Edgar Wallace
Ein gerissener Kerl
Edgar Wallace

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24

Nachdem Tony Ursula nach Hause gebracht hatte, kehrte er ziemlich beunruhigt heim. Elk hatte ihn nach Hampstead begleitet und ihn gebeten, ihn unterwegs abzusetzen.

»Etwas Seltsames, Mr. Elk«, sagte Tony, »ich habe bisher noch nicht darüber gesprochen, daß man mich seit einigen Tagen verfolgt. Einmal ging ich zurück und versuchte, den Mann zu erwischen. Hätte ich ihn gefaßt, dann wäre ihm der Mut wohl vergangen!«

»In welchem Fall Sie eingelocht worden wären«, bemerkte Elk kühl. »Nicht einmal Millionäre dürfen Mitglieder des CID verprügeln.«

»Was sagen Sie da?« fragte Tony überrascht und traute seinen Ohren nicht.

»Einer meiner Leute, der Sie überwacht, Mr. Braid. Jetzt kann ich's Ihnen ja sagen. Ich hatte Angst, Sie könnten eines schönen Tages Selbstmord begehen, und da Sie ein so netter Mensch sind, wollte ich das Risiko nicht tragen.«

»Wollen Sie im Ernst sagen, daß ich überwacht worden bin von einem –?«

»Detektiv«, ergänzte Elk. »Und, bitte, tun Sie in Zukunft, als ob Sie's nicht merkten. Er kam hinter uns, als wir von Kirro herauskamen. Das war der Mann, der die Straße hinunterjagte und einen Wagen suchte, um den Schützenkönig zu verfolgen. Etwas anderes wollte ich noch fragen, Mr. Braid: wer könnte wissen, daß Sie heute abend nach Woolwich fuhren oder warum Sie dahin fuhren?«

Tony schüttelte verständnislos den Kopf.

»Sie haben es niemandem gesagt – auch mit niemandem telefoniert?«

»Außer mit Lady Frensham . . .«

»Haben Sie es vielleicht zufällig Ihren Bedienten gesagt?«

»Ich habe überhaupt nur einen Diener – meinen Kammerdiener, namens Lein. Er ist keine Leuchte . . . ihn hätte ich sicher nicht ins Vertrauen gezogen, zumal ich ihm gekündigt habe. Er ist mir ein bißchen zu neugierig.«

»Lein?« wiederholte Elk nachdenklich. »Ich erinnere mich an den jungen Mann von meinem Besuch am Abend vor dem Steward-Pokal. Seit wann ist er bei Ihnen?«

»Seit einem Monat«, erwiderte Tony. »Er hatte sehr gute Empfehlungen.«

»Kann jemand bei Ihnen mithören, wenn Sie telefonieren?«

Tony lächelte. »Wenn er vor der Tür steht und angestrengt lauscht, kann er mich wohl hören; aber ich bezweifle sehr, daß er auch Sie hören kann. – Herr Gott, der Nebenanschluß!«

Er erzählte Elk von dem Apparat im Schlafzimmer.

»Wer dort horcht, kann natürlich hören, was ich sage und was Sie antworten. Daran hab' ich nicht gedacht. Aber es scheint mir doch sehr unwahrscheinlich.«

»Nichts ist unwahrscheinlich. Ich komme mit 'rein und nehme mir den Mr. Lein mal vor.«

»Aber der Mann kann doch auch völlig unschuldig sein –«, wandte Tony ein.

»Kein Mensch ist unschuldig«, dozierte Elk. »Ich nicht, Sie nicht. Und ich wette, Lein hat mindestens schon seine achtundzwanzig Vorstrafen weg.«

Als Mr. Elk dem auffallend nervösen jungen Mann gegenüberstand, der auf Tonys Klingeln hereinkam, konnte er in ihm keinen ausgesprochenen Verbrecher erkennen. Sonst hätte er ihn ja auch schon das erstemal schärfer aufs Korn genommen. Er war dem Polizisten auch nicht bekannt. Doch das besagte nichts. Denn wie Elk später erklärte, sind die meisten Verbrecher bei der Polizei nicht bekannt, und die Polizei kennt nur eine geringe Anzahl Pechvögel mit ihren Spitznamen.

»Wo waren Sie früher, mein Sohn?« fragte Elk.

Der Mann zögerte gerade um den Bruchteil einer Sekunde zu lange.

»Bei Lord Ryslip.«

Er nannte einen bekannten Übersee-Gouverneur, der, wie Elk wußte, seit fünf Jahren nicht mehr in England war.

Er stellte eine andere Frage. Der Mann wurde verlegen. Dann wurde er ausfallend und frech.

