Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Fünfundvierzigstes Kapitel

Da es mit Agnes besser ging, wollte Hanka ebenfalls in die Stadt zurückkehren, und Arnold war es angenehm, Gesellschaft zu haben. Am letzten Abend raffte er sich auf und unternahm endlich eine Durchsicht der Rechnungen und Berichte, welche ihm der Verwalter vorlegte. Es vergingen Stunden damit. Der Inspektor schien es darauf anzulegen, ihn zu verwirren, aber Arnold zeigte ihm, daß es nicht leicht war, ihn zu übertölpeln. Er sollte sich darüber entscheiden, ob er ein Stück Acker an die Gemeinde verkaufen wollte, die es zum Bau einer Lokalbahn haben wollte, jedoch einen Spottpreis anschlug. Ungeduldig verschob Arnold den Bescheid, wodurch freilich nichts gewonnen war. Der Wagen mit Hanka kam; winkend und nickend fuhr Arnold gegen die Straße hinaus. Ursula ließ ein weißes Handtuch flattern, das noch lange zu sehen war.

»Ich bin froh, nun geht's wieder an die Arbeit«, sagte Arnold. »Weshalb sind Sie so schlecht gelaunt?«

Hanka streckte die Beine aus, und sein Kopf wackelte verdrießlich auf dem Hals. »Es geht mir schief«, antwortete er. »Die Montanpapiere sind um zehn Perzent zurückgegangen.«

»Was werden Sie tun?«

»Ich muß verkaufen.«

»Und dann?«

»Dann steht mir ein großes Unglück bevor – Arbeit.«

Arnold lachte. »Schade,« meinte er, »Sie sind zum Müßiggang geboren.«

Wohltätig wurde Arnold von dem Gewirr und dem Lärm berührt, als sie am Nachmittag in der Stadt eintrafen. Am Bahnhof trennte er sich von Hanka. Die Wärme des Lebens strömte ihm aus den Straßen entgegen. Hier war es nicht von Belang, ob die Sonne schien oder nicht, ob es regnete oder nicht.

In seinem Zimmer angelangt, entlohnte Arnold die Leute mit dem Gepäck, und währenddem trat Anna Borromeo unter die Türe. Freudig streckte sie ihm beide Hände entgegen, und Arnold war sehr überrascht, in ihr eine so schöne Frau zu sehen, denn für sein Auge war sie bisher nur die Gattin Borromeos gewesen. Sie erzählte ihm Neuigkeiten, und obwohl sie beide nie in so vertraulicher Weise geplaudert hatten, schien es Arnold doch natürlich zu sein und entsprach seiner gehobenen Stimmung. Anna war erstaunt darüber, daß er auch ihre halbgesprochenen Sätze im stillen zu ergänzen wußte, und daß er jenes andeutungsreiche Wesen begriff, welches zwischen Menschen von gleicher Kultur und gleichen Gewohnheiten entsteht.

Später las Arnold die Briefe, die für ihn eingetroffen waren. Zuerst nahm er Stück um Stück in die Hand, jedoch er fand nicht, was zu finden er gehofft hatte. Es waren meist Bettelbriefe und Einladungen. Ein Schreiben Wolmuts war dabei, der ihn benachrichtigte, daß er in die Statthalterei nach Graz berufen worden sei, und daß ihm wahrscheinlich bald eine weitere Beförderung in Aussicht stehe. Arnold war nicht sehr zufrieden damit; ihm war, als habe ein guter Geist das Haus verlassen.

Geschäftig räumte er alle Bücher aus den Regalen, rief den Diener, damit die Bände abgestaubt würden, und ordnete alles mit peinlicher Sorgfalt nach Größe, Gattung und Aussehen wieder ein. Die Schreibereien legte er Blatt auf Blatt zusammen und spannte das Gleichartige zwischen Drähte. Er ließ die Fenster waschen, die Dielen fegen, die Teppiche klopfen, begab sich auf die Jagd nach Tintenflecken, Spinneweben, Flöhen und setzte alles im Haus in Bewegung.

Als einige Tage vergangen waren, suchte er Hanka auf. In der Villa wurde ihm gesagt, Hanka wohne in einem Hotel in der Stadt. Verwundert fuhr er hin und fand ihn in trübseliger Laune. Hanka gestand ihm, daß er den größten Teil seines Vermögens an der Börse verloren habe.

Die Unterhaltung schleppte sich einsilbig weiter. Plötzlich begann Arnold von Verena zu erzählen. Die Ereignisse verschoben sich sonderbar in seinem Mund; gefärbt durch selbstsüchtiges Leiden, wirkten sie romantisch und verzwickt. Schon die Befürchtung, ein Liebesabenteuerchen wie hundert andere zu erzählen, verwischte den natürlichen und ruhigen Lauf der Begebenheit. Hanka wurde nicht klug aus der Geschichte. Er äußerte sanfte Zweifel an der gepriesenen Verena, und mehr als den Verlust seines Vermögens betrauerte er plötzlich Arnolds übertriebene Beredsamkeit. Arnold fühlte es. In ziemlicher Erregung begann er von neuem, Verenas seltene Natur begreiflich zu machen; aber stets überhebt man sich, wenn man loben muß, was man liebt, und Hanka wurde immer mißtrauischer und betrübter. So sehr er Äußerungen des Temperaments achtete, so sehr schreckte ihn erhitzte Empfindung ab.

