Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Siebentes Kapitel

Ein armer Sünder schreibt in seinem Kloster auf dem Aventin zu Rom in sein Büchlein

Im Heiligtum Sankt Augustins auf dem Aventin zu Rom

Nun öffne ich doch noch einmal meiner toten Mutter Buch und will darin einiges aufzeichnen. So war es meiner Mutter Wunsch für ihren lieben Sohn Rochus ...

Das Buch hat viele leere Seiten; viele Jahre blieb es verschlossen. Zum letztenmal schlug ich es auf an dem Tage vor dem Begräbnis Judith Platters, welche die Leute die Königsfrau nannten.

Aber ich schrieb an jenem Tage nichts in das Buch.

Das soll jetzt geschehen – zum letztenmal im Leben; denn bald kommt mein Allerletztes.

Das wird dann das Ende eines verfehlten Menschenlebens sein. Was bedeutet das? Die Menschen werden geboren; sie leiden und freuen sich, leiden vieles und freuen sich ein Weniges, sind Gläubige und Ungläubige, Satte und Hungrige, Fleißige und Müßige, Herren und Diener. Sie lieben und werden geliebt, oder sie bleiben Zeit ihres Lebens ungeliebt und können selber nicht lieben. Sie verraten und werden verraten. Sie erkennen den Trug und die Lüge des Daseins oder bleiben mit glücklicher Blindheit geschlagen. Kommt alsdann ihre letzte Stunde, so legen sie sich nieder zum Sterben, ringen qualvoll mit dem Tode, und von den Millionen und aber Millionen, die geboren werden, können nur wenige sprechen:

»Und seht – mein Leben war ein gesegnetes!«

Das ist nun einmal nicht anders.

Ich will heute zurückdenken ...

Judith Platter war gestorben und sollte begraben werden. Der Knecht Martin bedrohte mich: »Die Frau starb als gläubige Christin. Ihr wißt's, denn Ihr versaht sie mit dem letzten Sakrament. Gebt Ihr der Frau kein christliches Begräbnis, geht's Euch schlecht.«

Weshalb sollte ich Judith Platter kein christliches Begräbnis geben? Weil sie keine gute Christin, weil sie eine Selbstmörderin gewesen? Ihretwillen tat ich ganz andres als lügen. Also konnte ich ihretwillen auch die Lüge ihres bußfertigen Todes auf mich nehmen.

Aber sie hätte die Lüge verschmäht – sie! Es würde ihr Andenken entweiht haben, hätte ich ihr Sterben mit einer Lüge belastet. Die Lüge vernichten, hieß für mich, ihr Andenken heiligen. Dieses bedachte ich an dem Tage und in der Nacht vor ihrem Begräbnis. Ich saß in meiner Zelle unter dem Bildnis der heiligen Barbara, das mir der Mann sandte, der sie liebte und bis zu seinem letzten Atemzug lieben wird.

In diesem Buche las ich in großer Einsamkeit als Totenfeier für sie. Ich las darin von meiner Liebe zu ihr, die ich bis zu meinem letzten Atemzug lieben werde, und die sich aus Liebe zu mir umgebracht hat.

Wenn ich von dem Buche aufblickte, sah ich ihr Antlitz über mich leuchten, und ich sah durch das offene Fenster hinauf zu ihrem Hause unter den Königswänden, darin sie nun als stille Frau lag, daraus sie am nächsten Tage für immerdar ziehen wird, herab zu mir.

Also kommt sie doch! In der Frühe des nächsten Tages wurde sie von ihren Leuten zu Grabe geführt. Jungfrauen trugen die Jungfrau, und die Dolomiten leuchteten ihr im Morgenglühen hinab.

Als sie ihr Haus verließ, gab der Knecht Martin allen Vögeln die Freiheit. Da begab sich ein Wunder.

Etliche von den befreiten Vögeln flogen auf und davon; aber viele setzten sich auf ihren Sarg oder schwebten darüber. Sie zwitscherten fröhlich und sangen ihre ersten Frühlingslieder. Es gab ein Jubeln und Jubilieren.

Und Judiths Hunde geleiteten sie auf ihrem letzten Wege. Ein Trauerzug war's, nicht wie für eine Königsfrau, sondern wie für eine, die durch ihren unchristlichen Tod heilig geworden.

