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Auf Judiths Hof stand der ganze Sommer unter dem Zeichen des goldfarbenen Gelocks von Judiths Schützling – auch seine Augen hatten die Farbe bräunlichen Bernsteins – und seines leuchtenden Wesens. Sobald er sich bewegen konnte, folgte er Judith wie ihre Hunde, wie der jetzt uralte und bereits recht gebrechliche Hofkavalier, der Reiher, so daß auch Barbaro Bossi fortan mit Leib und Seele zur Judith-Menagerie gehörte. Aber der Jüngling mußte mühselig an zwei Stöcken gehen, unter Schmerzen sich dahinschleppen, und es blieb ungewiß, ob er je wieder eine fröhliche Bergfahrt unternehmen oder gar einen Tanz machen konnte. Das war traurig. Um vieles trauriger jedoch war die Lähmung des rechten Armes, der noch immer schwer und steif in der Binde ruhte, grade des jungen Künstlers rechter Arm! Und seine Kunst war sein Leben, wie sie seine Religion war.
Je weniger er sein Leid zeigte, um so tiefer bekümmert fühlte sich Judith. Sie sandte nun doch nach Bozen um einen Arzt, der ungern den weiten beschwerlichen Weg heraufkam. Er fragte, untersuchte, machte ein ernsthaftes Gesicht, sagte aus, keine bestimmte Zusicherung geben zu können; versicherte jedoch, in der Behandlung sei nichts verfehlt worden. Der Jünger Äskulaps verordnete heiße Bäder aus Alpenkräutern, gebot strenge Ruhe und stieg wieder hinab. Barbaro war seelenvergnügt und erklärte freudestrahlend:
»Ein Glück für den Mann, daß er mich von hier nicht fortschaffen wollte! Ich hätte mich sonst vor seinen Augen gleich aus der Welt geschafft. Nur hier oben – nur bei Euch, liebe Frau – kann ich wieder gesund und heil werden ... Gesund und heil – In meinem ganzen, freilich noch recht kurzen Erdenleben war ich nicht solch gesunder und heiler Mensch. Was tut's, wenn ich etwas hinke und noch nicht ein hübsches junges Blut halten kann? Die holden Frauen werden mir um so liebreicher begegnen, wenn sie mich armen Lazarus so recht von Herzen bedauern müssen; und die holden Frauen sind und bleiben doch das Lebenswerteste und zugleich das Wonnigste auf der Welt ... Nun ja! Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Ich sei ein rechter Fant und Tunichtgut. Straft mich nur, scheltet mich nur! Aber bleibt mir hold gesinnt; denn sonst – sonst reiße ich mir die häßliche Binde vom Arm, um beide Arme zu Euch aufzuheben, als ob Ihr doch wärt, was Ihr nicht sein wollt: nämlich Santa Barbara in eigener heiliger Person ... Nicht böse sein. Bitte, bitte! Nicht fortgehen, bleiben, gütig mich ansehen. Nur gütig! Mein rechter Arm ist eben immer noch ein wenig steif. Wenn Ihr Eure Augen mitleidig darauf ruhen lassen wollt, wird das mehr Wunder tun, als alle Wunderbäder der Welt. Also helft mir, heilt mich! Wenn Ihr mir bei meinem Arm nicht helfen wollt, hättet Ihr mich gar nicht erst aus dem Abgrund zu retten brauchen, hättet Ihr mich darin ruhig liegen lassen sollen ... Das ist Unsinn! Schließlich lerne ich mit der Linken malen. Der göttliche Raffael hätte es mit den Füßen können, hätte er keine Hände gehabt. Einstweilen male ich mit den Augen ... Jawohl! Seht mich nur groß an! Das geht tausendmal besser, wird tausendmal schöner. Ich male hier oben mit meinen Augen eine ganze Galerie zusammen. Es sind lauter unsterbliche Werke. Und – es sind lauter Judith-Gemälde ... Ihr könnt mich noch so ernsthaft, noch so bitterböse anschauen, es ist darum doch so: Ihr verhelft mir zur Unsterblichkeit.«
Sie sah ihn weder ernsthaft noch bitterböse an. Gedankenvoll sah sie ihn an, schwermütig, fast traurig. Und auf seine übermütige Rede erwiderte sie nicht ein einziges Wort ...
