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Hinter dem großen grauen Palast, in dem so mancher König gestorben ist, bogen sie wieder von der Hauptstraße ab und tauchten in ein dunkles Gewirr kleiner Gassen, bis sie an eine öde, winkelige Durchfahrt kamen, die so eng war, daß zwei Wagen einander nur mit großer Schwierigkeit hätten ausweichen können.
»Hier wollen wir bleiben«, rief Elk. »Die anderen Chauffeure werden dann glauben, wir gehören zur Gesellschaft.«
Tony beugte sich vor und blickte durch die regentrübe Scheibe. In der Gasse standen noch andere Wagen, nach ihrer Beleuchtung zu urteilen, ziemlich große.
»Guelder gibt eine Gesellschaft«, flüsterte Elk, »bitte, warten Sie hier.«
Er sprang aus dem Wagen und verschwand in der Nacht.
»Das scheint das Haus und das Laboratorium zu sein«, sagte Tony und ließ das Fenster herab. Ursula blickte hinaus und schüttelte sich.
»Gräßlich! Über diesem Ort liegt es wie eine Drohung, die mir das Blut gerinnen läßt. Es ist hier so unheimlich und schaurig! Warum wohnt dieser Mensch hier?«
»Weil es hier unheimlich und schaurig ist«, entgegnete Tony.
Sie glaubte, er wolle aussteigen und faßte seinen Arm.
»Bitte, lassen Sie mich nicht allein! Sehen Sie die kleine Tür dort . . . wie ein düsteres altes Gefängnis! Keine Fenster . . . und die Straßenlaterne an dem Wandarm sieht aus wie auf einem Bild von Alt-London.«
»Vielleicht hat es in Guelders Augen etwas Romantisches«, meinte Tony. »Bei Tageslicht mag es ganz malerisch aussehen.«
Er hatte im Licht der Laterne einige Gestalten gesehen und beugte den Kopf aus dem Wagenfenster. Es waren, wie Elks scharfes Auge sofort erkannt hatte, Chauffeure. Tony flüsterte mit seinem Fahrer, worauf der Mann ausstieg und entschwand.
»Ich möchte gern wissen, wer dieser Besuch ist«, erklärte er Ursula. »Unter den Chauffeuren herrscht ein gewisser Korpsgeist, so daß er höchstwahrscheinlich mehr ausspionieren wird als Elk.«
Der Detektiv kehrte zuerst zurück.
»Dunkle Sache«, knurrte er. »Dieser Halunke Guelder hält den oberen Zehntausend irgendeinen Vortrag. Wo ist Ihr Chauffeur?«
»Ich habe ihn auf Kundschaft ausgesandt. Ich möchte wissen, wem die Wagen gehören.«
»Gut«, lobte Elk. »Ich wollte sie nicht fragen, um keinen Verdacht zu erregen. Es sind heute abend einige prominente Leute in Greenwich – man sieht es schon an den Wagen.«
Bald darauf kehrte der Fahrer zurück und gab ausführlich Bericht.
»Meistens Herren aus der City«, sagte er. »Einer heißt Sleser – soll ein Millionär sein.«
»Sleser!« rief Tony hastig, in Erinnerung an die Andeutungen seines bärtigen Freundes. »Wer noch?«
Der Chauffeur nannte zwei Braid bekannte Namen von Leuten, die auf allen Börsen zu Hause waren. Es waren die kühnsten Spieler der City, die heute ihr Vermögen in Minen, morgen in Gummi wagten, je nachdem sich eine Chance bot.
»Hat man Sie gefragt, wer Sie sind?« fragte Tony.
»Ich habe von vornherein gesagt, ich sei Taxifahrer und hätte einen Herrn von Grosvenor Place hergefahren.« Er erntete reichlich Lob für sein Märchen.
Der Wagen mußte die enge Gasse rückwärts fahren. Erst als sie die hellerleuchtete Hauptstraße wiedergewonnen hatten, atmete Ursula befreit auf.
»Ich bin ein Angsthase«, lächelte sie. »Ich bin kindisch, aber ich bin wirklich nicht immer so, Tony. Warum besuchen diese großen Herren Guelder?«
»Ich würde viel darum geben, es zu wissen. Sie haben doch nicht etwa zufällig den Weg in Guelders Haus gefunden, Elk?«
Er hatte es versucht, es war ihm aber mißglückt.
