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Ursula Frensham hatte ein kleines Auto, und Lord Frenshams Villa in Hampstead bot ihr willkommene Gelegenheit, das Haus in London nach Belieben zu verlassen. Sie kannte Tonys Gewohnheiten. Er war ein leidenschaftlicher Fußgänger. Wenn er ihren Vater im Büro in der City besuchte, pflegte er seinen Wagen vorauszuschicken und ließ ihn an der Parkecke in der Avenue Road warten. Er hatte die Hälfte der Fitzjohn Avenue zurückgelegt, als Ursula in ihrem Zweisitzer in die Straße einbog und ihn anrief. Er drehte sich mit einem solchen Ruck um, daß sie gewahr wurde, daß sie ihn aus tiefstem Sinnen aufgestört hatte.
»Steigen Sie ein – Sie Kampfhahn«, gebot sie ernst.
»Ich bin zwar allerhand«, erwiderte er und setzte sich an ihre Seite, »aber ein Kampfhahn bin ich nicht. Ist es übrigens nicht ein bißchen komisch, mit einem Zylinder in einem Sportwagen zu thronen?«
»Sie können ja tun, als ob Sie der Hausarzt wären«, entgegnete sie schlagfertig. »Aber wirklich Tony, Sie haben mich sehr gekränkt. Vater ist wütend. Der arme Julian!«
»Ich schäme mich sehr«, gestand er. »Meine alten südafrikanischen Unsitten hängen mir noch schrecklich an.«
»Ja, Sie sind ein Barbar«, zürnte sie. »Was ist denn los, Tony? Womit haben Sie denn alle so erbittert? Ich weiß ganz genau, daß Sie Julian gereizt haben. War es wegen meines Geldes?«
Er blickte sie verdutzt an. »Haben sie Ihnen das gesagt?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich hab's geraten«, sagte sie ruhig. »Ich mache mir auch Sorge, Tony – nicht meinetwegen, aber ich glaube, wenn mit meinem Geld etwas geschähe, das würde wohl Vaters Ende sein. Sie müssen bedenken, der arme, liebe Mann hat sein ganzes Leben lang geschuftet und sich abgerackert. Der Titel hat ihm nichts eingebracht als alte Landhäuser voller Hypotheken und böswilliger Pächter. Tatsächlich versteht Väterchen nichts von Geschäften.«
»Und Julian?« fragte Tony und blickte gerade vor sich hin auf die Straße.
Eine Weile blieb sie die Antwort schuldig.
»In Julian kenne ich mich nicht aus. Und eigentlich müßte man doch den Mann genau kennen, den man heiraten soll.«
Er riß die Augen weit auf.
»Bitte, halten Sie. Mir ist übel«, rief er mit heftiger Ironie. »Wessen Idee ist das? – Julians?«
»Vaters.« Sie starrte finster vor sich hin.
»Natürlich liegt es im Grund sehr nahe. Tony, glauben Sie wirklich, daß Julian ein guter Finanzmann ist? Ich glaub's nicht.«
»Warum?« forschte er.
Er war überzeugt, daß nur ein sehr beschränkter Kreis der City Julian Reefs kleine Geheimnisse kannte.
»Nun, nur eine Kleinigkeit. Er hat Aktien von mir verkauft. Bluebergs heißen sie. Kennen Sie die?«
Er nickte. »Eine sehr gesunde Gesellschaft. Zahlt eine enorme Dividende. Warum hat er die verkauft?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht gefragt. Nur Sir George Crater – er leitet die Blueberg-Gesellschaft –« Tony nickte wieder, und sie sprach weiter. »Ich traf ihn gestern abend auf einem Ball. Da sagte er mir, er würde ein sehr ernstes Wort mit Vater wegen des Verkaufs der Aktien sprechen. Er muß wohl irgend etwas Geheimnisvolles wissen.«
»Aktienverkäufe sind durchaus nicht geheimnisvoll, meine Liebe«, belehrte Tony sie mit einem lustigen Funken in den Augen. Doch sofort war er wieder ernst.
»Vielleicht hat er etwas Besseres dafür gekauft«, erwog er und fühlte seine Heuchelei. Denn er wußte, daß Julian auf dem Markt nichts Besseres finden konnte als die konsolidierten Bluebergs.
Sie hatten das Ende der Avenue Road erreicht und wollten um den Park herumfahren, als ein auffallend großer Mann, der gegen eine Laterne lehnte, langsam die Hand hob, den Hut ein wenig lüftete und wieder auf den Kopf zurückfallen ließ.
»Wollen Sie ihn sprechen?« fragte Ursula am Steuer, als Tony sich halb nach ihm umwandte.
»Ja, ich möchte Ihnen diesen Herrn vorstellen«, erwiderte Tony, »falls Sie nicht eine eingewurzelte Abneigung gegen die Detektive von Scotland Yard haben.«
Sie brachte den Wagen schnell zum Stehen. »Keine Spur! Furchtbar gern, Tony!«
Der große Mann kam mit einem solchen Ausdruck der Müdigkeit auf sie zu, daß sie sein Gefühl der Langweile geradezu körperlich empfand.