I ch aber gab der Wahrheit die Ehre, ließ für Judith Platter nicht die Glocken läuten, ließ Judith Platters Grab ungesegnet, ließ sie als Selbstmörderin bestatten.

So war's ihr letzter Wunsch und Wille gewesen, und ich erfüllte ihn. Der Knecht Martin reizte das Volk wider mich auf. Das Volk wollte mich zwingen, Judith Platter ein christliches Begräbnis zu geben. Ich ging hinaus, und die, die mich geehrt hatten, beschimpften mich, nannten mich einen Totschläger und Mörder, hätten mich am liebsten totgeschlagen und gemordet. Ich stand ruhig unter den Wütenden und fühlte eine heiße Liebe zu den Menschen, die aus Liebe zu Judith Platter mich steinigen wollten ... Ich habe seitdem nie wieder Menschenliebe in mir empfunden. Nicht ein Zucken von Menschenliebe!

Meine Mönche schützten mich gegen meinen Willen; denn ich hätte in jener Stunde Judith Platters willen meine Seele mit Wonne ausgehaucht. Gegen meinen Willen blieb ich am Leben.

Während ich, durch Steinwürfe verwundet, fiebernd in meiner Zelle lag, zwang der Knecht Martin meinen Kaplan, Judith Platter ein christliches Begräbnis zu geben. Ich hörte in meinem Fieber das Glockengeläute und soll bei jedem Schlage laut ausgerufen haben: »Judith! Judith! Judith!«

Dann empörten sich wider mich meine Mönche, die mich seit langem heimlich haßten und verfolgten. Sie beschuldigten mich bei meinen Oberen einer sündhaften Leidenschaft für ein irdisches Weib und drangen auf meine Abberufung und Absetzung.

Ich wurde zur Verantwortung gezogen.

Das Bildnis Santa Barbara ließ ich im Kloster zu ihrem Gedächtnis; aber Santa Barbaras Ring nahm ich mit mir – trug den schmalen Goldreif mit dem wie ein Blutstropfen funkelnden Edelstein auf meinem Herzen mit mir davon.

Ich meine den Ring Judith Platters, an der ich einen Leichenraub beging.

Das eine will ich in diesem Buche von ihr noch aufschreiben: sie ließ einen rechtskräftigen letzten Willen zurück. In diesem verteilte sie ihr ganzes Hab und Gut unter ihr Gesinde, auf daß ein junges und starkes Geschlecht unter den Königswänden erblühe. Den Hof selbst erhielt der Knecht Martin mit der Bedingung, für sein Haus eine junge liebe Hausfrau zu nehmen.

So lebt sie fort in ihrem freien stolzen Reiche unter den Königswänden; so wirkt sie fort noch nach ihrem Tode. Und sie wird noch nach ihrem Tode gesegnet von Kind und Kindeskind derer, die ihr getreu waren und an denen sie Gutes tat.

Gesegnet sei ihr Gedächtnis, von nun an bis in Ewigkeit.

Amen.

Als Judith Platter in jener Märznacht das Leben von sich warf, weil es sonst mir gehört hätte und weil sie sich lieber in die Tiefe stürzte, als sich von mir zum Himmel erheben zu lassen, da küßte ich sie auf den toten Mund, schrie ihr meine Liebe ins starre Antlitz. Und ich schied von ihr, wissend, daß ich fürderhin ein Priester nicht länger sein durfte.

Dennoch bin ich das geblieben – obgleich man mich zur Verantwortung zog. Wenigstens dem Worte nach blieb ich ein Priester, und es soll ja wohl das Wort aller Welten erster Anfang sein. Nicht nur, daß ich ein Diener Gottes blieb – ich wurde in seiner Kirche ein Mächtiger und Gewaltiger, wurde das, was ich werden wollte, ein Gebietender.

Es ließ mich nicht wieder los! Auf stieg ich von Würde zu Würde, von Macht zu Macht. Ich herrschte! Ich herrschte über die Gemüter der Menschen, als wäre ich nicht ein Gesalbter, sondern ein Gekrönter, ein Königsmensch, wie sie es gewesen war.

