Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Neunundvierzigstes Kapitel

Kaum hatte Natalie Osterburg von der Veranstaltung des großen Blumenfestes gehört, als sie, von einer schwindelnden Aufregung ergriffen, alles Denkbare unternahm, um eine Rolle dabei spielen zu dürfen. Es gelang ihr, der Fürstin-Protektorin vorgestellt zu werden, ein paar leutselige Worte zu erwischen, und beglückt eilte sie nach Hause. Sie sollte zusammen mit zwei adligen Damen ein Verkaufszelt für Zuckerwaren erhalten.

Noch die Tür in der Hand, rief sie atemlos: »Petra, denk' dir –!« Und sie erzählte. Aber Petra zeigte sich nicht besonders gerührt von den Erfolgen der Schwester. Sie hielt Natalie vor, daß es unrecht sei, bei der täglich schlimmer werdenden Krankheit der Mutter an Vergnügungen zu denken. Petra hatte Pflichtgefühl.

Natalie hatte kein Pflichtgefühl. Sie war von allen Wärmegraden abhängig, die die Luft der Gesellschaft erzeugt. Ihre Ehe, ihre Kinder, ihr Haushalt, alles war für sie eine niedliche, bald unterhaltende, bald langweilige Spielerei.

Ihre Sinne waren jetzt nur auf das Blumenfest gerichtet. Für nichts anderes hatte sie Teilnahme. Sie war nur besorgt, ob das Wetter schön bleiben werde, und jeden, bis zum Bäckerjungen und zur Milchfrau, ersuchte sie um ausführliche Meinung darüber. Sie bezog das ganze Weltall auf das Gelingen ihrer Wünsche.

So rückte der Tag heran. Die Schneiderin kam um elf Uhr morgens, und sofort begann Natalie sich anzukleiden. Es war ein Empirekleid aus blauer Seide, kunstvoll mit Veilchen bestickt. Es floß wie Paradieseshauch um die zarten Glieder Natalies. Um zwölf Uhr kam die Friseurin. Sorgsam zusammengesteckte Veilchen wurden in das dunkle Haar verwoben. Um den Hals legte sie eine goldene Kette, an der über der Brust ein rundes Medaillon mit einem schönen Edelstein befestigt war. Dann die langen Handschuhe, deren Zuknöpfen eine Viertelstunde dauerte, und so, blauseidene Schuhe und blauseidene Strümpfe an den Füßen, trat Natalie in das Krankenzimmer der Mutter, wo ihr Mann und Petra mit Kartenspielen beschäftigt waren.

Frau König lag im Bette und trank Sauerstoff aus einem großen Ballon, welchen die Wärterin hielt. Sie ließ beim Eintritt Natalies das Saugrohr sinken, und ihr Gesicht wurde durch ein zärtliches Lächeln nicht verschönt, sondern entstellt. »Natalie, mein Kind, du gehst zum Vergnügen. Recht hast du«, sagte sie, und ihre Stimme glich einem rauhen Krächzen. »Auch ich war vergnügt in deinem Alter. Und du, Petra, mein Kind, wirst zu Hause bleiben bei deiner armen Mutter? Recht so. Sie ist ein philosophisches Kind, meine Petra. Sie war immer überlegt und taktvoll.«

»Sprich nicht soviel, Mama«, sagte Petra stirnrunzelnd.

Natalie stand beschämt und ärgerlich da wie ein Sänger, der bemerkt, daß er vor tauben Ohren singt. »Glaubst du, daß das Kleid zu tief ausgeschnitten ist?« fragte sie ihren Mann.

»Meine liebe Natalie,« erwiderte Osterburg rauflustig, »ich habe andere Sorgen, das kannst du mir glauben. Ich weiß nicht, ob irgendein Mensch in der Welt je solche Schmerzen gelitten hat wie ich –« Er rieb sein Knie. »Du bist eine leichtsinnige Frau,« fuhr er wütend fort, »ich traue mich nicht eine Zigarre zu kaufen und du –« Alle starrten ihn entsetzt an. Er schwieg zerknirscht, beobachtete einen Augenblick die Wärterin und begann plötzlich französisch zu reden, wobei jedoch das Wort alors die Hauptrolle spielte; mehr war kaum zu verstehen.

