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Das Leben in Ginnet-Street konnte manchmal ganz amüsant sein, so dachte wenigstens Luke Maddison.
Es war der dritte Tag, seitdem er dort wohnte, und sein neues Leben mißfiel ihm nicht allzusehr. Als er sich vom Hospital aus auf den Weg machte, hatte er sich doch viel schwächer gefunden, als er geglaubt hatte. Er war froh über die Ruhe, froh, daß er im Augenblick frei von äußeren Sorgen war, froh, keinem Menschen Rechenschaft über das merkwürdige Leben, in das er geraten war, ablegen zu müssen.
Mrs. Fraser störte ihn wenig. Sie brachte ihm eine überraschend interessante Sammlung aller möglichen Bücher, setzte ihm einfache, aber nahrhafte Mahlzeiten vor und hatte ihm nur geraten, lieber nachts auszugehen, falls er das überhaupt wollte. Die aufmerksame Bedienung, die sie ihm zuteil werden ließ, überraschte ihn immer wieder von neuem, obwohl er sich darüber klar war, daß sie nur im Auftrage seines unbekannten Gönners handelte.
Ein Teil des Rätsels wurde am dritten Tage gelöst, als sie verschiedenes über Australien, wo er niemals gewesen war, wissen wollte. Er sagte ihr dies, und sie lächelte verschmitzt.
»Wenn Lewing nur halb soviel Verstand wie Sie gehabt und seinen Mund gehalten hätte, würde er heute vielleicht noch vergnügt und munter herumlaufen, und niemand wüßte etwas von Ihnen. Aber er war ein unglaublicher Aufschneider, rühmte sich immer damit, was seine Bande gegen die unsere fertig bekommen würde, obgleich er sehr gut gewußt haben muß, daß wir das meiste Geld hatten.«
Nach und nach wurde ihm die Sache klar. Lewing hatte sich mit einem Mann gebrüstet, der von Australien herüberkommen sollte, um mit seiner »Bande« zu arbeiten. Luke fand heraus, daß dieser Mann in seinen »Kreisen« dort drüben großes Ansehen genoß, daß er aber nie bestraft worden war.
»Als Connor hörte, Sie würden herüberkommen, hat er sofort gesagt: ›Das ist der richtige Mann für uns – den müssen wir haben.‹ Seiner Meinung nach war die Affäre mit der Sidney Bank das geschickteste Ding, das jemals geschoben wurde . . .«
Luke begann allmählich seine neue Identität herauszufinden und erhielt auch hier und da kleine unfreiwillige Auskünfte, die ihn die Sachlage erkennen ließen. Wenn Lewing auch nicht das Haupt oder der Anführer der Borough-Bande gewesen war, so doch immerhin für diese eine Person von beträchtlicher Wichtigkeit. Er war es, der die Verhandlungen mit dem Australier angeknüpft und ihn augenscheinlich durch Korrespondenz für seine Bande angeworben hatte. Luke erfuhr außerdem, daß die ständige Fehde zwischen den Banden in Süd-London seine eigenen Gründe hatte. Die Borough-Bande bestand in der Hauptsache aus Flußdieben, und verschiedene von ihnen waren durch die Ladungen, die sie beraubt hatten, reiche Leute geworden.
»Wir wollen erst mal das eine klarstellen, Mrs. Fraser. Man nimmt an, daß ich ein australischer Verbrecher bin – mit ›man‹ meine ich natürlich Ihre Prinzipale.«
»Meine: was?« fragte Mrs. Fraser verständnislos.
Luke erklärte.
»Nun, sehen Sie, ich bin nicht der Mann, den Sie erwartet haben«, begann er nachdrücklich. »Daß ich gerade in jener Nacht, als Lewing getötet wurde, mit ihm zusammen war, bedeutet gar nichts – es war der reinste Zufall. Ich kann sicherlich ein Auto führen, befürchte aber, daß ich Ihren Freunden, die mit den Gesetzen wohl nicht auf dem besten Fuß leben, kaum von großem Nutzen sein kann.«
Bei diesen Worten lächelte sie verständnisvoll.
