Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundfünfzigstes Kapitel

Um fünf Uhr morgens erwachte Friedrich Borromeo nach kaum zweistündigem Schlaf. Er griff nach den Streichhölzern und machte Licht. Er wußte, daß es vergeblich war, auf das Wiedereinschlafen zu warten, darum erhob er sich, als die ersten Morgenlaute von der Straße heraufdrangen. Langsam wusch er sich und kleidete sich an, und um sechs Uhr war er fertig. Doch wohin mit all der Zeit, wohin? Neunzehn oder zwanzig Stunden lagen vor ihm, bis er sich wieder auskleiden konnte, um wieder das Bett aufzusuchen wie gestern. Jede dieser Stunden forderte ihn zu einer Art von Zweikampf heraus, und am Abend bemächtigte sich seiner von all dem In-dieLuft-kämpfen eine so grenzenlose Erschöpfung, daß er sich vor dem Wiederaufwachen nach spärlichem Schlaf fürchtete. Er fürchtete die Geräusche, durch die sich der Tag ankündigt, und das Licht, das der Sonne vorauseilt, scheute er ebenso, wie ihm die Finsternis Grauen erregte. Er liebte weder das Leben noch wollte er den Tod, sondern es war, als ob er einen Schlupfwinkel zwischen den beiden ausspüren wolle, fern von Gedanken, Erinnerungen, Erwartungen und Gefühlen der Verantwortlichkeit, gleichsam in den ruhenden Mittelpunkt des ewig beweglichen Kreises verkrochen. Er hätte selbst nicht zu sagen vermocht, durch welche Einwirkungen allmählich dieser sonderbare Zustand von Fäulnis in seinem Körper und Gemüt entstanden und angewachsen war. Lustlosigkeit war es, die das Wesen seiner Worte und seiner Handlungen gebildet hatte von jeher. Er hatte keine Freude an der Welt und keine Freude an den Menschen und keine Freude an sich selbst. Nur einen einzigen Menschen gab es, an dem er mit fatalistischer Zuneigung hing, und das war Arnold.

Die Straßen lagen schon in goldner Frühsonne, als er das Haus verließ. Er ging in ein Kaffeehaus, frühstückte, las die Morgenblätter, zahlte und machte sich auf den Weg zur Kanzlei. Er war der erste dort; in seinem Arbeitsraum war der Diener noch mit Kehren beschäftigt, und der Staub lief in den Sonnenstrahlen wie eine Sammetbrücke durch den Raum. Unruhig schritt Borromeo umher. Die Schreiber kamen mit verschlafenen Gesichtern; einer brachte ihm den Gerichtsakt, den er für die Verhandlung in Preßburg nötig hatte. Er nahm Hut und Mantel und fuhr zum Bahnhof. Er setzte sich in ein leeres Abteil und gab dem Schaffner ein Geldstück, damit er ihn allein lasse. Der Zug setzte sich in Bewegung, und Borromeo schloß die Augen. Plötzlich aber erwachte in ihm ein tiefer Widerwille gegen das Ziel seiner Fahrt. Er wollte nicht reden, nicht hören, nicht angestrengt nach Antwort sinnen, nicht lächeln, fragen, nicken und sich verbeugen, wollte nicht jene gleichgültigen, altbackenen, gefrorenen, mühseligen Redensarten über die Zunge wälzen, durch die allein eine Verständigung zwischen den Menschen möglich ist. Als die nächste Haltestation erreicht war, verließ er den Wagen, nahm seine Aktenmappe unter den Arm und spazierte in den Wald, der unmittelbar hinter dem kleinen Bahnhof begann. Aber nicht lange setzte er den Weg fort. Die Einsamkeit und Stille flößten ihm so große Furcht ein, daß die Haut über seiner Brust sich spannte und in ein konvulsivisches Zittern geriet. Er wagte auch nicht, sogleich wieder umzukehren, sondern setzte sich auf einen Baumstamm. Was ist mit mir? dachte er, mir graut vor dem Getümmel der Straßen, und mir graut vor der Ruhe des Waldes. Er nahm sein Messer und schabte geduldig die dicke Rinde von dem Stamm, auf dem er saß, bis das gelbe feuchte Fleisch zum Vorschein kam. Dann seufzte er, erhob sich, wanderte zur Station zurück und schickte ein Entschuldigungstelegramm dorthin, wo er vergeblich erwartet wurde.

Mit dem nächsten Zug, der erst am späten Nachmittag kam, fuhr er wieder in die Stadt. Er wollte nicht in die Kanzlei, denn auch dort erwarteten ihn vielleicht Fragen; er wollte nicht nach Hause. So setzte er sich denn wieder in ein Kaffeelokal, nur daß er jetzt statt der Morgenblätter die Abendblätter las. Und als er dieser Beschäftigung überdrüssig war, lehnte er sich zurück und starrte in die Luft. Viertelstunde auf Viertelstunde verging. Er empfand Hunger und bestellte ein Butterbrot. Der Raum wurde leer; es war schon halb zehn, als er sich entschloß, aufzubrechen. Wieder nahm er seine Aktentasche unter den Arm und schritt durch die verödenden Straßen. Ohne daß ihn jemand hörte, weil er niemand zu stören wünschte, erreichte er sein Schlafzimmer. Er wollte die Hände und das Gesicht waschen, doch waren die Krüge auf dem Waschtisch leer. Man hatte ihn für diese Nacht nicht zurückerwartet. Er drückte auf den Knopf der Glocke, welche in die Küche führte, aber niemand kam. Er wartete und lauschte und zündete endlich eine Kerze an, um selbst nachzusehen, denn da es noch nicht zehn Uhr war, mußten die Mädchen oder der Diener noch wach sein. In der Küche war alles finster; hat sie Anna aus dem Haus geschickt? dachte er, und ist sie selber fort? Er öffnete die Türe des Salons, auch hier war es finster, aber durch die Spalten der nächsten Tür drang ein Lichtschimmer. Er hielt die Kerze vor, ging über den Teppich, und als er die Hand auf die Klinke legte, vernahm er Murmeln und Flüstern. Leise öffnete er, denn die Anspruchslosigkeit seines Benehmens war so übertrieben, daß er kaum die Türen weit genug für seinen Körper zu öffnen wagte. Er sah zuerst nur ein Stück der dunklen Portiere, mit der in jenem Zimmer die Türe verhängt war, dann erst konnte er einen Teil des Zimmers selbst überblicken. Kaum war dies geschehen, als sich sein Mund im größten Entsetzen weit auseinanderzog. Er ließ die Klinke los; er wagte die Türe nicht wieder zu schließen, sie hatten nichts gehört drinnen und konnten nicht sehen, daß die Türe hinter der Portiere offen stand. Im Korridor entfiel die Kerze seiner Hand, und er tastete sich an der Mauer weiter bis zu seinem Zimmer, wo die Gaslampe brannte. Mit einem dünnen, wimmernden Geräusch, das sich fortwährend seinen Lippen entpreßte, warf sich Borromeo auf das Sofa, mit dem Bauch zu unterst.


 << zurück weiter >>