Aber die Geduld und Liebenswürdigkeit, womit Barbaro seine Leiden ertrug, machte ihr ihn wert und werter. Er verspürte häufig heftige Schmerzen und war grade in diesen Stunden am heitersten. Nur ein qualvolles Zucken seiner Lippen, ein erstickter Seufzer verrieten Judith, wie sehr er litt. In solchen Augenblicken würde sie viel darum gegeben haben, hätte sie, die Starke, niemals Leidende, ihm sein Leiden abnehmen können. Wenn er dann unter Scherzreden neben ihr hinschlich, schämte sie sich fast ihrer gesunden Glieder. So geschah es, daß Judith Platter der Frauen reinste und höchste Liebe, das Mitleid, kennen lernte.
Niemals war der Superior des Augustinerklosters so oft heraufgestiegen, als in den langen Tagen dieses glühendheißen Sommers; und niemals früher war ihm unter den Königswänden die Hausfrau so fremd begegnet. Es hatte den Anschein, als wollte er sie bewachen, vielmehr sie belauern, jede ihrer Mienen, jeden ihrer Blicke, wenn sie mit ihrem jungen Gast sprach. Als wollte er sie bei einer Schuld ertappen, um sie alsdann zur Verantwortung zu ziehen. Selbst wenn diese Schuld, die der geistliche Herr an der Königsfrau zu entdecken strebte, auch nur in einer Gedankensünde bestand – zur Verantwortung gezogen hätte er sie dennoch. Als wäre Judith Platter die Frau gewesen, ihm dazu das Recht zu geben! Ihm oder irgendeinem andern Menschen auf der Welt. Sie schritt unbeirrt ihren Weg, den sie schreiten wollte. Und wäre es ihr Todesweg gewesen.
Höchst sonderbar war das Verhältnis der beiden Männer zueinander: des Priesters und des jungen Künstlers, der sich auch dem Hochwürdigen gegenüber mit seinem leuchtenden Lachen einen schlimmen Heiden schalt und feierlich erklärte, keinerlei Bekehrung zugänglich zu sein. Pater Paulus verhielt sich dem Liebling des Hauses gegenüber ungewöhnlich duldsam, nahezu milde. Er wollte strenge Selbstzucht üben, sich ganz in Gewalt behalten, durch nichts verraten, was in ihm tobte: außer rasender Eifersucht ein wütender Neid.
So jung war auch er gewesen, auch er so voll überschäumender Lebenslust und Lebenskraft. Was hatten dem Junker Rochus die Heiligen seiner Kirche, die Dogmen und Wunderlehren seines Glaubens gegolten? Einer Kirche, die die triumphierende war; eines Glaubens, der allein selig machen sollte.
Er gedachte seiner Wandlung und dessen, was aus ihm geworden war – was aus ihm mehr und mehr werden mußte: ein Fanatiker, ein Zelot, ein unduldsamer Eiferer, gleich dem Konvertiten, der seinem alten Glauben flucht und ein wütender Streiter seines neuen Bekenntnisses wird, im Kampf gegen seine einstmaligen Glaubensgenossen grausam bis zur Erbarmungslosigkeit. Es war so das Übliche, fast das Gewöhnliche. Aber daß er den breitgetretenen Weg des allgemein Menschlichen ging!
