Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Siebzehntes Kapitel

Der Wiener Professor (samt einem Assistenten) und Friedrich Borromeo trafen auch diesmal zusammen ein. Die Operation wurde eine Stunde darauf vorgenommen. Arnold und sein Oheim befanden sich in demselben Zimmer wie neulich, jedoch in vollkommenem Schweigen. Wieder hatte sich Doktor Borromeo in seinen Pelz gehüllt, wieder schritt er mit seinem wiegenden, müden Gang auf und ab. Ein eigenes, morsches, bitteres, geduldiges Lächeln verzog bisweilen seinen Mund. Draußen war das ärgste Wetter, Sturm und Schneetreiben. Arnold konnte nicht anders als beständig den leise knarrenden, uhrenhaft regelmäßigen Tritten Borromeos zu lauschen. Ohne daß er es recht wußte, wirkte die Gegenwart dieses Mannes lähmend auf ihn. Nun erschien der Assistent unter der Türe. Er trocknete mit einem Tuch die Hände; die weiße Schürze war mit Blut bespritzt. Sein Gesicht zeigte die Helligkeit eines siegreichen Kämpfers, als er sagte: »Alles steht gut.« Arnold ging dem jungen Mann entgegen und drückte seine noch feuchte Hand. Auch der Professor kam zum Vorschein und begnügte sich, mit emporgezogenen Brauen seine Befriedigung bemerkbar zu machen. Ursula, deren Gesicht noch in Tränen gebadet war, hantierte übereifrig umher. Knechte und Mägde standen im Flur, und der Wind sauste durch die Spalten der geschlossenen Türe.

Arnold fühlte sich unheimlich. Auf einmal wußte er, als er die flüsternden Stimmen der fremden Männer vernahm, daß die Mutter sterben müsse. Er wollte in das Krankenzimmer, doch dies wurde ihm verwehrt. So verließ er das Haus, trieb sich zwei Stunden lang im Sturm umher, und ein nagender Schmerz ergriff ihn, während er an die Ärzte und an Borromeo wie an Gespenster dachte. Er stieß einen Schrei aus und rannte gegen den Hof zurück, bisweilen einknickend im Schnee, später seine tiefen Fußstapfen von vorhin benutzend. Er stürzte in das Zimmer der Kranken, trat ans Bett, umschlang sie mit den Armen und lachte halb triumphierend, halb vorwurfsvoll, als er sie lebend, wachend erblickte, freilich weiß wie die Leinwand, auf der sie ruhte. Frau Ansorge, erstaunt und müde, legte beide Hände auf seinen Kopf. Sein Ungestüm gab ihr zu denken.

Der Abend rückte schon heran, und das Wetter hatte sich ein wenig gebessert, da erschien Alexander Hanka. Er war förmlich versteckt in seinem Winterpelz, aber trotzdem war es zu verwundern, daß Hanka an solchem Tag eine Wanderung über die kaum gangbaren Straßen gewagt, um sich nach Frau Ansorges Befinden zu erkundigen. Er war auch frischer und belebter als sonst, schon in der Art, wie er Arnold die Hand reichte. Doktor Borromeo trat zu ihnen in das abseits liegende Zimmer. Es erwies sich, daß Hanka und Borromeo schon irgendwo einmal Bekanntschaft geschlossen hatten, und es blieb nur zu ergründen wo. Arnold erstaunte, wie zwei anscheinend so ernste Männer sich spielerisch an ein Erraten und Suchen begaben, oberflächliche Erinnerungen betasteten und dabei nicht das mindeste von Belang zu sagen wußten. Am seltsamsten war das Beziehungs- und Ortlose dieser in gleichmäßigem Ton geführten Unterhaltung; vergessen war Frau Ansorge, vergessen das Haus und die Schatten, die es bedeckten, vergessen schließlich der, zu dem gesprochen wurde, und jeder von beiden schien sich selber, sich allein dumpf und mechanisch anzureden. Arnold war schließlich froh, daß er mit Hanka allein blieb, da sein Oheim sich zur Wiederabreise vorbereiten mußte. Auch der Professor reiste; der Assistent blieb noch einen Tag, um eine schon gemietete Pflegerin aus Wien abzuwarten.

»Wie geht es Ihnen also?« fragte Hanka mit seiner tiefen Stimme, als er Arnold gegenübersaß. Er schlug ein Bein lässig über das andere und strich mit der Hand über das Knie. In seinen Augen lag etwas, das diese inhaltslose Frage vergessen machte. »Hoffentlich ist Frau Ansorge bald wieder gesund. Es soll ja nun Aussicht sein, wie?«

Arnold nickte. Was für ein Mensch, dachte er; ihn verwunderten die Worte Hankas, aber dennoch zog ihn irgend etwas an. Hanka seinerseits streifte den jungen Mann mit einem forschenden Blick und senkte dann rasch den Kopf. »Wollen Sie nicht einmal zu mir herüberkommen, wenn Sie sich langweilen?« fragte er mit offenbarer Anstrengung, ein überbrückendes Wort zu finden.