Frau König verfolgte mit stillem Haß dies Gespräch. Sie glaubte weder an ihre Krankheit noch glaubte sie, daß sie je würde sterben müssen. Daß sie so liegen mußte und Sauerstoff atmen, schrieb sie einem Zusammenwirken boshafter Umstände zu, und sie haßte die eigenen Kinder, wenn sie ihr allzu deutlich zeigten, was es heißt, mitzuleben. Es gab nur einen Menschen, dem sie Vertrauen entgegenbrachte, das war der Arzt. Wenn sie sich in seiner Gunst festsetzte, so glaubte sie den Tod machtlos. Krampfhaft klammerte sie sich an das Leben, wie sie es verstand: daß man in der Frühe gemütlich Kaffee trank, dann die Klatschereien hörte, mit Behagen beim Mittagstisch saß, nachmittags in die Geschäfte oder in den Prater fuhr, abends wohlgelaunt im Kreis der Familie sich unterhielt, um dann zehn Stunden fest und tief zu schlafen, zwei Gläser mit Wasser auf dem Nachttisch. So hätte sie es gern ein paar tausend Jahre lang getrieben.

Mit klopfendem Herzen setzte sich Natalie in den Wagen und gelangte noch zu früher Stunde in den festlich geschmückten Park des Belvedere-Schlosses. Befangen blickte sie umher. Sie sah nicht den blauen Himmel, nicht das grüne Laub, nicht die Blumenkränze, die sich von Baum zu Baum spannten, nicht die Wasserkünste, die langen Reihen der Verkaufszelte, die neugierigen Menschen; ihr war alles ein unbefriedigender Spiegel für ihre eigene geschmückte Person, und sie lächelte, lächelte wie im Schlaf, wußte kaum, daß sie ging, wo sie stand, was sie sprach und was zu ihr gesprochen wurde. Ihr kleines Herz war leicht und lustig, und nicht mehr sah daraus das gefesselte Seelchen wie durch Gitterfenster in die Welt. So hätte es auch Natalie gern tausend Jahre lang gehabt.

Sie trank braunen, eisgekühlten, süßen Kaffee und aß weißschaumige Torte, beantwortete mit demselben inhaltlosen, seligen Lächeln die Fragen eines jungen Adeligen, der wie ein Backfisch aussah und eigentlich auch nichts anderes war. Sie verkaufte eine Nichtigkeit und erhielt eine Banknote dafür. Anna Borromeo kam, um Natalie zu begrüßen. Sie hatte eine Glückslotterie zusammen mit zwei Hofschauspielerinnen. Sie trug ein Kleid, weiß wie Jasmin, mit schweren, griechischen Falten, über den Hüften durch einen kostbaren, mit fünf Smaragden besteckten Gürtel zusammengehalten. Das rotgoldene, kronengleiche Haar gab der Gestalt etwas Königliches, das durch das bleiche Gesicht und den bleichen, unter bläulichen Blutgefäßen vibrierenden Hals verstärkt wurde.

»Wo ist Herr Ansorge?« fragte Natalie, und ihr neugieriges Kindergesicht drehte sich mit einem Ausdruck der Verzagtheit und des Neides der schöneren Frau zu. Anna Borromeo deutete auf einen Seitenweg, wo Arnold im Gespräch mit den Valescotts stand. Er verbeugte sich aus der Ferne vor Natalie. Gequält musterte Natalie die beiden Valescottschen Damen, deren einfache Kleidung sie mit Besorgnis erfüllte. Arnold kam herüber und sagte: »Sie sind schön, Frau Natalie«, und diese Worte genügten, sie zur Zufriedenheit und Menschenliebe zu stimmen. Sie versuchte auch nicht, etwas dagegen einzuwenden, sondern wurde rot bis zu den Schultern herab.

Bald war ihr rosenbekränztes Verkaufszelt dicht umdrängt. Gräfinnen, Fürstinnen kamen, mit Natalie ein freundliches Wort, einen Gruß zu tauschen, ein Erzherzog blieb stehen und ließ sich die anmutige Dame vorstellen, junge Kavaliere näherten sich dienstbeflissen. Sie sprühte von Geist; die Triumphe betäubten ihr Herz. Sie kam sich vor wie eine fremde Prinzessin, die, lange verkannt, endlich die ihr gebührenden Ehren empfängt.

Drei Musikkapellen spielten, auf drei Plätze des Gartens verteilt. Sich auf den Zehen wiegend, lauschte Natalie entzückt einem Walzer, als sie unter dem Menschenstrom, der sich heranwälzte, ihren Mann bemerkte, dessen Augen hastig unter den Zeltdächern umherblickten. Dieser düstere, unheilvolle Blick ihres Gatten berührte wie ein eisiger Anhauch Natalies Stirn und Wangen. Sie hatte vollständig vergessen, daß sie mit diesem Menschen verheiratet war, und ihn gerade jetzt zu sehen war ihr wie ein Peitschenschlag.

Als Osterburg sie gewahrt und sich zu ihr durchgedrängt hatte, sagte er: »Natalie, komm nach Hause, deine Mutter ...«

Natalie seufzte leise und schwer. Ihr war, als würde sie plötzlich blind vor Schrecken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie rührte sich nicht von der Stelle.