»Kriminalinspektor Elk, gestatten Sie, daß ich Sie Lady Ursula Frensham vorstelle . . .«
Das also war der große Elk! Selbst Ursula hatte von diesem dünnen, unglücklichen Mann gehört – kein Wunder, denn er hatte in der Hälfte aller Sensationsprozesse, von denen sie gelesen hatte, eine Rolle gespielt.
»Sehr angenehm, Lady Ursula«, sagte Elk und bot ihr seine große, plumpe Hand: »Adel ist seit kurzem meine Schwäche. Erst vorige Woche habe ich einen Baron geschnappt, der Möbel verkaufte, die er nicht bezahlt hatte.«
Er blickte Tony nachdenklich an.
»Einen Millionär habe ich, Gott weiß wie lange, nicht zur Strecke gebracht, Mr. Braid. Und nach dem, was ich so von Schiebungen und Schiebern höre . . .« Er betrachtete Ursula voller Güte. Dann ging er zu seinem Lieblingsthema über.
»An allen Verbrechen ist die Bildung schuld. Nur dadurch, daß man den Kindern die kleinen Köpfe mit Wilhelm dem Eroberer und solchem Unsinn vollstopft, füllt man die Zuchthäuser. Wenn die Menschen nicht schreiben könnten, gäbe es keine Urkundenfälscher. Wenn sie nicht lesen könnten, gäbe es keine Falschmünzerei. Nehmen Sie zum Beispiel die Erdkunde. Wozu nützt sie, gnädiges Fräulein? Sie zeigt dem hartgesottenen Mörder nur, wohin er sich wenden kann, wenn er aus einem Land fliehen will. Ich habe noch nie einen gebildeten Schutzmann gekannt, den sie länger als drei Jahre in der Truppe halten konnten.« Er schüttelte verzagt den Kopf.
»Wer wird das Stewards-Rennen machen, Mr. Braid? Nicht als ob ich mich auf Wetten einließe, wenn ich nicht gerade einen unfehlbaren Tip kriege. Wetten und Spielen sind die ersten Stufen zum Galgen. Vorige Woche habe ich vier Pfund auf einen Gaul in Newmarket gesetzt. Der Tip kam von einem Verbrecher, mit dem ich befreundet bin, und versagte. Wenn ich den Kerl das nächste Mal erwische, sorge ich dafür, daß er nicht unter zehn Jahren davonkommt!«
Ein lustiges Lächeln in seinen guten, grauen Augen strafte die gräßliche Drohung Lügen.
Tony hatte den Detektiv das erste Mal in Johannesburg getroffen, wohin er einen betrügerischen Bankrotteur verfolgt hatte. Seitdem waren sie sich häufig in London begegnet. Tony Braid hatte diesen müden Mann mit den ewigen Angriffen auf die Bildung gern und schätzte ihn als das, was er war: der gerissenste Detektiv in London. Und obwohl er noch nie seine Dienste in Anspruch zu nehmen brauchte, hatte der Inspektor doch manchen langweiligen Abend in seinem Haus in Ascot belebt und erheitert.
»Sind Sie gerade auf der Verbrecherjagd, Inspektor?« fragte Ursula und unterdrückte ein Lächeln. Sie wollte den komischen Mann nicht beleidigen.
Er schüttelte den Kopf. »Hier in St. John's Wood wohnen keine Verbrecher, gnädiges Fräulein . . . Mylady . . ., ich weiß nicht recht, wie ich Sie nennen soll.«
»Fräulein genügt«, lächelte sie.
Er neigte den Kopf. »Wenn man eine Königin ›Madame‹ nennt, dann genügt ›Fräulein‹ tatsächlich für die meisten Frauenspersonen«, erwog er. »Nein, gnädiges Fräulein, ich bin nicht auf der Verbrecherjagd. Ich suche meinen Hausgenossen, obwohl das gar nicht meine Aufgabe ist, sondern die eines intelligenten Polizisten.«
»Hat er was gestohlen?« fragte Ursula neugierig.
»Nein, gnädiges Fräulein, er hat nichts gestohlen«, entgegnete Elk und schüttelte den Kopf. »Er ist ein kluger Mann, wenn er nüchtern, aber geschwätzig, wenn er voll ist. Entschuldigen Sie den Ausdruck. Höchstwahrscheinlich liegt er jetzt auf einer Bank am Kanal, wenn er nicht darin liegt. Wenn er nüchtern ist, spricht er ganz vernünftig, und es ist ein Vergnügen und ein lehrreicher Genuß, seine Vorträge über die Flora und Fauna Afrikas anzuhören. Aber wenn er voll ist, dann phantasiert er über die Lulanga-Ölfelder, und daß die Quellen alle versiegt sind, und gibt seine Ansicht über den Chefingenieur zum besten – kurzum, man hat schon seine Last mit ihm!«
Da spürte er Tonys Augen, die fest auf ihn gerichtet waren. Braid starrte ihn an, als ob er ein Gespenst gesehen hätte.