Den Künstler dagegen packte die monumentale Schönheit des Mannes, der sein Priesterkleid wie ein Königsgewand trug. Er hielt Gestalt und Antlitz für ein Meisterstück der Schöpfung und bewunderte darin die schaffende Natur, voll Staunens darüber, wie sie als große Künstlerin herrliche Werke schuf. Und da er mit seinem steifen Arm untätig sein mußte, so ließ er seine Augen auch von dieser bedeutenden Erscheinung Bild auf Bild malen: neben dem leuchtenden Gemälde Judiths, der Königsfrau, das dunkle Porträt des Priesters, dieses Königsmenschen. Seltsam, daß er die beiden beständig beieinander sehen, sie sich beständig vorstellen mußte, als gehörten sie zusammen. Einmal sprach er darüber zu Judith:
»Was ist das nur, daß ich Euch von dem fremden Mann nicht zu trennen vermag? Grade Euch von ihm nicht zu trennen! Ich kenne auf Erden nichts, was so verschieden voneinander wäre, als Ihr und dieser Mann; und dennoch! Übrigens – was will er von Euch?«
Darauf gab Judith keine Antwort. Immer wieder jedoch sprach Barbaro zu ihrer Qual von dem Priester:
»Wie kommt er in diese Wildnis? Weshalb bleibt er? Was wißt Ihr von ihm? Er ist der eigentümlichste Mensch, den ich jemals sah. Er zieht mich gewaltsam an und stößt mich ebenso heftig ab. Ich bitte Euch, sagt mir alles, was Ihr von ihm wißt ... Ihr wollt mir nichts sagen?«
»Nein.«
»Also wißt Ihr etwas, das sich nicht sagen läßt? Trotzdem erlaubt Ihr ihm, beständig zu kommen?«
»Ich will ihn zu kommen nicht hindern.«
»Ihr wollt nicht?«
»Dringt nicht in mich.«
Sie sagte es so gequält, daß der Jüngling tief erschreckt schwieg. Nun begann auch er zu beobachten, zu belauern ...
Wenn die beiden Männer bei Judith waren, so zeugte jeder von ihnen von seiner Gottheit. Der Priester predigte den dreieinigen Gott, der Künstler den einen und einzigen: den göttlichen Geist der Kunst; rief der eine voller Triumphs: »Die Kunst ist Dienerin der Kirche!« – so verkündete der andre: »Sie dient keiner Macht der Welt, sondern sie herrscht!« Für den Augustiner war die Macht seiner Kirche das Höchste; dem Bildner war es das innere Erschauen und Erschaffen der Schönheit. Beide ließen sich von der Gewalt ihrer Empfindung hinreißen, wurden beredt, sprachen wie mit Engelzungen. Aber sie sprachen nicht etwa einer zum andern, sondern beide sprachen einzig und allein zu Judith. Diese hörte beiden zu und schwieg beiden gegenüber.
Kunst und Schönheit; Weihe der Kunst und Göttlichkeit der Schönheit – –
Es erschloß sich für Judith durch den von ihr Geretteten eine neue Welt. Und wenn sie auch nur auf die Schwelle dieses Heiligtums trat, voller Scheu auf der Schwelle stehen blieb, so überkam sie doch eine Ahnung von der Fülle des Herrlichen, das zu der Menschheit höchsten Gütern gehörte. Und sie, die Pfadfinderin, deren tägliches inbrünstiges Gebet an die Gottheit ihre tägliche unermüdliche Arbeit war, fühlte erschauernd: Auch hier ist ein Tempel!
Die zweite Heumahd war getan und der reiche Segen an kräuterreichem, stark duftendem Alpengras trocken unter Dach gebracht worden; keine Frevlerhand schleuderte mehr den Feuerbrand in den Besitz der Königsfrau, die keine Nacht mehr zu wachen brauchte. Auch auf der Hochalm war das stattliche Blockhaus mit Vorrat gefüllt, und das zur besonderen Freude der Herrin. Denn bislang hatten die herrlichen Weideplätze dort oben nur den Gemsen zunutz gedient; jetzt halfen sie Herden ernähren, Menschen Vorteil bringen.
Nun bedeckten sich die herbstlichen Matten von neuem mit Blüten. Die Fluren blauten von dem Azur der kleinen Genzianen, und die Goldraute überzog sie mit Glanz. In Gold leuchteten auch die Lärchen, von denen hundertjährige Riesen den schwarzen Tann säumten. Am frühen Morgen lagen die Blumengefilde in märchenhafter Pracht – von zarten Geweben umsponnen, daran der Tau im Sonnenschein mit Brillantgefunkel hing. Am Himmel stiegen weiße Wolkengebilde auf und die Luft durchzogen silberne Flocken.