»Du mußt kommen«, drängte Osterburg, während er zu gleicher Zeit neugierig und begehrlich um sich blickte. »Die Mutter hat einen furchtbaren Anfall ...«

»Es ist sicher nicht ärger als sonst«, erwiderte Natalie vorwurfsvoll. »Nur noch bis der Kaiser kommt, laß mich hier.«

Osterburg hätte sehr gern eingewilligt, denn er fing an, mit dem festlichen Treiben sich zu befreunden, und zu vergessen, was ihn hergeführt. Aber Natalies erwachtes Gewissen rief. Mit zitternden Händen warf sie ihren Umhang um die Schultern. In ihrem verwirrten Herzen zürnte sie der Mutter.

Eifrig begegnete ihnen Arnold auf einem der Wiesenwege, die schneller zum Ausgang führten. »Wohin? Wohin?« rief er.

Natalie schluchzte wie ein Kind.

Arnold schaute Natalie bestürzt nach. Dann bahnte er sich durch die immer dichter werdende Volksmenge einen Weg zum Zelt der Valescottschen Damen, welche Lose feilboten, und zwar kam auf alle Lose nur ein einziger Treffer, eine goldene Chrysantheme.

»Was zahlt man für ein Los?« fragte Arnold, vor das Zelt tretend.

»Das steht bei Ihnen«, erwiderte Dora.

Er warf fünf Gulden auf das Brett und zog lachend. Es war nichts. Zum zweiten- und drittenmal, ohne Erfolg. Er entnahm einen Hundertguldenschein der Brieftasche und wählte dafür zwanzig Lose. Von allen Seiten kamen Neugierige und stellten sich hastig drängend in engem Halbkreis auf. Hinter den Zelten wurden die Damen des Festes und mehrere Herren sichtbar. Anna Borromeo verlor keine Bewegung Arnolds aus den Augen. »Ich habe kein Geld mehr«, sagte Arnold und blickte sich um. »Aber Kredit, soviel Sie wollen!« rief Dora. Er nahm lachend zwei Hände voll Lose und schrieb einen Schuldzettel über fünfhundert Gulden. »Bravo, Narziß!« rief Valescott, der ebenfalls zwischen die Zelte getreten war; die Damen klatschten in die Hände, und einige waren ihm behilflich, die Röllchen zu öffnen. Die Leute drängten sich näher. Arnold griff nach beiden noch gefüllten Schalen, schwenkte sie in den Armen und warf den leicht fliegenden Inhalt über die Köpfe der Leute hinweg. Unzählige Hände streckten sich aus, und in beängstigender Kreiselbewegung drehte sich die ganze Masse um sich selbst. Mitten in das tolle Wesen erschallte der Ruf: »Der Kaiser! Der Kaiser!«

Die Musikkapellen traten zusammen und spielten die Hymne, Soldaten schoben die Menge auseinander, und es bildete sich eine Gasse, durch die von fern der Kaiser herangeschritten kam. Ein Schauer fuhr Arnold durch den Körper. Wie in einem früheren Dasein sah er sich selbst, mit törichten Erwartungen auf die damals so ferne Gestalt des Monarchen blickend. Nun stand der Fürst kaum fünf Schritte weit, nickte lächelnd und ging vorüber, durch das schweigende Volk.

Es wurde Abend. Auf der Balustrade am oberen Ende des Gartens war Feuerwerk.

Die Buden wurden geschlossen, und die vornehme Welt versammelte sich im Schloß, um die Tänze und lebenden Bilder zu sehen. Arnold stand unter den Bäumen und blickte still in den Lichterglanz des Gartens.

Hier war es dunkel, und er wollte ein wenig zu sich selbst kommen. Aus der Ferne kam das alberne Klappern der Musik und das Geschrei der Menschen, des »Volkes«, wie Baronin Valescott bedeutsam sagte. Arnold zuckte zusammen. Zwei Arme hatten ihn von rückwärts umfaßt, und eine Stimme flüsterte: »Schon lange, schon lange lieb' ich dich.«

Als er sich umwandte, ließen ihn die Arme los, ein weißes Kleid rauschte durch das Laub, die Gestalt wandte sich noch einmal um, und an einem goldenen Gürtel blitzten Smaragde im Schein einiger verirrter Lichtstrahlen.

Arnold senkte den Kopf und blieb gedankenlos lächelnd stehen. Wohl ahnte er, wer ihn umfangen hatte, doch er erstickte das Nachdenken. Denn sonst hätte er niederstürzen müssen ins Gras, um Gott zu bitten, daß er ihn flüchten lasse oder die Seele in einen stärkeren Körper presse. Er hob seine Augen eine Sekunde lang demütig zum Himmel.


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