»Ich klopfte an die Tür, und eine alte Dame öffnete. Ich schätze sie auf einige hundert, vielleicht auch mehr. Sie konnte nicht englisch sprechen. Ich kann sechs Sätze französisch. Die probierte ich der Reihe nach an ihr aus, aber sie kapierte nicht. Wahrscheinlich ist sie 'ne Deutsche oder Holländerin. Übrigens hielt sie die ganze Zeit, die ich mit ihr sprach, die Kette vor. Ein Trost in meiner Ausgeschlossenheit war der herrliche Küchengeruch, der zu mir herausströmte. Die Kerls sind zum Abendessen geladen. Es war eine Qual für mich, den einzigen Menschen, der heute abend in London verhungert. Wenn Sie mich jetzt zum Abendessen einladen, Mr. Braid, vergehe ich vor Scham. Immer haben die Leute von mir den Eindruck eines Knickers; dabei bin ich der freigebigste Mensch auf Gottes Erdboden. Ich habe mehr Leuten Kost und Logis verschafft, als irgendeiner meiner Bekannten. Auf Jahre hinaus. Aber wenn Sie mich doch zum Abendessen einladen – ich kann so schlecht nein sagen –, wie denken Sie über Kirro? Wenn man auf dem Balkon ißt, braucht man sich noch nicht einmal umzuziehen, und bis eins gibt's fabelhafte Getränke.«
»Kirro ist die Losung«, lachte Tony, »wenn Sie nicht lieber zu mir nach Hause kommen.«
»Ihre Küche schmeckt mir nicht«, lehnte Elk scherzhaft ab. »Zunächst bitte ich Sie, mich am Präsidium abzusetzen. In einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen – ich will nur erst dieses Paket an einem sicheren Ort verstauen.«
Man setzte Elk also an dem düsteren Tor von Scotland Yard – und einen Steinwurf entfernt von jener Stelle ab, an der ein leichter Sommermantel über das Geländer der Brücke geflattert war, geradewegs auf den Kopf eines erstaunten Schiffers.
Obwohl es im Saal bei Kirro ziemlich lebhaft zuging, war der Balkon verödet, denn die Theater hatten noch nicht geschlossen.
»Ein drolliger Mensch, dieser Elk«, sagte Tony in Gedanken. »Man weiß nie, was in seinem Kopf vorgeht, und dabei scheint er Gott weiß wie durchsichtig.«
»Ich mache mir große Sorgen wegen des Zettels und des Mantels«, klagte Ursula gequält. »Ich habe das unangenehme Gefühl, daß etwas Schreckliches dabei herauskommt – und daß ich irgendwie mit hineingezogen werde.«
Auf dem Weg von Woolwich war sie sehr still gewesen, und seit sie Greenwich verlassen hatten, hatte sie kaum ein Wort gesprochen.
»Ich hab' so ein quälendes Gefühl dabei, Tony. Haben Sie eine Ahnung, was hinter diesem Fund steckt?«
»Selbst wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht verraten«, wich er aus.
Er blickte sie bekümmert an. Sie war erschreckend bleich. Er äußerte seine Besorgnis.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, wehrte sie ab. »Es ist nichts. Nur dieses gräßliche Haus in Greenwich. Als ich noch klein war, sagte meine Erzieherin immer, wenn ich plötzlich erschauerte, jemand gehe über mein Grab. Genau dasselbe Gefühl hatte ich in dieser grauenvollen Straße. Aber es ist bestimmt nicht Hysterie. Mr. Elk sagt ja, ich hätte Instinkt, und hätte ich ihn ermutigt, hätte er mich als ›Instinkt-Dame‹ an Scotland Yard empfohlen.«
»Sagen Sie mal, Ursula, aber ganz aufrichtig: hat Guelder Ihnen irgend etwas getan?«
Sie schüttelte den blonden Kopf.
»Nein. Und doch, Tony . . . als ich vorhin in seiner Straße war, ertappte ich mich plötzlich dabei, daß ich ihm den Tod wünschte! Ich verstehe mich selbst nicht. Es ist irgend etwas Gespenstisches. Ich habe noch nie einem Menschen gegenüber solch entsetzliche Gedanken gehegt. Und habe nicht den geringsten Anlaß. Im Gegenteil, er war gegen mich immer außerordentlich liebenswürdig und tat furchtbar freundlich. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, daß er mir irgendein schreckliches Leid antun wird. Und jedesmal, wenn ich sein blödes, feistes Gesicht sehe, möchte ich hineinschlagen.«
Sie bebte, ihr Atem ging hastig. Er hatte sie niemals so heftig und unbeherrscht gesehen. Er führte ihre Erregung auf ihr kürzlich erlebtes Leid zurück, hielt sie für übermüdet und überreizt.
»Wir haben ja Elk«, beruhigte er sie. »Sie haben nichts zu fürchten.«
»Gottlob, daß wir Elk haben!« flüsterte sie.
»Was ist mit Elk?« fragte der Detektiv, der plötzlich am Tisch stand und sich setzte.
Sie fuhr nervös auf.
»Sie konnten doch unmöglich meine Worte hören!«
»Ich habe es Ihnen von den Lippen abgelesen – eine leichte Aufgabe, wenn man Übung hat. Sehen Sie den jungen Mann dort unten?«
Er zeigte auf einen jungen Mann, der an einem der Tische neben einem sehr hübschen Mädchen saß und sich temperamentvoll zu ihr vorbeugte. »Wissen Sie, was er ihr sagt? Sie dürfen dreimal raten.«
»Sicher etwas sehr Liebes«, riet Ursula.
