Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Vierzigstes Kapitel

Durch Schneegestöber und hochliegenden Schnee ging Verena von der Universität nach Hause. In der Nachbarschaft versorgte sie sich für den Mittag mit Schinken und Brot und erstieg nachdenklich die Treppen zu ihrer Wohnung: mit jeder einzelnen wurde ihr Herz schwerer und vergaß die schneeweiße Fröhlichkeit der Straßen. Oben wollte sie Tee kochen, fand aber, daß kein Spiritus mehr da sei. In Hut und Mantel kauerte sie vor den Ofen hin und legte Späne hinein, um aus der Glut noch einmal frisches Feuer zu gewinnen, dann stellte sie sich ans Fenster, und ihr Blick schweifte ernsthaft über die zahllosen schneeberahmten Fenster der Höfe, hinter denen bisweilen ein umrißloses fremdes Gesicht auftauchte. Als es im Zimmer warm zu werden begann, nahm sie die Flasche, und, die Treppen hinuntergehend, hatte sie abermals das Gefühl, als nähere sie sich einem Schauplatz der Heiterkeit; in der Tat glich die Straße einem blendend weißen Saal, in welchem die Flocken einen schwerelosen Tanz aufführten.

Oben angelangt, setzte sie sich, anstatt Tee zu bereiten, vor das Knochengerüst, stützte den Arm auf die Lehne des Holzstuhls, den Kopf in die Hand und blickte unter halbgeschlossenen Lidern schräg auf den dürren Schädel. Wunderliche Anwandlungen, mit diesem Ding ein Gespräch anzuknüpfen, unterdrückte sie, ja, sie erblickte sich selbst, losgelöst von Fleisch, Blut und Empfindung, doch immer noch Zwischenglied, beinernes Abstraktum. Eine seltsame Zärtlichkeit erschütterte sie von oben bis unten, und bald darauf, als ob ihr Organismus von Kämpfen ermüdet sei, hatte sie Schlafbedürfnis. Sie legte sich auf das Bett und schlief ein, um nach einer Viertelstunde von dem Geräusch eines Eintretenden zu erwachen. Es war Arnold; erschreckt fragte sie, wie er hereingekommen sei. Seine Erklärung, daß die Außentüre nur angelehnt gewesen sei, nahm sie mit einem nachdenklichen und süßen Lächeln auf, in dem noch ein Traum zitterte. Sie erhob sich, reichte ihm die Hand und strich die braunen Haare aus der Stirn. Über Arnold legte sich eine Erstarrung. Er glaubte glücklich zu sein oder doch die Nähe des Glücks zu ahnen. Das Bild eines märchenhaften Sommers stieg vor ihm auf; nackte Menschen wanderten zwischen Blumen und buntem Laub. Nie hatte er Verena so gesehen, still und von animalischer Zutraulichkeit. Er ergriff ihre Hände, um zu sehen, ob sie es auch wirklich sei, er preßte ihre Hand an die Lippen und drückte die Zähne in die Haut, so daß zwei Halbkreise von blutunterlaufenen Strichen entstanden. Sie seufzte schmerzlich und drängte von ihm weg; er flüsterte, ungewiß lächelnd. Sein Gesicht war feucht, und er breitete die Arme aus – nach nichts. Er folgte ihr nun, umschloß sie bei den Schultern und küßte sie. Ihre erstickten Bewegungen, sich zu befreien, glichen den Zuckungen eines betäubten Tieres. Der beschwörende Ausdruck und Glanz ihrer Augen erlosch langsam. Ihre beiden offenen Hände lagen zuerst wie zwei tote Körper auf seinem Haupt und glitten dann bis zum Nacken herab, um endlich schlaff mit den Armen völlig zu sinken. Arnold ließ sie nicht. Ihr tränennasses Gesicht sah er nicht. Er fragte nicht mehr, ob sie mit Freude gewähre, er sah nicht ihre Lebensangst; als sie nachgiebig geworden war, unfähig, einen vergangenen oder zukünftigen Augenblick zu bedenken, als alle gesprochenen Worte plötzlich leichter schienen wie die Luft, erfüllte Verena ein Verlangen, dessen räuberische Wildheit für sie etwas Elementares hatte.

