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Hanka fragte, und Arnold gab gehorsam Antwort, Hanka befremdete ihn. Sein natürlicher Scharfblick erfaßte sofort die merkwürdige Mischung von Gutmütigkeit und Trauer, von Ironie und Langeweile in dessen Wesen. »Welche Beschäftigung haben Sie denn?« fragte er.
»Keine,« versetzte Hanka, »ich tue nichts.«
»Gar nichts?«
»Ich betrachte.« Hanka hatte seinen Stock in der Hand behalten und klopfte damit, weit vorgebeugt sitzend, auf den Boden.
»Haben Sie denn nichts gelernt?« fragte Arnold erstaunt.
Hanka lachte laut. »O ja«, antwortete er. »Ich habe die Juristerei erlernt, aber eben deshalb mach' ich keinen Gebrauch davon.«
Diese Antwort gab Arnold zu denken. Aber ehe er etwas dagegensagen konnte, kam Agnes ins Zimmer. Arnold richtete seinen Auftrag aus und schickte sich an zu gehen. Agnes war erfreut, ihn zu sehen, und dankbar für den Gruß des Lehrers. »Ein reizender Mann«, sagte sie von Specht. »Vielleicht kommen Sie, Herr Ansorge, nun recht oft zu uns.« Sie sprach laut, schüttelte die Hand Arnolds, und ihre Augen strahlten mild. Arnold fühlte das beunruhigte Wesen von sich weichen, und Sympathie strömte auf ihn ein. Beate, die nach Agnes gekommen war, schnitt eine Fratze; als sie aber Hankas Blick auf sich ruhen fühlte, betrachtete sie Arnold mit wohlwollendem Lächeln.
Arnold verabschiedete sich. Zu Hause angekommen, fand er auf dem Tisch ein katholisches Flugblatt über den Raub der Jüdin. Darin wurden öffentliche Ideale und der Name Gottes angerufen, aber die Wahrheit stand dabei und steckte die Hände in die Taschen. Arnold überlief es heiß und kalt. Seine Zuversicht begann zu schwinden. Darüber vergaß er die Mutter, wie er denn ihre Krankheit nicht ernst nahm, und keine Furcht deswegen empfand, hauptsächlich, weil Frau Ansorge ohne Äußerung eines Schmerzes lag.
Doch in der Nacht erwachte Arnold durch ein fortgesetztes tiefes Aufstöhnen. Mit Schrecken entdeckte er, von welchem Mund die Laute kamen. Da war es mit der Ruhe aus. Er bat den Doktor um Aufschluß. Es sei mit den Nieren nicht in Ordnung, erwiderte der Mann unsicher, und er halte es für gut, einen Spezialisten kommen zu lassen. Arnold ging mit sich zu Rate, schrieb und telegraphierte zugleich dem Oheim Borromeo, damit das Notwendige rasch geschehe. Als er die Depesche aufgegeben hatte, schritt er langsam den Hauptplatz hinunter, bis dahin, wo die Straße gegen die Elassersche Wohnung abbog. Zu jeder Zeit des Tages und der Nacht, in jedem Augenblick des Besinnens sah er dort Menschen um ihr Recht kämpfen, und sein ganzes Wesen lechzte nach Entscheidung.
An der Ecke des Platzes stand Uravar. Trotz der Kälte waren seine Ärmel hoch aufgestreift. Mit bedeutsamem Grinsen starrte er Arnold an und verfolgte ihn mit den stets wie in Trunkenheit glänzenden Augen.