In langen Reihen schwebten Kraniche und Wildgänse lautlos gen Süden; aber aus den Tiefen der Wälder dröhnte das Brüllen der brünstigen Hirsche empor, ein stolzer Liebesruf, der zugleich ein wilder Kampfschrei war.
Immer kürzer wurden die Tage, immer behaglicher die langen Abende. In den gewaltigen Kachelöfen flammten die Tannenscheite, die Räder der spinnenden Mägde surrten, und die Hausfrau warf emsig das Weberschifflein. Sie erschien ihrem Gast bei dieser feierlichen Beschäftigung am schönsten und liebenswürdigsten ...
Dank Judiths heilkräftigen Bädern – und dem Zauber ihrer Gegenwart – begann seine steife Rechte zu genesen. Es bestand daher keine Gefahr mehr, die Kunst könnte diesen gottbegeisterten Jünger verlieren. Immerhin fand sich grade in der augenscheinlichen Besserung ein neuer guter Grund, um die Abreise von neuem hinauszuschieben. Auch drängte die gütige Wirtin nicht. Sie hatte sich an das lichte Antlitz und Wesen des Fremdlings gewöhnt, so daß er kein Fremdling mehr war. In ihrer herben Aufrichtigkeit gegen sich selbst gestand sie sich, sie würde ihn eines Tages vermissen. Aber das eine hatte sie längst erkannt, daß dieser Lebende nur in seinen Zügen dem Gestorbenen glich. Nie und nimmer hätte Barbaro Bossi seine Seele einer andern Gottheit angelobt, als der seiner Kunst. So wäre er denn auch gewiß einem irdischen Weibe treu geblieben; und Treue, unverbrüchliche, heilige Treue, galt dieser Frauenseele als des Menschen Allerhöchstes.
Bei dem schönen Herbstwetter, das dem Dolomitengebiet einen leuchtenden Nachsommer brachte, befanden sich die Herden noch zur späten Zeit auf der Hochalm. Der junge Martin war jetzt Oberhirte. Ein Senn und zwei Hüterbuben standen unter seinem Hirtenstab; und dieser wurde über Herde und Untergebene von kräftiger Hand als Zepter geschwungen. Da brach urplötzlich der Winter herein. Es schneite zwei Tage, zwei Nächte, und zwar gleich so mächtig, daß an ein Abtreiben der Herden auf den schwindelnden Felsenpfaden nicht zu denken war. Man hoffte auf endliches Aufhören des starken Schneefalls und auf eintretendes Tauwetter. Statt dessen kam strenger Frost und mit diesem ernste Gefahr.
Hinunter mußte das Almenvieh! Martin sandte Botschaft, Heu und Salz gingen zu Ende. Alle Hilfe müßte aufgeboten werden; sie wären droben eingeschneit!
Mit sämtlichen Knechten brach Judith auf. Die Männer führten außer Futter auch Schaufeln und Hacken mit sich; denn Stallung und Hütte mußten ausgegraben und für die Herden die Wege gebahnt werden. Seit Menschengedenken war ein derartiges Elementarereignis nicht dagewesen.
Barbaro war außer sich. Seine lahmen Glieder verwehrten ihm, die gefahrvolle Expedition mitzumachen. Und Judith war dabei! Unmöglich sie abzuhalten! Dennoch versuchte er es. Er rief verzweifelt:
»Wenn Ihr ausgleiten, wenn Ihr abstürzen solltet!«
»Ich gehe sicher.«
»Trotzdem bitte ich Euch. Auch Euch könnte etwas Menschliches begegnen.«
»Ich komme heil zurück.«
»Eure Leute sind für dort oben Beistand genug.« »Ich gehöre zu meinen Leuten.«
»Ich flehe Euch an.«
»Etwas zu unterlassen, das ich nicht unterlassen darf?«
»Bleibt mir zuliebe!«
»Euch zuliebe –«
Sie sagte es seltsam ... Daß sie noch einmal gebeten wurde, einem Menschen etwas zuliebe zu tun! Alle ihre Liebe hatte nicht geholfen, daß ein Mensch ihr zuliebe keine Untreue gegen sie und sich selber beging. Und Untreue kam für sie einer Schandtat gleich.