Am Abend ging sie noch mit ihm fort. Allein im Zimmer zu bleiben, erschien ihr auf einmal unmöglich. Ihr Anschmiegen hatte etwas Furchtsames. Sie war schweigsam: ihre Lippen waren versiegelt vor Erstaunen und Ratlosigkeit. Was ihr körperlich zurückgeblieben, war ein alle Glieder umgürtender Schmerz; und im Gemüt lag Nüchternheit, Selbsthaß und Erschöpfung. Noch gestern über den gewöhnlichen Dingen und Menschen der Straße schreitend, kam sie sich heute mit ihnen vermählt vor, jedenfalls vereinigt, verurteilt, ihr Eigenleben zu verlassen und an den tausend endlosen Geschäften der zum Tode strebenden Menschheit teilzunehmen. Der Lärm und die Unrast der unzähligen enggedrängten Häuser strömte auf sie ein. Die Stadt, wie eine dampfende Maschine mit glühendem Bauch, Dampf und Feuer ausspeiend, lebendige Leiber in ihren Fäusten zerquetschend, erhob sich aus der beunruhigten Erde, deren unsichtbarer Mund um Gnade bat. Sie ging ohne Festigkeit und spürte zwischen ihren Füßen und ihrem Leibe keinerlei Zusammenhang. Sie wußte kein Mittel, sich vor ihrem aufstürmenden Innern zu verschließen, als den Schlaf, aber sie mochte sich noch nicht von Arnold trennen. Seine Gegenwart erschien ihr notwendig; an ihm aufblickend glaubte sie ihn viel größer als sonst, und sie spürte etwas wie bange Erwartung vor seinem Urteil und seinem heiteren Blick.

Er begleitete Verena wieder zurück. Die kalte, stille Luft hatte sie beide erfrischt. Vor dem Tor blieben sie noch eine Weile plaudernd stehen; aber es war, als ob jeder nur aus Gefälligkeit gegen den andern rede, da das Reden der inneren Stimme vorlaut zu werden begann. Verena suchte den Abschied von einer Minute zur andern zu verschieben. Ihr Gesicht war gerötet; einmal legte sie den Kopf auf die rückwärts gekreuzten Hände, wodurch die atmende Bewegung der Brust etwas Friedliches und Erstaunliches erhielt. Dann sagte sie gute Nacht und reichte ihm den Mund zum Kuß. Lange sah sie ihm nach, wie er sicher und fest dahinschritt und wie sich frohe Laune und frohe Leichtigkeit des Herzens in seinen Bewegungen ausdrückte. Ihr war es einsam.

Arnold dagegen war in der Tat voll Zufriedenheit. Er ging so aufrecht, als wäre ihm der Befehl über eine Armee übertragen worden, lächelte bisweilen verschmitzt und gemütlich in sich hinein, und als er nach Hause gekommen war, legte er sich sogleich ins Bett und schlief fest bis zum Morgen.

Die Sonne schien ins Fenster, als er beim Frühstück saß. Der Diener kam und meldete eine Dame. Es war Verena. Sie trat ein; ihr Gesicht war von einer eigentümlich strahlenden Blässe. Sie nahm mit den Bewegungen eines Gastes Platz. Mit weiten Augen, die keinem Aufenthalt begegnen wollten, schaute sie umher und sagte:' »Ich wollte dich nur sehen, Arnold. Wie hast du geschlafen? Wie geht es dir?«

»Gut, sehr gut, Verena«, antwortete Arnold glücklich und mit erwachendem Stolz darüber, sie zu besitzen. Aber er sah an ihrem Wesen, daß sie wieder »gedacht« hatte, wie er es innerlich nannte, und suchte seine sich regende Scheu durch eine etwas heuchlerische Freimütigkeit zu bemänteln.