»Wenn du hier unverschämt wirst«, warnte Elk sanft, »schmeiße ich dich durch das Fenster direkt auf die Spitzen des Eisengitters. Kennst du mich, mein Sohn?«

»Ja, Sie sind Sergeant Elk.«

»Inspektor! Du rückständiger Hering!« brüllte Elk.

Da beging der Mann einen Fehler und platzte heraus: »Die nennen Sie immer Sergeant.«

Elk sah ihn fest an.

»Aha, ein Diebskumpan! Wer hat dich hierhergeschickt? Warum hast du Mr. Braids Gespräch mit mir heute abend belauscht? Mit wem hast du nachher telefoniert? Gestehe sofort, sonst stecke ich dich in den Eisschrank und mache aus dir eine Fürst-Pückler-Bombe!«

Der Mann schimpfte und verließ schließlich kurzerhand das Zimmer.

»Schuldig«, rief Elk, »aber ich weiß nicht, wie man ihn zur Strecke bringt. In den alten Tagen, als wir noch Folterkammern im Tower, dem alten Scotland Yard, hatten, hätten wir allerhand Interessantes aus ihm herausgequetscht, aber heute erlauben sie den ›dritten Grad‹ nicht mehr in England. Vielleicht kann mir die Telefonaufsicht etwas verraten –« Er sprang empor, als er die Haustür zuschlagen hörte. Auf halbem Weg zur Tür blieb er stehen.

»Ich werde impulsiv auf meine alten Tage«, tadelte er sich. »Dabei kann ich den Vogel gar nicht verhaften. Aber ich hab' ein Gefühl, daß ich ihn finden werde, wenn ich ihn brauche. Wenn Sie gestatten, Mr. Braid, werde ich jetzt Ihr Telefon benutzen.«

Er sprach zehn Minuten mit der Aufsicht.

»Also nach Greenwich . . .«

»Nach Greenwich?« fragte Tony, der das Gespräch mit angehört hatte.

»Ja, Guelders Haus. Natürlich weiß das Fräulein nicht, was gesprochen wurde. Ihr feiner junger Mann arbeitet offenbar mit den Reef-Leuten Hand in Hand. Erinnern Sie sich noch, was ich am Telefon sagte? Hab' ich blöderweise den Mantel erwähnt?«

Tony nickte.

»Zu dämlich! Womöglich auch den ehrenwerten Mr. Julian Reef? Sicher! Ich wette, dieser Bursche hat ihn in ganz London gesucht. Er hat vier Gespräche geführt, seit Sie nach Woolwich gefahren sind. Dieses Spioniersystem ist ein alter Trick Reefs – o ja, hat er schon früher angewandt.«

Dann erzählte er Tony eine Menge Geschichten über Julian Reef, daß ihm die Augen übergingen. Es waren keine schönen Geschichten. Eine war sogar sehr häßlich.

»Dieses Detektivspiel ist ein komisches Geschäft«, erklärte Elk. »Wir wissen viel mehr von den Leuten, als sie glauben oder als sie wünschen, daß wir wissen. Es gibt Männer im Westen Londons, die heute nacht plötzlich weiße Haare bekämen, wenn sie ahnten, was Scotland Yard von ihnen weiß. Sie werden vielleicht nie gefaßt werden, weil sie eben nichts tun, wofür man gefaßt wird. Die Hälfte aller Sünden der Welt kann man gesetzmäßig begehen, und ich versichere Ihnen: es ist die schlimmere Hälfte.«

Er ging, und Anthony Braid hatte eine schlaflose Nacht.

 

Um vier Uhr früh stand Tony auf und trat an das Schlafzimmerfenster. Es regnete noch immer. Unten in der bleichen Dämmerung sah er eine kräftige Gestalt im Schatten eines Torwegs stehen. Tony erriet, daß es sein Beschützer war und winkte ihm einen fröhlichen Gruß zu. Der Unbekannte, der genießerisch seine Pfeife rauchte, erwiderte lebhaft.

In seinem Ankleidezimmer stand ein elektrischer Kocher und in einem Schrank alles Erforderliche zum Kaffeekochen. Aus einem unverständlichen Grund wanderten seine Gedanken immer wieder zu Ursula Frensham. Der Mordversuch der vergangenen Nacht hatte sein Gefühl, daß ihr Gefahr drohe, verstärkt.

Er trank den Kaffee und zog sich an. Fünf Minuten später war er auf der Straße. Der diensttuende Detektiv kam auf ihn zu und grüßte ihn.

