schauerte zusammen. »Es wird schon Nacht. Ja, ich habe mich ihm hingegeben, ganz und gar. Aber denke nicht schlecht von mir, Agathon, was wußte ich denn von solchen Künsten, wie er sie besitzt. Gehst du, Agathon? Jetzt willst du gehen? Bleib doch –!«

Als die Türe sich hinter Agathon geschlossen hatte, warf sie sich jammernd zu Boden. Aber bald darauf kam er wieder und fragte sie, die hilflos vor ihm lag. »Wo wohnt er?«

Monika, das Gesicht gegen die Dielen gewandt, nannte die Straße und das Haus.

Gudstikker war daheim, als Agathon bei ihm anklopfte. Er hatte seine Abreise verschoben. Er zeigte ein überraschtes und freudiges Gesicht bei Agathons Anblick und ging mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, blieb aber auf halbem Wege wie angewurzelt stehen. »Was machen Sie denn für ein Gesicht, Verehrungswürdiger,« sagte er erblassend, halb scherzhaft, halb trotzig.

Agathon stand ihm gegenüber, und er fühlte plötzlich all seine Kraft wie verblasen. Voll von brennendem Zorn, der sein Herz zusammenzog, war er noch die Treppe heraufgekommen, aber sobald er in dies lügnerische Gesicht geblickt, war er entwaffnet. Es war die Lüge selbst, die ihm entgegentrat. »Ich komme wegen Monika,« das war alles, was er herausbrachte und Gudstikker nickte vor sich hin, als ob es ihn traurig mache, diesen Namen zu hören. Er ist eine jüdische Natur, dachte Agathon plötzlich, indem er das Wort in seinem häßlichsten Sinn faßte; Gudstikker schien ihm der jüdischste Mensch, den er je getroffen.

»Monika! Ein schöner Name, ein herrliches Mädchen,« begann Gudstikker, wie in Erinnerungen verloren und schritt langsam auf und ab. »Wir haben zusammen den Lenz des Lebens genossen. Sie hat mich über eine wüste Strecke meines Daseins mit Flügeln hinweggetragen. Ich danke ihr viel und meinem Herzen bleibt sie, was sie war. Sie würde es nicht bleiben, wenn ich kleinlich sein und unsere Schicksale auch weiterhin verketten wollte. Nach bürgerlichen Begriffen hätte ich vielleicht die Pflicht, es zu tun, aber meine Aufgabe ist es jetzt, mit den bürgerlichen Begriffen zu brechen, ja sogar sie als das zu zeigen, was sie sind, nämlich Gespenster, die den holden Tag des Glückes verfinstern. Der schaffende Geist muß frei sein. Was allen andere rücksichtslos erscheint, ist für ihn ein Naturgesetz und die einzige Möglichkeit der Selbsterhaltung.«

Erstaunt blickte Agathon auf diese redseligen Lippen. Er schwieg.

»Ja, eine gewisse Grausamkeit ist nötig, das wird mir immer klarer,« fuhr Gudstikker fort; »sie ist nötig, um die widerwilligen Dämonen des eigenen Lebens gehorsam zu machen. Nicht um schlechthin tugendhaft zu sein, sind wir da, sondern um aus unseren Gaben Tugenden zu machen. Sie, Agathon, sind ein wenig allzusehr reiner Idealist. Es fehlt Ihnen an Kenntnis des Lebens. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: seien Sie einmal eine Nacht lang mein Begleiter. Lassen Sie mich von jetzt an bis zum Morgengrauen Ihren diable boiteux sein. Haben Sie schon zu Abend gegessen? Vortrefflich, dann kommen Sie.«

Wie gebannt folgte Agathon jeder Bewegung, jeder Geste Gudstikkers. Zugleich empfand er ein unheimliches Grauen vor seiner Zunge, die bisweilen hinter dem schwarzen Schnurrbart hervorblitzte wie ein Flämmchen. Er suchte sich all diesem zu entziehen, aber umsonst. Er folgte Gudstikker, der mehrmals kurz vor sich hinlachte, ins Freie.