Nicht wieder los ließ es mich ...

Ich wurde Prälat von Kloster Neustift bei Brixen; ich machte den Platterhof zum Klostergut, machte Schloß Enna zum Klostergut.

Ich stieg, wurde Provinzial meines heiligen Ordens, stieg und stieg. Ich wurde Generalprior meines Ordens.

Ich stieg und stieg und stieg ...

Aber so hoch mein Adlergeist mich trug, erreicht er doch niemals den Himmel, niemals die Gottheit; nicht in aller Ewigkeit wird meine sündige Seele verweilen in der Gemeinschaft der Seligen – in der Gemeinschaft mit dir, Judith, Judith! Und mit meinem letzten Seufzer werde ich zur Gottheit aufschreien: » Mein Leben war verfehlt!«

Mensch hätte ich bleiben müssen, die Erde meiner Väter im Schweiße meines Angesichts bebauen, Judith Platter zu meinem Weibe machen, mit Judith Platter Kinder zeugen, Söhne, die ein schönes und starkes Geschlecht von Männern und Frauen, die ihrer Eltern Gedächtnis hochhielten.

Dann wäre mein nun verfehltes Leben ein gesegnetes gewesen; dann hätte ich in meiner letzten Stunde sprechen können:

»Siehe, mein Gott und Herr – ein glücklicher Mensch ruht aus von seinem mühevollen, aber gesegneten Tagewerk. Nimm deinen Sohn gnädig auf.«

Und der Herr hätte für mich seine beiden Arme geöffnet und mich meinem lieben Weibe zugeführt.

Nun sind meines Geistes Schwingen gelähmt. Der Aar, der zur Sonne aufrauschen wollte, ist ein flügellahmer, todwunder und todmüder Vogel, der in diesem heiligen Käfig sehnsüchtig seines Endes harrt. Durch das vergitterte Fenster leuchtet die goldene Sommerschönheit von Roms Campagna zu meiner Aventinischen Höhe empor. Ich aber denke an das grüne, grüne Vahrn, und die ganze glanzvolle Herrlichkeit dieses heiligen und ewigen Rom versinkt für mich.

Heimat, Heimat! Mein Vaterland Tirol! Es könnte mir nichts nützen, wenn ich als Sterbender Gott dem Allmächtigen seines falschen und schlechten Priesters sündige Liebe zu einem irdischen Weibe bekennen würde – Gott der Allgerechte würde mich nicht anhören.

Und wenn ich zur Buße meiner Schuld mir selbst die Pönitenz auferlegte, auf meinen todmüden Füßen eine Wallfahrt zu Mariä blutendem Herzen in den Dolomiten am Schlern zu tun, oder zu dem Grabe der in geweihter Erde ruhenden Königsfrau, oder nur bis zum Ufer des rauschenden Eisack, wo einst zwei junge gute Menschenkinder gestanden sind – nichts nützen würde mir's! Meine Seele würde dennoch und dennoch verdammt bleiben. Trotz deiner Fürbitte, selige Mutter!

Zu lange! Mein Leben währt viel zu lange!

Ich führe das Dasein eines Asketen, Fanatikers, Heiligen. Ich faste und kasteie mich. Ich töte mein Fleisch. Dennoch lebe ich. Mein Leben ist ein so gottwohlgefälliges, daß ich das Wunder des Klosters bin und nur zu wollen brauchte, um Wunder zu tun. Ein Ende machen will ich; sterben will ich: sterben den Tod, den du starbst, Judith, Judith!

Als junger Mönch stieg ich einstmals hinab in die Stadt der Grüfte, zu der es in unsrer Kirche gleich hinter dem Hochaltar hinunterführt.

Das will ich wieder tun. Ich gieße Öl auf das Lämplein, zünde es an, steige mit dem matten Licht in den Schoß von Mutter Erde hinab, zu den tausendjährigen Toten. Ich wandere, wandere, wandere –

Sie nehmen kein Ende, die Grüfte ...

Sollte ich mich verlieren in dem endlosen Labyrinth; sollte mein Lämplein erlöschen –

Das Ende, das Ende!

Heute will ich mein Lämplein nicht wieder mit frischem Öl füllen.

Ende


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