»Wenn ich mich langweile?« fragte Arnold. »Warum soll ich mich langweilen?« Er saß vorgebeugt, warf aber mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und schaute Hanka nachdenklich an.

»Beneidenswerter«, murmelte Hanka und suchte nach einem andern Gesprächsstoff. »Was macht Herr Specht?« fragte er zögernd. »Hören Sie von ihm?«

Arnold schwieg. Für ihn war der Name Specht schon etwas Fernes und Unwirkliches.

»Er soll sich sehr mit diesem jüdischen Mädchenraub befaßt haben«, fuhr Hanka fort, von Arnolds Schweigen sonderbar berührt. »Aber was ist nun aus der Geschichte eigentlich geworden? Diese unglückliche Affäre macht ihre Verteidiger und ihre Ankläger zuschanden.«

»Der Kaiser hat entschieden«, antwortete Arnold mit einer leichten Beunruhigung, die wie ein Hauch über seine Mienen zog.

»Von einer Entscheidung weiß ich nichts«, bemerkte Hanka kopfschüttelnd. »Was könnte der Kaiser auch hier entscheiden. Ich weiß ja nicht, möglich ist alles.«

Arnold lächelte besserwissend und erhob sich.

Hankas Gesicht war ermüdet. Es war, als hätte Nüchternheit seinen vorher so frischen Blick gebrochen. Er verabschiedete sich kälter und fremder, als er gekommen war.

Am Abend saß Arnold neben der Matratze der Mutter. Sie dachte an die Liebkosung, die er ihr vor Stunden erwiesen hatte, und beantwortete sie jetzt im Geist. Während Ursula am Lagerende ihren Strumpf strickte und der junge Assistent lesend bei der Lampe saß, schaute sie Arnold mit unverwandten Blicken an. In ihren Adern fühlte sie den Tod, aber ihm suchte sie, als wohne eine übermächtige Kraft der Beeinflussung in ihr, den Glauben zu geben, daß neues Leben für sie anbreche. Und Arnold, auch er kannte den Pfad, auf dem sie hoffnungslos schritt, und in seinem Gesicht war die Lüge der Hoffnung. So saßen sie beisammen und täuschten sich.

Die fremde Pflegerin war gekommen, hatte ihre Anweisungen erhalten, und der Assistenzarzt war abgereist.

Arnold ging zu Elassers. Die Frau zeigte ihm einen mit kaum leserlichen Buchstaben hingeschmierten Brief, den Jutta aus dem Kloster Tarnobrzeg geschrieben. Es war ihr gelungen, das Papier einer Händlerin zuzustecken, und diese hatte ihn gebracht. Der Brief war ein Notschrei.

Von Elasser hörte man nichts.

Als Arnold nach Hause kam und sich ans Bett der Mutter begab, verlangte sie, man solle das Fenster öffnen, und sie blickte nun schräg hinauf gegen den von flockigen Wolkengebilden bedeckten Tauwetterhimmel. Heute war es, als schlösse sie sich stärker als seit vielen Jahren an das Leben an, als sei die Luft um sie her verdünnt, und sie vermöchte weit hinter sich in einem wunderbaren Kranz von Ursache und Wirkung den Lauf ihrer Tage zu verfolgen. Deshalb strahlten ihre Züge plötzlich Güte aus, und Arnold fühlte sich aufgefordert, zu reden. Aber was sollte er sagen? Ich nehme teil an einem fremden Schicksal? Irgend etwas hat mich mit hundert Krallen ergriffen, wovon ich nicht Rechenschaft zu geben vermag? Wie hätte er dies zu sagen vermocht? Wie hätte er seine Unruhe zu schildern vermocht, seine Bangnis um irgendwelche Nachricht, um Klarheit, seinen immer wieder erstickten Zorn, sein grüblerisches Horchen? Plötzlich ergriff die Mutter seine Hand, als habe sie seine wachsende Drangsal verstanden. »Es gibt ein Wort in der Bibel, das mußt du dir merken, Arnold«, sagte sie. »Es heißt: Wer reiner Hände ist, mehrt die Kraft.« Die Kranke wandte sich ab. Auf ihren Augenwimpern lag Todesschatten. Als die Pflegerin das Fenster leise schloß, seufzte sie tief.


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