Der Weg führte sie durch dunkle Gassen in die Vorstadt, wo verrufene Häuser standen, wo wenige Laternen ein dürftiges Licht spendeten, und wo Schutzleute zu zweien und dreien gingen, streng, finster, sorgsam spähend.

Sie kamen zunächst an ein einstöckiges Häuschen, über dessen Portal eine grüne Lampe brannte. Die Fenster waren dicht verhängt.

Als Gudstikker das Tor geöffnet hatte und in einen mit verblichener, gleichsam abgesessener Pracht ausgestatteten Raum getreten war, kam den beiden eine Schar von geschminkten Mädchen entgegen, die mit Gudstikker sehr vertraut taten, sich an seinen Arm hingen, lachten, trällerten, scherzten, nach Wein riefen und sich auf jede Weise geräuschvoll gebärdeten. Sie waren mit nichts bekleidet als mit einem Hemd und langen Strümpfen; ihre Augen glänzten krankhaft, oder schienen müde, ihre Bewegungen waren geziert, ihr Lachen übertrieben, ihre Scherze zynisch. Ihr Gang hatte etwas Schwankendes, das Spiel ihrer Hände und Finger etwas Gieriges und Abenteuerliches. Seltsamerweise beachteten sie Agathon gar nicht: manche blickten scheu nach ihm hin, aber taten dann wieder, als sähen sie ihn nicht. Bisweilen erschien eine ältere Dame und führte Reden, die etwas Anfeuerndes haben sollten; bisweilen auch läutete eine Glocke, dann verschwand eines der Mädchen lächelnd und die andern sahen teilnahmlos ins Leere, immer dieselbe auffordernde Miene beibehaltend.