»Er spricht über Creme – Schuhcreme«, berichtete Elk und beobachtete scharf den ahnungslosen Herrn. »Jetzt weiß ich's genau – er erzählt ihr, wo er die Wichse für seine Jagdstiefel kauft.«
»Unmöglich!« lachte Ursula.
Elk dozierte:
»Eine Lebensweisheit müssen Sie sich einprägen, junge Dame: Die Menschen sprechen immer über das, was man nicht erwartet. Sie sind übrigens ein leichtes Objekt für einen Beobachter, weil Sie Ihre Lippen bewegen. Die meisten Damen heutzutage sprechen durch die Nase. Und ein Nasenleser bin ich nicht. Aber was sagten Sie gerade von mir, als ich kam?«
»Ob Sie Guelder nicht ein bißchen deportieren könnten«, lächelte Tony.
»Das ist der einzige Mensch in England, den ich niemals deportieren ließe«, rief der Detektiv energisch. »Nein, ich liebe den alten Guelder. Habe ihn gern um mich. Ich werde ihm wohl in den nächsten Tagen ein hübsches Heim besorgen. Heutzutage behandeln sie die Leute im Gefängnis so rücksichtsvoll, daß sie es dort viel besser haben als zu Hause.«
»Mr. Elk«, sagte Ursula und senkte die Stimme, »welche Folgen wird das Blatt Papier haben, das Sie in Julians Mantel fanden?«
»Allerlei«, murmelte Elk. »Ich sehe die Folgen deutlicher als den o-beinigen Jüngling da, der mit der herrlichen Königin aus dem Wäschegeschäft tanzt. Ich kenne sie. Ihr Vater war Buchmacher und ein großer Sünder. Ihnen, Mr. Braid, sind die Folgen wohl auch ziemlich klar?«
Tony zögerte.
»Nein«, sagte er schließlich. »Ich habe auch gar keine Lust, mir die Folgen vorzustellen.«
»Ich glaube, Sie sind ein Weiser«, flüsterte Elk.
Der Kellner kam und stand erwartungsvoll am Tisch.
»Ein Rumpsteak mit einem großen Ei darauf«, bestellte Elk. Dann wandte er sich an Braid. »Bitte, bieten Sie mir keinen Sekt an, sonst trinke ich ihn. Mein Arzt sagt, ich würde zwanzig Jahre länger leben, wenn ich recht viel Champagner trinke. Aber er muß extra trocken sein. Was, Lady Frensham, so ein Kerl wie ich ist Ihnen noch nicht vorgekommen? Wissen Sie, wie man mich bei der Abteilung nannte? – ›Johnney Frechdachs‹ – Dabei bin ich doch wirklich die personifizierte Bescheidenheit.«
Plötzlich hörte er auf zu lachen und sagte ernst:
»Sie wollen die Wahrheit über das Stückchen Papier wissen? Nun, ich werde es Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, ich brauche noch etwa drei weitere Indizien, ehe ich Ihnen etwas sagen kann; und dann werde ich es höchstwahrscheinlich unterlassen. Sie werden sich schon an die Zeitung halten müssen.«
Mit ungewohnter Schroffheit wechselte er das Gespräch. Um halb eins verließen sie das Lokal. Es goß noch immer in Strömen. Der Portier, der sonst mit einem Schirm die Gäste zum Wagen begleitete, war gerade abgerufen.
»Wir müssen zum Parkplatz gehen«, schlug Tony vor und half Ursula in den Regenmantel.
Um den stillen Platz zu erreichen, wo die Wagen standen, gingen sie durch eine enge Gasse, die eine noch engere kreuzte. Auf der Kreuzung stand ein Auto quer zur Straße, durch die sie kamen. Sie hörten das Summen eines Motors, ehe sie noch die unbeleuchteten Umrisse des Wagens erkennen konnten.
»Mir scheint«, sagte Elk, »daß das ein gefährlicher Ort ist zum Halten.«
Sie sahen zwei kurze Blitze im Innern des Wagens aufzucken, etwas pfiff an Elks Ohr vorbei und schlug mit lautem Aufprall in ein Ladenschild.
»Verfluchter Hund«, brüllte Elk und sprang beim Knall des Revolvers wie ein Jagdhund vor.
Ehe er sein Ziel erreicht hatte, fuhr der Wagen an und entfernte sich in rasendem Tempo. Er konnte die Nummer nicht erkennen, denn das Schlußlicht brannte nicht. »Galt das mir oder Ihnen?« sann Elk. »Das ist das einzige, was mich dabei interessiert. Wenn es Ihnen galt, kenne ich den Mann, aber wenn es für mich bestimmt war, habe ich die Wahl unter sechsen.«