Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Am Sonntag, dem Empfangstag bei Osterburgs, füllten sich schon von fünf Uhr ab die Zimmer mit Besuchern. Herr Martin Osterburg stand bei einer Gruppe junger Leute und prahlte mit dem Sieg eines Rennpferdes, auf welches niemand gewettet hatte, ausgenommen er selbst. Als jemand dies bezweifelte, konnte Martin nur noch zwei Leute zugeben, die ebenfalls auf dieses Pferd gesetzt hätten. Als aber ein anderer Herr behauptete, dieser Sieg sei lange vorher ein öffentliches Geheimnis gewesen, da wurde Osterburg vor Verachtung um fünf Zentimeter länger, und seine grauen, bürstenartig emporstehenden Haare erschienen wie lauter entrüstete Ausrufungszeichen. Gleich darauf aber war er wieder freundlich, begrüßte Emmerich Hyrtl und Armin Pottgießer, den von allen gefürchteten Pottgießer. Pottgießer war Börsenmann, Zeitungsbesitzer, Volksfreund, Regierungsfreund und vor allem war er unermeßlich reich.

Mit erstauntem Gesicht trat jetzt Arnold Ansorge ein. Dies war die Stunde, die ihm Natalie bestimmt hatte, und anstatt Natalies sah er eine Menge unbekannter Menschen. Hinter ihm blieb die Tür geöffnet, und eine alte, wie ein Fabeltier aufgeputzte Dame, der zwei junge Mädchen folgten, schob Arnold beiseite und trat rauschend ein. Natalie gewahrte Arnold. Sehr verlegen ging sie ihm entgegen; sie hatte nicht geglaubt, ihn heute schon bei sich zu sehen. Sie bereute ihre Einladung, denn nach Hyrtls Bericht fürchtete sie eine Art Ungeheuer in Arnold. Sie reichte ihm die Hand und war schüchtern vor lauter Neugierde. Sie bat ihn, ihr zu folgen, und führte ihn zu Petra und Hyrtl, die allein in einem Winkel saßen. »Verzeiht,« sagte sie, »hier ist ein Ausnahmsgast.«

Arnold setzte sich schweigend nieder. Die Luft war heiß. »Ist hier eine Versammlung, Fräulein?« fragte er, indem er Petra erwartungsvoll anschaute. Das junge Mädchen errötete, lachte, war verwundert und wußte nichts zu antworten. Hyrtl, der wie ein Ballon von Vornehmheit dasaß, verlor den gleichgültig-grämlichen Ausdruck, der in seinen Zügen vorherrschte, und sagte liebenswürdig: »Lassen Sie sich nicht beirren. Die Leute sind nur da, weil sie ihre eigene Langeweile vergessen, wenn sie einen andern sich langweilen sehen.«

Petra, die durch Arnolds höfliche Aufmerksamkeit, mit der er den Worten Hyrtls lauschte, gerührt wurde, lächelte, und ihre Augen nahmen plötzlich im Lampenlicht ein schönes, tiefes Blau an.

Ein junger Mann mit gelber Gesichtsfarbe und schwarzen, frechen Augen näherte sich. »Freund Hyrtl sieht heute sehr bedeutungsvoll aus«, sagte er mit offenbarer Geringschätzung.

»Bei mir hat jedes Härchen seine Bedeutung«, entgegnete Hyrtl mit unschlüssiger Selbstironie.

»Dann müssen Sie aber mit den Jahren viel an Bedeutung eingebüßt haben«, sagte der junge Mann. Hyrtl lachte gutmütig-widerwillig und verzog verächtlich das Gesicht. Beide verachteten einander aufs äußerste. Petra spielte mit ihrer Uhrkette.

Was reden sie? dachte Arnold bestürzt. Er blickte Petra an, sah rückwärts in das Zimmer, dann gegen das Fenster und dachte abermals: Was reden sie?

Natalie kam heran. Sie war rot, belebt, bewegt von Reden, von Hören, von Lächeln. Mit leichter Vertraulichkeit legte sie die Hand auf Arnolds Schulter; er blickte überrascht empor. »Nun, was treiben Sie?« fragte sie, mit den Augen zwinkernd.

Auf einmal, er wußte nicht, wie es kam, begann er zu erzählen. Vielleicht war es der Trieb, sich aufzuschließen, oder fühlte er das Verlangen, seine Anwesenheit zu rechtfertigen. Er berichtete von der Gewalttat, deren Opfer der Jude Elasser geworden, und wie alle Mühe vergebens gewesen war, ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Deswegen habe er sein Gut verlassen und sei in die Stadt gekommen. Er blickte jeden der drei Zuhörer leuchtend an, als ob er überzeugt sei, daß sie sich gleich ihm selbst für diese Sache entflammen würden. Er war in seiner Weise beredt, und diese Beredsamkeit verschaffte ihm den Respekt jener nichtigen Menschen.

»Das ist ja riesig interessant!« rief Natalie aus, als er geendet.