Gudstikker benahm sich wie zu Hause. Gönnerhaft verabreichte er seine Worte, lehnte sich breit und behaglich auf den verschabten Polstern zurück, klatschte leutselig auf nackte Arme, schlug ein paar Takte auf einem schrillklingenden Klavier an, lächelte nachsichtig, wenn ihn die Mädchen neckten und den schwarzen Doktor nannten, doch bei alledem schwand eine gewisse ernste Falte nicht von seinem Gesicht und ein stechender Blick nicht aus seinen Augen. Bald ging er weiter mit Agathon in ein daneben befindliches Gebäude, und Agathon folgte, betäubt durch eine beengende Erwartung, die er nicht deuten konnte. Wiederum sah er den verkommenen Putz erbärmlicher Prunkstuben, halberblindete Spiegel, von Staub zerfressene Goldrahmen; wieder sah er die für den Gebrauch der Nacht überschminkten Frauengesichter, in denen jedes Leiden, jeder Schmerz, jedes Nachdenken, jede Erinnerung, jede Feinheit verschwunden war, wiederum roch er die abgelagerte Luft von gestern, atmete den Rauch der Zigaretten, den Dunst der Weine und wurde behandelt wie einer, der nicht da ist oder den man nicht sieht. Er sah in dunkle Nebenkammern, wie man auf einer längstverödeten Straße Wagenspuren verfolgt; das heimische Laster hatte seine Spuren selbst in die Finsternis gegraben. Er sah in andern Stuben junge Männer lungern und sich erhitzen um einen Kuß, von dem sie vergessen wollten, wie feil er war und wie jedem er gewährt worden war. Er sah Spielkarten fliegen und hörte rohe Scherze durch die Wände dringen, Pfropfen knallen, Goldstücke rollen und glaubte zu erkennen, wie mancher seine Ohren verschloß gegen die Stimmen, die er nicht hören wollte, nie hören durfte, ohne den Verstand zu verlieren. Er erblickte die Kammern dieser Frauen und Mädchen, die von unsinnigem Zierat starrten, worin sie sich bei Tag einem bleiernen Schlaf überließen, worin ein rotes oder grünes Licht künstliche Schwülnis hervorbrachte und selbst den abgeschabten Stellen der Tapete etwas Schmückendes verlieh, gleich dem Märchen von der ersten Sünde und der poetischen Verführung, das die Bewohnerin in seinem matten Schein ersinnt und dem empfindsam gewordenen Besucher verabreicht. Er sah die verschnörkelten, steilen Treppen, auf denen die Mädchen hinauf- und hinabeilten und dabei berechneten, wieviel sie noch verdienen müßten, um sich bezahlt zu machen dafür, daß sie hier in Hemd und Strümpfen sich mästen durften, ohne daß man mehr von ihnen verlangte, als daß sie lachten, lachten, immer lachten. Mochten sie fett oder mager sein, blond oder schwarz, alt oder jung, sie hatten keine Aufgabe, als die, zu lachen. Und jedes neue Läuten der Glocke brachte einen neuen Gast in diese Krämerei, wo lebendiges Fleisch verhandelt wurde: Junge Menschen, die mit zitternden Lippen und studiertem Gleichmut unter der Schwelle standen, um zu warten, was man mit ihnen beginnen würde; schiefe Greise, die einen letzten Funken ihres vergehenden Lebens anzufachen bemüht waren; Männer, von Langeweile und Gewohnheit hergetrieben, Knaben sogar mit den erschreckenden Zeichen vorzeitiger Fehltritte in den Augen, die sie wissend einem alles verschlingenden Abgrund zueilen ließen, Bräutigame, die ein Mittel suchten, die ideale Schwärmerei des Brautstandes zu überdauern, geachtete Bürger, die liebenswürdige und gute Frauen besaßen, Lehrer, Beamte, Studenten, Handwerker . . . Wie um Erbarmen flehend, suchten Agathons Augen diejenigen Gudstikkers und diese antworteten: Hier gibt es kein Erbarmen. Und Agathon verlor Ruhe, Kraft und Besinnung und Bild auf Bild in stummer Reihenfolge bedrängte ihn. Oft war es auch ein leidendes Gesicht, das er gewahrte, das mit hineingerissen wurde in den Strudel und versank. Erschüttert wollte er fliehen, doch schon war Gudstikker neben ihm, der ihn führte, – durch die menschenleeren Gassen der Stadt.

Warum, warum ist das alles? fragte Agathon flüsternd. Aber nichts gab ihm Antwort, während Gudstikkers Nähe mehr und mehr beklemmend auf ihn wirkte. Und er sah durch die Mauern der Häuser, armer und reicher Häuser; er hörte Angstrufe, Hilfeschreie einer versinkenden Gesellschaft, einer Welt, die wie ein Schiff sich langsam mit Wasser füllt, um unrettbar in den Abgrund zu tauchen. Bis jetzt war es nur das offene Spiel gewesen, das lediglich zum Schein den Stempel der Heimlichkeit trägt, und um jenen Anstand zu wahren, der noch die letzte Klammer der berstenden Wände bildet. Er sah, daß jedes Haus eine Wunde hatte, die unheilbar war; daß jede Tür eines jeden Zimmers mit unverlöschlichen Lettern das Gedächtnis eines schweren Makels aufbewahrte; daß jedes Glas eines jeden Fensters auf Dinge geschaut, die besser in dichtem Dunkel begangen worden wären; daß kein Schläfer unter allen so ruhig schlief, daß selbst seine reinsten Träume nicht durch den Nachhauch eines begangenen Frevels getrübt wurden, daß die Bereitwilligkeit, sich zu verkaufen, in keinem verschlossenen Haus geringer war, als in jenen öffentlichen; daß das Glück und die Ruhe aus den Zügen des Lebens verwischt waren und daß der Weinende wie der Lachende eine Maske trägt; daß die Händler des Fleisches und die Händler des Geistes bei Tag und Nacht, jahraus, jahrein durch die Gassen gehen und harmlos scherzend Gift säen; daß die Kaserne und das Spital, der Palast und das Gefängnis, die Kirche und das Wirtshaus, das Theater und die Schule von einem Schmerz gepeinigt, von einer Lüge erhalten, von einer Hoffnung betrogen werden. Und Agathon sah das Ziel in der Ferne zerstäuben zu nichts, die Fackel, die seinen Weg erleuchtet, langsam vergehen und er kannte, daß er gegen die gigantische Masse des Elends nichts war als ein Kind, das mit seinen Händchen Gebirge abtragen will. Und Jude oder Christ, was bedeutete ihm das noch gegenüber diesem heimlichen und lautlosen Kampf, der hier zwischen schlafenden Mauern geführt wurde? Jude und Christ hatten in gleicher Weise dazu beigetragen, das Jahrhundert dorthin zu führen, wo es stand, und ihre Todeszeugen fielen einander grinsend in die Arme und schlossen Bruderschaft.