»Was mir bei Ihnen so gut gefällt, Mr. Smith«, sagte sie, »ist, daß Sie so zurückhaltend sein können.«
Spät in der Nacht sah er dann den gefürchteten Connor. Als dieser ihm die Hand reichte und ihn begrüßte, schauderte er, denn die gleiche tiefe Stimme hatte er in der Nacht gehört, als Lewing seinen Tod fand.
»Für die nächsten zwei oder drei Tage brauche ich Sie noch nicht, Smith«, sagte Connor rauh. »Alles hier in Ordnung mit Ihnen? Gut so!«
Sein Ton war befehlend, und bevor Luke erklären konnte, wer er eigentlich war, oder vielmehr, wer er nicht war, war der Mann verschwunden. Ein oder zwei Tage später hatte er eine weitere Überraschung. Er saß lesend an seinem Tisch, als sich die Tür öffnete und ein hübsches, blondes Mädel hereinkam, die ihn mit einer Art von belustigtem Interesse betrachtete.
»Connor hat mich zu Ihnen geschickt. Sind Ihre neuen Sachen schon gekommen?«
Luke schüttelte den Kopf und sagte lächelnd:
»Nein. Werde ich neu ausgestattet?«
Sie betrachtete ihn prüfend.
»Sie haben einen Friseur außerordentlich nötig, und ich will heute abend noch einen zu Ihnen schicken. Ihr Bart muß gestutzt werden. Wäre es Ihnen unangenehm, morgen mal mit mir eine kleine Spazierfahrt zu machen?«
Er lachte.
»Ich könnte mir noch viel unangenehmere Dinge denken als das«, sagte er und wunderte sich, wer sie war, oder warum sie eigentlich gekommen war.
Sie war gut, aber nicht auffällig gekleidet, um, wie er vermutete, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen.
»Das ist ein richtiges Loch, in dem Sie hier hausen!« sagte sie und blickte verächtlich auf die Straße hinaus. »Das muß ja entsetzlich für Sie sein. Ich kann nicht begreifen, wie die Leute hier überhaupt existieren können.«
Er antwortete nichts. In diesen Tagen war ihm das Leben der »Kinder der Armen« bekannt geworden; in den frühen Morgenstunden hatte er beobachtet, wie sich die Haustüren öffneten, wie die Arbeiter herausströmten; hatte gesehen, wie die abgearbeiteten Frauen zu kämpfen hatten, um für einen halben Schilling den Wert eines ganzen zu erringen. Um halb neun Uhr machten sich die Töchter, nett angezogen, in fleischfarbenen Strümpfen und billig eleganten Mänteln auf den Weg nach der City, um in harter Tagesarbeit das schmale Einkommen der Familie zu erhöhen. Die Kinder der Armen! Die Opfer von tausend Raubvögeln, ständig auf der Lauer! Denn die Armen werden beraubt, wie die Reichen nie beraubt werden. Es gibt ein Dutzend Banden kleiner, verkommener Diebe, die die Taschen der Armen in den Omnibussen leeren, sich, wenn niemand anwesend, in die Häuser schleichen, um einige der armseligen Besitztümer, die nur wenige Pence wert sind, davonzutragen. Eines Nachts hatte er beobachtet, wie drei junge Strolche einen älteren Arbeiter angriffen, ihn zu Boden schlugen und seine Taschen leerten. Man hatte ihm von zungenfertigen Leuten gesprochen, die den Frauen erzählten, sie wären von ihrem Mann geschickt worden, um vergessene Werkzeuge zu holen; und einmal hatte er zu seiner großen Freude einen Motorwagen in die Straße einfahren sehen, dem ein halbes Dutzend Detektive entstiegen, um einen berüchtigten Zuhälter zu verhaften.
Die Polizei beschützte die Kinder der Armen . . . – soweit sie es vermochte.
Er hatte gesehen, wie ein Rohling, der sein Weib halbtot geprügelt hatte, bewußtlos auf dem Bürgersteig lag, nachdem er eine kurze, aber eindringliche Unterhaltung mit dem Gummiknüppel eines Schutzmanns gehabt hatte. Aber in der Regel entwischten diese menschlichen Parasiten, die von den Ärmsten der Armen lebten, ungestört.
Das junge Mädchen wandte sich ihm zu.