Verena legte den Kopf zurück und sah ihn an. Ihre Handschuhe fielen zu Boden, und Arnold bückte sich danach. Dann standen sie einander gegenüber. »Du sollst wissen, Arnold,« begann Verena und wühlte mit den runden Fingern im Pelzbesatz ihrer Winterjacke, »daß ich mich keiner Täuschung hingebe. Ich habe die ganze Nacht dazu benutzt, um über uns beide klar zu werden. Denn das Nebeneinandergehen genügt nicht, man muß doch auch wissen, wohin man geht.«

»Warum, Verena,« unterbrach sie Arnold mit leisem Unwillen und mit Furcht vor dem, was sie sagen würde, »warum immer das zerpflücken, was schön ist und was von selber entstanden ist? Es ist genug, über das Schlechte zu grübeln, und warum brauchst du ein Wohin? Die Erde ist rund, und man geht immer nur im Kreis.«

»Das ist doch eine etwas oberflächliche Wahrheit«, entgegnete Verena, erstaunt über das Bestimmte und Fertige seiner Meinung. Eine Sekunde später, und sie wurde traurig, denn sie erkannte, daß er ihr entweichen wollte.

»Du bist zu schwermütig, Verena«, sagte er mit begütigender Kritik, vergeblich nach dem Grund ihres ahnungsvollen Schweigens suchend.

Verena erhob schnell den Kopf. »Darin hast du recht!« rief sie aus. »Begreifst du es nun?«

»Ich begreife nichts«, entgegnete er mit stockender Stimme.

»Ich weiß zuviel von mir. Leider«, sagte Verena. »Denke doch nach, Arnold, du fliegst umher in der Luft. Ich bin ein im Erdreich verfallenes Etwas. Meine Wurzeln sind abgestorben, während du noch in blühenden Geschlechtern stehst. Und hauptsächlich wenn man so in der Tiefe lebt, ist alles dunkel oder, wie du sagst, schwermütig. Nicht Einzelschwermut, weil es mir vielleicht schlecht ergangen ist, und es ist mir herzhaft schlecht ergangen, oder weil ich zu wenig Zeit zum Spazierengehen habe, sondern die Schwermut unseres ganzen Lebens, unseres Siechtums, unserer falschen Kultur. Ich bin kraftlos, und durch Kraftlosigkeit bin ich die deine geworden. Deshalb hab' ich gefragt, wohin es gehen soll, denn du müßtest mich auf deinem Weg nicht nur schleppen, sondern sogar heruntersteigen, um mich zu schleppen. Also lebe und rette dich!«

Sie stand vor ihm und sah ihn an. Sein ganzes Innere wurde bewegt und umfaßt von diesem zauberhaften Blick ehrlicher Bedrängnis. Aber er zweifelte, ob er derjenige war, den sie in ihm erblickte, und dies machte ihn zu feig, ihr zu widersprechen, statt dessen nahm er sie in die Arme und küßte sie. Dann gingen sie zusammen fort.

Jetzt waren sie meist in Verenas stiller Wohnung. Tetzner hatte nach und nach aufgehört, ihre Gesellschaft zu suchen. Einmal trat er ein, die Hände in den Manteltaschen, scheinbar gut gelaunt. Aber bald wurde es klar, daß seine Aufgeräumtheit nur eine Larve war. Er legte die Hand vor den Kopf, als fürchte er, seine Stirn könne zusammenbrechen. Seine wulstigen Lippen lagen wie zwei Fäuste aufeinander, und mit dem runden fahlen Bart und dem blinden Ausdruck der Augen sah er aus wie ein Bildnis des alten Homer. Ohne zu sprechen, entfernte er sich wieder, seine aufputschenden Schritte fast furchtsam dämpfend. Verdunkelung des Gemüts kam über ihn.