»Gute Nacht, Bester,« sagte Gudstikker jovial, als sie vor seinem Haus standen. »Ich denke, meine Dienste haben Ihnen gut getan. Die Welt ist viel größer, als Sie glauben. Setzen Sie sich auseinander mit ihr, gute Nacht.«

Agathon nahm den Gruß verständnislos hin und blieb, als er sich allein sah, lange Zeit an derselben Stelle stehen. Mit dem Verschwinden Gudstikkers waren die Bilder und Gesichte vorbei. Agathon hatte kein Bett, keinen Zufluchtsort, begehrte keinen Zufluchtsort, begehrte keine Ruhe. Betrunkene taumelten an ihm vorbei, gröhlend oder still, begeistert oder trübsinnig. Alles was noch lebendig war auf den Straßen, wurde durch den Geist der Besoffenheit bewegt, der einen übelriechenden Dunst erzeugte. Dieser Geruch wird auch morgen das öffentliche Leben durchdringen und die Seelen der Besseren unmutig machen; er wird jede Frau, die schlaflos an dem Lager ihrer Kinder brütet, den Mann und die Liebe verachten lassen und wird alle Gefühle der Anmut und Frische zerstören, jede Vereinigung von Kräften unterwühlen.

Agathon war im tiefsten Herzen verzweifelt.

Vielleicht gab es noch eines, was ihn aufrichten konnte. Die Gestalt Bojesens erhob sich plötzlich aus der Vergangenheit, von einem übertriebenen Nimbus verklärt. Agathon blickte auf sie hin, wie auf eine tröstende Gestalt. Ehe er es überlegte, befand er sich schon vor dem Haus, in dem der Lehrer wohnte. Da das Tor bei der späten Stunde schon geschlossen war, ließ sich Agathon kraftlos auf die feuchten Steinfließen nieder, umschloß die Knie mit den Armen und wartete. Er wartete ohne Empfindung für das Vorbeifließen der Zeit. Im dritten Stock, wo Bojesen wohnte, öffnete sich bisweilen ein Fenster. Die Uhren schlugen eins, zwei, schlugen drei. Die Finsternis der Gasse schien klebriger und körperlicher zu werden.

Aber war das nicht Bojesen, der vor ihm stand? Diese etwas zusammengekrümmte Figur, die den Hut schief auf dem Kopf sitzen, die Hände tief in den Taschen vergraben hatte? Waren das nicht Bojesens Züge? Agathon mußte unwillkürlich lächeln, daß dies seltsam abstoßende Bild eines Menschen, diese schwankende Nachtgestalt solche Ähnlichkeit aufwies. Aber warum starrte nun der Schein-Bojesen so? suchte in seinen Taschen nach Schlüsseln –? brummte, als er sie nicht fand –?