»Wir wollen uns morgen am Guards Memorial im Green Park treffen. Ich werde im Auto kommen und Sie mitnehmen.«
Sie betrachtete ihn von oben bis unten, und unverhehlte Bewunderung lag in ihrem Blick.
»Sie haben eine nette Stimme«, sagte sie, »und würden überall als Kavalier durchgehen.«
Am Abend trafen die Sachen ein; sie paßten ihm wie angegossen, und als schließlich der Friseur seine Arbeit beendigt und Luke sich umgezogen hatte, war er beinahe auch mit dem ungewohnten Vollbart einverstanden.
Das Interesse an seinem neuen merkwürdigen Leben machte es ihm verhältnismäßig leicht, zu vergessen. Der Wunsch nach Abenteuern, nach neuen Erlebnissen hatte ihn gepackt. Margaret gehörte einer fernen traumhaften Vergangenheit an. Lebhaft ging er am nächsten Tage dem vereinbarten Platze zu und war erfreut, wie elastisch sein Tritt trotz des langen Krankenlagers war. Kaum hatte er den Platz am Denkmal erreicht, als er sah, wie sich ein Auto näherte, und auf ein Zeichen der Insassin trat er an den Rand des Bürgersteigs, als der Wagen anhielt.
Sie war in ausgezeichneter Laune.
»Eine feine Idee, sich in einer bestimmten Art Wagen sehen zu lassen«, sagte sie. »Sie begreifen natürlich nicht, was ich meine? Kann ich mir denken!«
Sie fuhren in den Hydepark hinein und langsam an der Seite des Fußgängersteiges entlang. Seine Begleiterin war sehr hübsch, obwohl etwas älter, als er anfänglich gedacht hatte, und Luke empfand diese neue Abwechselung nach seiner langen erzwungenen Ruhe angenehm.
»Sehen Sie den alten, fetten Menschen da drüben? Das ist der Spatz. Dem müssen Sie im weiten Bogen aus dem Wege gehen.«
Als er diesen Namen hörte, fuhr er zusammen.
»Sie meinen Bird?« stotterte er und blickte verstohlen in die angegebene Richtung.
Er sah Mr. Bird in Gesellschaft eines hübschen jungen Mädchens, aber die Dame, die sich im gleichen Augenblick hinter den beiden auf eine Bank des Parkes setzte, erkannte er nicht.
Als der Wagen drehte und auf der anderen Seite der Straße zurückfuhr, sagte sie plötzlich:
»Ein anderer Wagen wartet in der Nähe der Kavalleriekaserne auf uns. Hoffentlich können Sie wirklich gut fahren?«
»Ein anderer Wagen?« fragte er erstaunt.
Sie nickte.
»Ich will mal sehen, was Sie können.«
»Das ist alles sehr unklar für mich«, antwortete er lachend.
Der Wagen wartete auf sie, ein geschlossenes, leichtes Auto. Niemand war dabei, aber ohne Zögern ließ sie ihr Coupé halten, stieg heraus und verabschiedete den Chauffeur.
»Hier ist er. Steigen Sie ein.«
Luke nahm den Platz hinter dem Steuer ein, drückte auf den Selbststarter, und sie setzte sich schnell an seine Seite.
»Crafton Street«, in geschäftsmäßigem Ton. »Halten Sie gegenüber vom Rean-Club.«
Er nahm an, sie wollte seine Geschicklichkeit prüfen, denn er hatte drei überfüllte Straßen zu passieren, bevor er den Wagen an dem angegebenen Platze zum Halten brachte.
»Jetzt passen Sie auf«, sagte sie hastig mit unterdrückter Stimme. »Ich will meinen Mann aufsuchen.«
Sie blickte ihm gerade in die Augen.
»Sollte er Krach machen, erwarte ich, daß Sie mir helfen, geht alles gut, dann fahren wir ruhig fort, die Albemare-Street hinunter und über die Vauxhall-Brücke nach Tooting-Common.