»Allerdings eine alte Geschichte, das mit dem Juden«, bemerkte Hyrtl frostig.

»An der Geschichte ist freilich nichts Neues«, erwiderte Natalie; »aber daß er sich so dafür ins Zeug legt, ist doch interessant.«

»Man müßte etwas dafür tun«, sagte Petra, die sich schämte.

»Ich werde mit meinem Freund, dem Minister Schrott sprechen«, entgegnete Hyrtl, indem er auf die Uhr blickte.

»Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein«, sagte Arnold warm.

»Kommen Sie!« sagte Natalie.

Er stand auf und folgte ihr. Er glaubte, sie wollte ihm etwas Wichtiges mitteilen, indessen führte sie ihn zu ihrem Mann und sagte: »Da ist er.« Und als Martin ein dummes Gesicht machte, fügte sie feierlich hinzu: »Herr Ansorge, der Neffe von Borromeo.«

Martin schnalzte mit der Zunge, legte seinen Arm sogleich in den Arnolds, steckte ein Kaviarbrot in den Mund und sagte kauend: »Ist es wahr, daß Sie bis jetzt in einer Höhle gelebt haben? Alle Welt erzählt davon.«

Arnold sah den Mann überrascht an und wußte nicht, was er aus ihm machen sollte. Er bückte sich, um eine Nadel aufzuheben, die im Teppich blitzte, dann ging er zur Tür, verließ den Raum und suchte draußen seinen Mantel. Im Treppenhaus atmete er tief die kühle Luft ein. Unten im Flur überholte er Emmerich Hyrtl, der vor ihm gegangen war und sich nun mit einem gedrehten, mühsam elastischen Schritt gegen die Straße bewegte, wo sein Wagen wartete. Die Figur dieses Mannes war auffallend; es schien, als säße auf künstlichen Beinen ein hölzerner Rumpf. Auch der Kopf schien mit Kunst in die Schultern eingedreht, und der allzu kurze Hals verschwand im Pelz des Mantels. In allen Bewegungen, in jedem Blick lag drückende Langeweile und trostlose Ruhe.

»Kann ich Sie irgendwohin fahren, Herr Ansorge?« fragte er höflich und wohlwollend. Er schritt zu den Pferden, patschte den Tieren auf die Lenden, und die Eitelkeit eines Knaben zeigte sich auf seinem Gesicht.

Arnold verfolgte das Gebaren Hyrtls mit großen Augen. Er empfand plötzlich Neugier, den Mann von innen zu sehen oder doch ohne Kleider, vielleicht schlafend, jedenfalls aber, wenn er sich allein glaubte.

»Wie kommen Sie eigentlich zu Osterburgs?« fragte Hyrtl. Er hatte den Wagenschlag geöffnet, stellte einen Fuß auf das Trittbrett und zündete eine Zigarette an. »Es ist eine ganz interessante Familie«, fuhr er fort, ohne sich an Arnolds Schweigen zu kehren. »Das, was Sie oben sehen, ist alles Maskerade. Die Leute sind verschuldet vom Boden bis in den Keller. Hinter den Möbeln und Bildern hängen die Pfändungssiegel. Die Stühle, worauf sie sitzen, gehören ihnen nicht. Jede Tasse Tee, die wir oben trinken, ist sozusagen von anderer Leute Geld gekocht. Natalie betrügt ihren Mann, und Osterburg betrügt seine Frau. Es ist alles Schwindel, was Sie da sehen, eine Lotterwirtschaft ohnegleichen. Nur Petra, das ist eine famose Person, ein ganz besonderes Mädchen. Na, adieu, leben Sie wohl!«

Er reichte Arnold die Hand, stieg ein und gab mit eleganter Bewegung dem Kutscher das Zeichen, zu fahren.

Arnold war wie vor den Kopf geschlagen. Nach kurzem Überlegen beschloß er, von neuem hinaufzugehen und zu sehen. Seltsam! Er wollte sehen, was dort an den Mauern klebte, womit die Gesichter getüncht waren; er erschien sich in wichtiger Angelegenheit hintergangen und wollte sich nun Wahrheit holen.

Er eilte die Stufen empor, läutete, warf seinen Mantel auf einen Berg von andern Mänteln und trat mit suchendem Gesicht in die Gesellschaftsräume. Zwischen Köpfen und Schultern sah er Natalie wie durch eine Mauerspalte. Sie gewahrte ihn und lächelte ihm zu wie einem vertrauten Freund. Sein Gehen und Wiederkommen hatte sie nicht bemerkt. Arnold suchte näher zu ihr zu gelangen, und plötzlich vernahm er ihre Stimme hinter sich. »Denken Sie nur, was ich soeben höre,« sagte sie mit einem vor Erstaunen jauchzenden Lachen zu einer Dame; »Hanka hat sich verheiratet ...«

Arnold drehte sich um. Er konnte in ihrem Gesicht nichts gewahren als Jubel, Liebenswürdigkeit und Vergnügen. Nein, der Mensch da drunten muß gelogen haben, dachte er.


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