Es erwies sich, daß es mehr als eine bloße Ähnlichkeit gab zwischen dem falschen Bojesen und dem Bojesen in Agathons Erwartung. Schließlich erhob Agathon in stechendem Schrecken die Hände und öffnete den Mund zu einem Schrei, den seine Kehle ihm nicht bewilligte. Dann fuhr Bojesen, der seine Schlüssel noch immer nicht hatte finden können, zurück und lehnte sich stammelnd an den Laternenpfahl. »Ich – suchte – Sie – sch – schon – ! lange genug – Ag – Agathon,« sagte er.

Agathon stand auf und trat dicht vor ihn hin.

Bojesen zog mit einer mechanischen Bewegung den Brief aus seiner Brusttasche. »Da lesen Sie ihn gleich,« sagte er und war plötzlich wieder im Besitz seiner Sprache. »Sagen Sie mir, was es ist. Sagen Sie es mir. Ich vergehe sonst. Ja, ja, ich liebe dieses Weib, kann mich nicht losreißen, verbrenne mir das Herz dabei, verliere mein Seelenheil, mein Geistesheil, alles, alles. Ich bin hin, eine Null, ein hohler Stamm, ein mürbes Blatt, ausgeblasen, bankrott. Was weichen Sie zurück vor mir? Agathon, haben Sie Mitleid! Oder sind Sie die Tugend selbst, daß Sie mich verachten dürfen? Was weichen Sie zurück mit entsetzten Augen?«

Agathon wich zurück vor dem Schnapsgeruch, der aus Bojesens Munde kam. Bojesen hatte wie ein Fiebernder geredet, mit überstürzten Sätzen, purzelnden Worten und theatralischen Armbewegungen.

»Nein, nein, ich bin nicht betrunken,« fuhr er fort und ballte die Fäuste; »nur ein paar Gläser Grog, das ist alles für einen Bankrotteur. Agathon lesen Sie den Brief (seine Stimme wurde heiser) und seien Sie aufrichtig mit Ihrem Freund –«

Da wandte sich Agathon, nachdem er den Brief an sich genommen und ging fort, so schnell er immer konnte. Und hinter sich hörte er den verzweifelten, ersterbenden Ruf in die Nacht verhallen: Agathon! Agathon! Als er die Wasseralleen erreicht hatte und den Fluß neben sich rauschen hörte, vernahm er es immer noch, dies: Agathon, als ob es aus dem Bett des Stromes käme.

Der Tag war für ihn beschlossen und das Jahr. Und viele Bauten, die unlängst noch prächtige Pforten vor ihm aufgetan hatten, schlossen diese Pforten von selbst wieder. Über der schier mit Händen zu greifenden Finsternis der Allee sah er eine brennende Stadt, ein brennendes Land. Erst brannte es sichtbar und lichterloh, dann war das Feuer unterirdisch und man hörte keinen Hilferuf.

Er kam an die Stelle, wo die Neubauten waren. Das Haus, in dem damals der Trockenofen gebrannt, war schon bewohnt. Aber daneben war noch ein anderer Neubau und heute brannte in diesem der Trockenofen und verbreitete seine düstere Röte in dem Gebäude und in dem Buschwerk der Umgebung. Nach einiger Mühe gelang es Agathon, sich durch das verrammelte Tor zu zwängen. Er legte sich vor den Ofen und bemerkte, daß seine Knie vor Kälte schlotterten. Doch er empfand es kaum. Sein bleiches Gesicht zuckte nur bisweilen unter der ungeheuern Bewegung seines Innern.

Schließlich, Stunden mochten verronnen sein, und die Hähne begannen schon zu krähen, erinnerte er sich des Briefes. Er sah ihn an und erkannte Jeanettens Schriftzüge. Er riß ihn auf und eine Banknote fiel heraus. Auf dem Papier stand mit gleichsam entsetzten und befehlenden Lettern nichts als eine Adresse der Hauptstadt und die Worte: Komme sogleich hierher.


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