»Ziemlich früh heute morgen, Mr. Braid.«

»Ich will eine kleine Fahrt nach Hampstead machen. Wollen Sie mich begleiten?«

»Ich muß«, antwortete der andere gutmütig, »und freue mich, daß Mr. Elk Sie aufgeklärt hat. Wenn Sie es mir nicht übelnehmen, möchte ich Ihnen sagen, daß es gerade kein Vergnügen ist, Ihnen nachzujagen. Es ist verdammt schwer, Ihnen auf den Hacken zu bleiben.«

Er begleitete Tony zur Garage, und sie zogen gemeinsam den Zweisitzer heraus.

»Führt Sie ein besonderer Grund nach Hampstead?« forschte der Detektiv, als sie unterwegs waren.

»Durchaus nicht«, antwortete Tony und fühlte sich nicht ganz aufrichtig.

Er kam sich reichlich närrisch vor und wagte nicht, dem Mann neben sich zu verraten, welches ziellose Unternehmen sie verfolgten.

Sie fuhren in den Regent's Park hinein, dessen Tore gerade geöffnet wurden, und zwar den breiten äußeren Weg entlang. Als sie über die Brücke kamen, die den Kanal am Ende der Avenue Road überspannt, sah Tony einen Mann sich über das Eisengeländer lehnen und aufmerksam ins Wasser blicken. Er hätte einen Eid darauf geleistet, daß er die Gestalt kenne. Ein schwerer Regenmantel, dessen Kragen bis zu den Ohren aufgeschlagen war, verwischte die Konturen. Der Mann war gar nicht neugierig auf den Insassen des Wagens, der schon so früh unterwegs war. Im Gegenteil – und das schien Tony verdächtig –, er wandte absichtlich den Kopf ab, damit man sein Gesicht nicht sehen könne.

Auf der anderen Seite der Brücke stand ein Sportwagen mit langgestreckter Karosserie, der so am Straßenrand aufgestellt war, daß Braid, ohne seinen Wagen anzuhalten und auszusteigen, die Autonummer nicht erkennen konnte.

»Der sah aus wie Mr. Guelder«, meinte der Detektiv.

»Schien mir auch so. Kennen Sie ihn?«

»Ich habe ihn schon gesehen. Das war sein Wagen – da am Straßenrand, nicht wahr? Haben Sie gestern abend den Wagen gesehen?«

Tony schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Aber nach der Höhe zu urteilen, aus der der Mann schoß, möchte ich schwören, es war ein Sportmodell, genau wie jener Wagen dort. Doch Guelder kann es unmöglich gewesen sein. Er war in seinem Haus, als der Schuß fiel.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Tony überrascht.

»Auf dem Präsidium schwören wir auf Inspektor Elks Parole. Die lautet: nachforschen«, sagte er trocken. »Und wir hatten nachgeforscht, längst ehe Sie schlafen gegangen waren, Mr. Braid.«

Sie fuhren die Avenue hinauf bis zur Heide und bogen in die Straße ein, in der Ursulas Haus an einer Ecke lag. Tony stieg aus und ging um die beiden Seiten des Hauses herum. Er kannte Ursulas Schlafzimmerfenster. Es war oben geöffnet. Zu seinem Erstaunen sah er Licht brennen, und als er seinen Kontrollgang fortsetzte und zur Vordertür kam, sah er auch die Diele erleuchtet. Es war ein Viertel sechs. Die Mädchen standen doch sicher nicht vor sieben Uhr auf.

Er überlegte, was er tun solle, als er Ursulas helle Stimme rufen hörte. Er wandte sich rasch um und sah sie völlig angekleidet auf sich zukommen.

»Deshalb also haben Sie meinen Anruf nicht beantwortet«, rief sie.

»Wie kommen Sie zu dieser nachtschlafenden Zeit hierher?« fragte er.

Sie lachte.

»Ich wurde um zwei Uhr angerufen, um einen Heiratsantrag entgegenzunehmen«, berichtete sie, »und ich konnte dann natürlich nicht wieder einschlafen. Ich bin darüber auch ganz froh; denn der Herr, der mir telefonisch den Antrag machte, ist seit Tagesanbruch vor meinem Haus auf und ab patrouilliert.«

Braid starrte sie ungläubig an.

»Doch nicht – doch nicht etwa Guelder? Um Gottes willen, das wäre ungeheuerlich!«

Sie nickte.

»Es war Mr. Guelder«, sagte sie. Dann brach ihre Stimme und ihre Beherrschung.

Im nächsten Augenblick lag sie schluchzend in Tonys Armen.

»O Tony«, schluchzte sie, »es war schrecklich – schrecklich!«

 


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