In dem Häuschen des Juden herrschte vollkommene Stille. Die Tür nach dem Wohnzimmer war geschlossen. Arnold pochte, aber niemand antwortete. Er drückte auf die Klinke, öffnete, spähte durch den Spalt und sah einen Knaben an dem runden Tisch sitzen, den Kopf zwischen den Händen, in ein Buch vertieft. Er trat ein, der Knabe (der etwa dreizehn Jahre alt war, nach Jutta das älteste Kind) blickte erschrocken empor, erkannte wohl Arnold von früher, getraute aber nicht, sich zu rühren. Arnold fragte, ob niemand zu Hause sei, und blieb an der Türe stehen, um den Knaben nicht einzuschüchtern. Niemand, erwiderte der Bursche, und die Augen in dem blatternarbigen Gesicht zeigten Trotz. Der Vater sei in der Stadt, fuhr er auf eine weitere Frage mit langsamem Tonfall fort, die Mutter gehe in Geschäften über Land, die andern Kinder seien beim Rabbiner in Lomnitz. »Wie heißt du?« fragte Arnold. Moses, war die Antwort. Arnold näherte sich dem Tisch, blickte flüchtig in das Buch und nahm dem Knaben gegenüber auf einem Holzschemel Platz. »Und Jutta?« fragte er mit heiserer Stimme. »Wird sie denn nicht wiederkommen?«
»Der Herr fragt –!« erwiderte Moses ironisch und mit dem Bestreben, ein gutes Deutsch zu sprechen. »Wiederkommen! Eher wird Wachs zu Eisen.«
Arnold schaute den Knaben verblüfft an. Sonderbar war es ihm zumute, er fühlte sich schuldig. Langsam stand er auf und trat zum Fenster. Er hörte ein vielfältiges Gemurmel von draußen, öffnete den winzigen Flügel und sah oben an der Ecke zwanzig bis dreißig Menschen beisammenstehen. Gleichgültig schloß er das Fenster wieder und blickte nachdenklich auf den Knaben, der böse vor sich hinstarrte. Als er aus dem Haus trat, erblickte er am oberen Ausgang der Gasse noch immer die Ansammlung von Menschen; es schienen mehr als vorher zu sein, auch Weiber und Kinder hatten sich hinzugesellt, und ein verworrener Lärm herrschte. In der kurzen Gasse selber stand keiner, sondern diese war förmlich abgesperrt. In breiter Reihe warteten die Leute. Je näher Arnold kam, je mehr Gesichter wandten sich ihm durch gemeinsame Aufmerksamkeit zu, und endlich öffnete sich eine schmale Gasse, damit er hindurchgehen könne. Aber das sah mehr einer feindlichen Handlung als einer Höflichkeit ähnlich. Uravar stand in der Mitte eines Haufens gleich der Feder einer Uhr, welche, kaum wahrnehmbar, dennoch die Bewegung regelt. Arnold war weit entfernt zu denken, daß diese Zusammenrottung ihm gelten könne. Schweigen legte sich um die Masse. Blöde, neugierige, tückische Gesichter stierten ihn an, und unwillkürlich blieb Arnold stehen. Vor ihm öffnete sich eine Art Bucht, in deren Mitte er den neuen Pfarrer gewahrte. Der geistliche Herr hatte die Arme verschränkt und den Kopf steif emporgerichtet. Es war ein mächtiger Kopf, groß wie der eines Ochsen, mit an der Seite abstehenden Haaren. Die grünen Pupillen hinter der Brille flackerten komisch aufgeregt. In dem Augenblick erhob sich eine dünne, scharfe Stimme gegen Arnold: »Judenknecht!«, und das Gemurmel fing wieder an, dunkler und gärender.
Mit stummem Zorn blickte Arnold um sich, furchtlos forschte er nach dem Rufer, und in seiner Nähe kuschten die Murmler. Ruhig setzte er dann seinen Weg fort, aber er fühlte sich stärker, und als ein Schauer durchrann ihn die Vorahnung von Kampf.