Aber er begab sich des Nachdenkens darüber und begnügte sich mit der Feststellung der Tatsache. Er ging an den Ereignissen vorüber, wie man im Flur eines Hotels an den Zimmern vorbeigeht, in denen man nicht wohnt. Aber da sein alles voraussehender und stets auf das Schlimmste vorbereiteter Geist von Schrecken erfüllt war durch die Erwartung der Millionen Wirkungen aus einer einzigen Ursache, so wurde all sein Handeln eigentlich durch ein alles umgürtendes Verantwortlichkeitsgefühl erdrosselt. Hanka dachte an die Worte Marc Aurels: Schändlich ist es, wenn deine Seele ermüdet, ohne daß dein Leib müde ist; und grübelte mit dem heiligen Augustinus: Woher diese Unnatur? Und warum? Der Geist gebietet dem Körper, und der Körper gehorcht; der Geist gebietet sich selbst und findet Widerstand.

Hankas einzige Zuflucht bildete das Glücksspiel. Er verbrauchte alle Kräfte seines Gemüts für die aufreibenden Erregungen am Kartentisch. Hier sah er alles im kleinen vollendet, was sonst seinen rechnenden Geist mit finsterm Beharren erfüllte, das ungefähr, das vernunftlos-notwendige, seit Ewigkeit im Weltraum lauernde Ungefähr, welches als Zufall, mit einer Narrenkappe versehen, oder als Schicksal, das Antlitz eines Gottes tragend, den kleinen und großen Gerichtshof für die Lebendigen bildet. Aber betrübte Spieler können nicht gewinnen. Er hatte das Gefühl, als werfe er das Geld ins Wasser. In wenigen Wochen verlor er gegen fünftausend Gulden. Als die Summe voll war und sich der Weg deutlich zum Abgrund hinunterbog, erhob er sich mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit und sagte: »Genug, ich werde keine Karte mehr berühren.«

Als ob er nun die Mauer zerstört hätte, die ihn von Arnold trennte, war sein erster Gedanke, den Freund aufzusuchen. Die Zimmer, in die er trat, sahen aus wie ein Platz nach dem Jahrmarkt. Kisten, Koffer, Bücher, Betten lagen durcheinander; Arnold hantierte mit rotem Kopf auf einer Leiter, der Diener war mit Packen beschäftigt. »Holla!« rief Arnold herab, »Sie kommen gerade recht. Bei mir gibt es Arbeit, wie Sie sehen.«

»Ich sehe wenigstens, daß Sie beschäftigt sind«, erwiderte Hanka etwas verdrießlich.

»Ich ziehe nämlich aus«, erklärte Arnold, sprang mit einem Satz auf den Boden und rollte eifrig einen Strick über die Hand. »Hier ist mir alles zu klein. Ich habe eine neue Wohnung gemietet mit hohen Zimmern. Man muß atmen können.«

»Da bin ich also überflüssig«, meinte Hanka; »ich dachte, wir könnten eine kleine Spazierfahrt unternehmen.«

»Sehr gut!« rief Arnold, wandte sich zum Diener und gebot ihm, einen Wagen zu besorgen. »Ich habe schon zuviel Staub geschluckt«, sagte er und bahnte sich einen Weg zu Hanka, dem er nun mit strahlendem Lächeln die Hand drückte.

»Ich finde eigentlich keinen Grund, weshalb Sie das stille Haus hier verlassen«, sagte Hanka kopfschüttelnd.

»Es ist mir eben zu still«, erwiderte Arnold. »Alles ist alt und krumm hier im Haus. Wenn man ordentlich auftritt, krachen die Bretter im Boden. Es wird zu früh dunkel, es kommt keine rechte Sonne herein. Das ist nichts für mich. Dort, Sie werden sehen, der reinste Palast. Und etwas hab' ich gekauft, Hanka! Da werden Ihnen die Augen vor Erstaunen herausfallen.« Er lachte, auch Hanka lächelte.

»Man kommt nicht zur Besinnung«, sagte Arnold, als sie im Wagen saßen, der die Richtung gegen den Prater nahm. »Und wie schön es heute ist, wie gut die Luft! Das Leben ist eine sehr angenehme Erfindung.«

»So?« erwiderte Hanka ernsthaft und blickte bedächtig in den vollkommen blauen Himmel.

»Und Sie, schwarzer Kater, schnurren immer noch über schlechtes Wetter?«

»Ich schnurre,« gab Hanka zurück, »obwohl es mir dabei nicht so wohl ist, wie es die Beschäftigung des Schnurrens mit sich bringen sollte.«

Der Kutscher ließ die Pferde laufen, und das leichte Fuhrwerk sauste geschwind die breite Allee hinab, und mit gleicher Geschwindigkeit flogen zurückkommende Wagen an ihnen vorbei. Wunderschöne Frauengesichter tauchten auf, und Arnolds Mund öffnete sich begehrlich. Unersättlich im Wunsch, ließ er die Augen über die Massen hingleiten, die sich auf den Fußwegen drängten, und ihm war, als sei er es, der ihre Herzen schneller schlagen lassen könnte. Keiner weiß vom andern, jeder birgt in sich die größte Fülle der Bitterkeit, des Lebensüberdrusses und der Armut, und Arnold hat die Macht, all ihre Fähigkeit auf ein Ziel zu richten, tätig nach außen werden zu lassen, was zerstörend im Innern wirkte, aber er rast an ihnen vorbei zu andern Sternen.

Sie fuhren zurück gegen die Stadt. Arnold lud Hanka zum Tee ein. »Anna Borromeo hat mich längst gebeten, Sie zu ihr zu führen. Sie vermutet in Ihnen einen Philosophen.« Die Pferde gingen im Schritt, Dampf entstieg ihren Lenden, gleichwie auch von den Straßen der schwüle Dampf der Arbeit emporstieg.

»Ah, Besuche und noch dazu Damen«, sagte Arnold im Vorzimmer der Borromeoschen Wohnung. Sie traten ein. Baron Balescott war da, dessen Mutter und zwei seiner Schwestern. Arnold stellte Hanka vor und wurde selbst mit den fremden Damen bekannt gemacht.


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