»Ihren Mann?« stotterte er. Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Das haben Sie dem Greifer zu sagen, wenn die Sache schief geht.«
Sie erklärte ihm nicht, was ein Greifer war, und war verschwunden, bevor er fragen konnte. Er ließ den Motor, wie ihm aufgetragen war, laufen, und es vergingen einige zwanzig Minuten, bis er sie gleichmütig um die Ecke der Bond-Street auf sich zukommen sah. Als sie in den Wagen stieg, kam ein Mann in Hemdsärmeln hastig angelaufen, stürzte auf sie zu und griff sie beim Arm. Sie versuchte sich freizumachen, und bevor Luke sich selbst klar wurde, was er eigentlich tat, hatte er dem Mann einen Faustschlag versetzt, der ihn auf den Bürgersteig warf.
»Fort!« zischte sie ihn an, und ganz mechanisch ließ Luke Maddison die Maschine davonschießen.
Sie kreuzten die Oxfort-Street, fuhren durch den Park und hatten schon die Vauxhall-Brücke passiert, bevor ihm langsam klar wurde, was eigentlich vorgefallen war.
»Warum hat der Kerl Sie angegriffen?«
»Mein Mann – ich hatte einen heftigen Streit mit ihm«, antwortete sie ruhig. Und dann mit leiser Stimme: »Ich wußte es, Connor hatte unrecht«, und pfiff leise durch die Zähne. »Wenn ich nicht Grips genug gehabt hätte und auf die Geschichte mit meinem Mann gekommen wäre, würde ich jetzt schon auf dem Wege nach HollowayHolloway: Das Frauengefängnis in London. sein!«
Er sah, wie sie verstohlen auf jeden Schutzmann blickte, an dem sie vorbeikamen, und sein Herz klopfte unruhig, als sie endlich nach Tooting-Common kamen, und er auf ihre Anweisung den Wagen anhielt.
»Wir wollen hier aussteigen«, sagte sie. »Sie fahren mit dem Autobus zurück, und ich nehme ein Taxi. Wenn Connor heute abend kommt, sagen sie ihm, daß ich es habe.«
Sie wandte sich ab, um zu gehen, aber er hielt sie zurück.
»Was haben Sie?« fragte er ernst.
Und dann bemerkte er das flache Kästchen, das sie unter ihrer Lederjacke trug.
»Mein Gott!« fuhr Luke entsetzt auf. »Sie haben das gestohlen!«
Ihre Augen blickten ihn belustigt an, als sie nickte. »Aber natürlich, Sie armer Einfaltspinsel!« Sie rief ein vorbeifahrendes Taxi an, und er ließ sie ohne weitere Worte gehen. Wie im Traum sah er hinter dem Wagen her, zu betäubt, um auch nur denken zu können. Niemals konnte er sich an die Fahrt nach Lambeth erinnern. Als er nach Stunden über die Westminster Brücke kam, sah er einen Zeitungsverkäufer mit einem Plakat:
»Verwegener Raubanfall im Westend.«
Er stand wie versteinert und starrte offenen Mundes das Plakat an, dann suchte er in seiner Tasche und gab mit zitternder Hand dem Zeitungsverkäufer einen Penny . . .
Er wagte es nicht, in die Zeitung zu blicken, bevor er nicht in einer ruhigen Straße war.
Verwegener Raubanfall im Westend
Ein bärtiger Mann und eine hübsche Frau berauben Taffanny um ein Diamantenhalsband im Werte von zwanzigtausend Pfund.
Ein verwegener Raub wurde heute nachmittag in dem Geschäftslokal der bekannten Firma Taffanny in der Bond-Street ausgeführt. Ungefähr gegen 3 Uhr 50 betrat eine gutgekleidete Frau den Laden und wünschte einfache goldene Ringe zu sehen. Während der Verkäufer ihr den Rücken zudrehte, muß sie eine Glasvitrine mit einem Hammer mit Gummikopf zertrümmert haben. Er hatte keinerlei Geräusch gehört, das jedenfalls durch den Straßenlärm erstickt wurde. Als er sich ihr zuwandte, waren nicht nur die Frau, sondern auch ein wertvolles Diamantenhalsband verschwunden. Er eilte hinterher und packte die Frau beim Arm, als sie gerade in ein Auto steigen wollte. Im gleichen Augenblick wurde er durch einen Faustschlag ihres Begleiters zu Boden geworfen, der als ein großer Mann mit hellem gepflegtem Vollbart beschrieben wird, gekleidet in grauen Straßenanzug und . . .
»Das bin ich!« stöhnte Maddison und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.