Frau Ansorge verbrachte eine schlimme Nacht. Arnold, der um neun Uhr das Lager aufgesucht hatte, fuhr um Mitternacht aus dem Schlaf und wachte bis zum Morgen an Ursulas Seite. Die Kranke sprach nicht; wenn sie die Augen aufschlug, lächelte sie gezwungen; dann kamen Stunden, in denen sie unaufhörlich stöhnte und sich auf der niedrigen Matratze wälzte, Ursula murmelte Gebete aus einem Buch, Arnold saß mit gesenktem Kopf, die Augen bald gegen das Licht, bald gegen die Finsternis gewandt. Gegen zehn Uhr morgens kam der Doktor, um den Arzt aus Wien zu erwarten, der mit dem Frühschnellzug eintreffen mußte. Von der Station aus war noch ein tüchtiges Stück Weg, aber schon kurz nach elf kam eine Landkutsche mit zwei Insassen angefahren. Arnold trat in den Hof, die Herren zu begrüßen. Den Bruder der Mutter erkannte er sofort, obwohl er ihn seit den Kinderjahren nicht gesehen hatte. Borromeo reichte seinem Neffen die Hand, betrachtete ihn mit einem kühl-kritischen Blick, stellte den Arzt vor, einen eleganten, noch jungen Mann, und alle drei gingen zum Krankenbett. Frau Ansorge hatte kaum ihren Bruder und den Fremden erblickt, so schien es, als schüttle sie Fieber und Fieberbilder mit gewaltiger Anstrengung von sich ab. Ihre Erinnerung erhielt hundert Brücken. Als sie Friedrich zum letztenmal gesehen hatte, war all ihr früheres Leben und Fühlen ins Herz getroffen worden. Die dazwischenliegenden Jahre stürzten zusammen, und die Schmerzen, in denen sie jetzt gefangen war, verbanden sich mit jenen halbvergessenen.
Die Begrüßung war kurz und ohne Worte. Doktor Borromeo winkte Arnold und Ursula, das Zimmer zu verlassen. Die beiden Ärzte blieben allein. Arnold führte seinen Oheim in ein wenig benutztes Zimmer hinter der Küche. Da standen uralte Möbel, auf denen die Zeit gleich einem Gespenst lag. Borromeo hüllte sich frierend in seinen Pelz und schritt mit wiegendem, müdem Gang auf und ab. Dieselbe Müdigkeit drückte sich in seinen Gebärden wie in seinem Mienenspiel aus, sie lag in den hingeworfenen Worten, die er sprach, in seinem Lächeln, in seiner Stimme. Kinn und Mund waren durch einen schwarzen Bart verdeckt, der förmlich steifgebügelt aussah und eine ungemein sorgfältige Pflege verriet. Die obere Hälfte des Gesichtes zeigte frauenhaft weiche Linien.
»Was hast du eigentlich für deine Zukunft vor, Arnold?« fragte er, in seiner Wanderung innehaltend, mit einem langsamen und sinnenden Tonfall.
Arnold war überrascht und schaute zaudernd vor sich hin. Aus einem unklaren Grund empfand er ein ebenso unklares Mitgefühl mit dem Mann. »Ich weiß nicht. Ich will leben«, sagte er trocken.
Borromeo fuhr mit der flachen Hand behutsam an seinem Bart herab, kaum die Haare berührend, als fürchtete er, sie zu zerzausen. »Und hältst du das für so leicht?« erwiderte er sanft und traurig.
Arnold lachte. »Ist es denn schwer?« fragte er verwundert. »Hast du denn so schlechte Erfahrungen gemacht?« Er saß rittlings auf einem Stuhl und drückte das Kinn auf die Lehne.
»Ich glaube, es ist nicht möglich, andere zu machen«, antwortete Borromeo mit einem Lächeln, das ein vernichtendes Erbarmen mit dem Frager zeigte. Arnold wurde aus diesem wunderlichen Wesen nicht klug. Borromeo zeigte eine Einfachheit, die bis zur Hölzernheit ging, und eine ängstliche Sucht, unauffällig zu sein. Die Gesichtszüge des etwa Fünfundvierzigjährigen hatten einen greisenhaft stillen Ausdruck, die Augen starrten, als könnten sie in der Luft beobachten, was in der Seele selbst vorging. Trotzdem war bisweilen ein Aufleuchten im Blick, als gäbe es über gewisse tröstliche Dinge keinen Zweifel.