Vier Tage danach, es war am Abend, zur Haussperrstunde, trieb es ihn wieder zu Verena hinauf. Der Portier, der ihm das Tor öffnete, sagte mit böswillig-wissendem Lächeln, der junge Herr sei oben bei dem Fräulein. Während Tetzner die Stiegen emporkeuchte, hatte er Mühe, nicht aufzuheulen.

Er klopfte an der Türe in der Weise, wie er es mit Verena seit je verabredet hatte, aber alles blieb still. Traurig lehnte er sich im Finstern an die Mauer. Er wagte es nicht, noch einmal zu klopfen. Er wollte auch nicht fortgehen, um dem Hausmeister nicht wieder Anlaß zu bösem Grinsen zu geben. Aber er hörte nun trippelnde Schritte in dem Flur drinnen; er glaubte sogar einen hauchenden Atem zu vernehmen. Es schien, als ob eine schuldige Person an die Tür schliche. Dieses Bild auf Verena angewandt, erschien ihm plötzlich so toll und widerwärtig, daß er laut auflachte. »Tetzner, sind Sie es?« ertönte die Stimme Verenas hinter der Türe. »Ich«, erwiderte Tetzner, und es wurde geöffnet.

Es war warm und hell im Zimmer. Vor der Lampe lag ein aufgeschlagenes Buch. Tetzner schob die blaue Brille auf die Stirn und blickte Arnold zuerst wie einen fremdartigen Gegenstand zerstreut an, dann zogen sich die Muskeln des Gesichts zu einem nachtwandlerischen Lächeln auseinander. Etwas Angstvolles, Zärtliches und Geistreiches tauchte in seinem Gesicht auf, als er sagte: »Wollen wir nicht fröhlich sein, Tee trinken, über die Zukunft plaudern? Na, Verena –? Wie –?« Mit geschlossenen Augen lächelte er und hing seinen Mantel an die Wand.

Verena blickte nachdenklich gegen das Fenster. Arnold war unruhig und unwillig. Er begehrte mit Verena allein zu sein und hatte große Mühe, nicht merken zu lassen, wie verdrießlich ihm Tetzners Anwesenheit war, der nun in dem großen Sessel Platz nahm, die Beine ausstreckte und beide Hände auf den Kopf legte. »Sind Sie müde, Tetzner?« fragte Verena verlegen und mitleidig.

»Ja, mein Seelchen«, antwortete er. »Nicht Fußmüdigkeit, sondern Herz-, Herzmüdigkeit.«

Arnold brütete in sich hinein. Ohne Sympathie, ohne Milde der Wahrnehmung, wünschte er nichts anderes, als daß Tetzner fortgehe, und da er sich nicht verstellen konnte, merkte Verena, was ihn bedrückte, und auch sie begann dasselbe zu wünschen. Sie sah, daß Tetzner litt, sie fragte ihn, und er gab Auskunft, ein wenig verstört durch die hämmernden Schmerzen im Kopf. Verena erschrak und sie bemühte sich um den Freund, legte ihm ein nasses Tuch über die Schläfen, zählte die Pulsschläge und blickte grübelnd zu Arnold hinüber, der keine Teilnahme zeigte, der unerregt und unberührt nur seiner egoistischen Selbstsucht nachhing. Eine bittere Betrübtheit umfing Verenas Herz. Wach' auf, Arnold! hätte sie rufen mögen. Verschließ dich nicht, vergiß dich nicht! Umfange die Welt! Sie kam sich selbst auf einmal sündhaft vor, denn das wollte sie nicht: von einer Seele Besitz ergreifen, die sich in ungenügender Begierde selbst zerstört.

Als sie so neben Tetzner stand, besorgt und versonnen, konnte sich Arnold nicht länger bezähmen. Er stand auf, ergriff Verena bei den Schultern und küßte die sich ehrlich Sträubende ungestüm und lachend auf die Wange. Das hatte Verena nicht erwartet.


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