Der Jüngling wiederholte dringender, inniger:
»Wollt mir zuliebe von dieser Gefahr zurückbleiben!«
Lange sah sie ihn schweigend an. Ihr Blick wurde weich. Aber dann gab sie ihm mit fester Stimme zur Antwort:
»Auch Euch zuliebe darf ich nicht unterlassen, meine Pflicht zu tun.«
Dann brach sie auf mit den Knechten und ihren treuen Hunden, bis zum Fuße der vereisten Königswände von den jammernden Mägden begleitet.
Der Schneefall war vorüber. Eine dichte Wolkenmasse umlagerte die Dolomiten nachtschwarz und undurchdringlich. Es wurde nicht Tag. Auf dem Hofe mußten Laternen und Leuchten angezündet werden und die Mägde verirrten sich auf dem kurzen Wege von den Stallungen zum Hause. Zu der unheimlichen Finsternis gesellte sich ein gespenstisches Schweigen, welches von Zeit zu Zeit der Donner abstürzender Lawinen unterbrach. Es knatterte und krachte in den Lüften so nahe vom Hofe, daß die Mauern erschüttert wurden.
Durch das Grausen des Unwetters drang der Hochwürdige hinauf. Ein Wunder, daß er vom Wege nicht abgewichen, nicht in einen Abgrund gestürzt war! Seine Weihe schien den Mann gefeit zu haben. Oder war es sein machtvoller Wille?
An seinem geistlichen Gewand, seinem Haupt und Haar hafteten die zu Eis erstarrten feuchten Nebel. Er glich einer Erscheinung, glich dem Berggeist, dem dämonischen König des wilden Alpengebiets. So stand er plötzlich in Judiths großem Gemach vor dem einzigen männlichen Bewohner des Hauses. Diesen herrschte er an: »Wo ist Judith?«
»Wen meint Ihr?«
»Unten vernahm ich, sie sei bei dem Schneefall hinaufgestiegen.«
»Sie ist nicht hier.«
»Also begab sie sich hinauf, befindet sie sich in Gefahr!«
Fast hätte Barbaro dem Priester ins Gesicht geschrien: »Was schert das Euch?« Plötzlich empfand er, daß er diesen Mann haßte – Judith zuliebe.
»Sie ist hinauf! Ohne Euch! Ihr könnt ihr nicht folgen! So wenig wie ich ihr folgen konnte in Todesgefahr.«
Es klang voll triumphierenden Hohns ... Im nächsten Augenblick war der Priester aus dem Zimmer verschwunden.
Er folgte ihr doch! Folgte ihr in Todesgefahr! Und Barbaro mußte zurückbleiben!
In dieser Nebelnacht den Weg hinauf zu finden, war jedoch selbst dem Moseswillen dieses Mannes unmöglich. Stundenlang tappte und tastete er an den Wänden hin, um an die Stelle zu gelangen, wo der Aufstieg begann. Wie eingemauert von den Nebeln irrte er durch den lichtlosen Raum; wie von einem Kerker umschlossen, daraus es keinen Ausweg gab. Er suchte bis zur Ermattung. Durch Zufall gelangte er nach dem Hof zurück.
Jetzt warteten die beiden zusammen auf Judiths Wiederkehr. Sie warteten auf die Nachricht, daß sie – nicht wiederkehrte ...
Unbeweglich die schwere schwarze Wolkendecke!
Die Harrenden hatten die Empfindung, sie müßten einen Hammer nehmen, um die gespenstische Wölbung zu sprengen, um aus dem Gefängnis sich zu befreien und sich zum Tageslicht hinaufzuarbeiten. Sie saßen in Judiths Gemach bei Judiths verstummten Vögeln einander gegenüber und schwiegen gleichfalls, lauschten auf die leblose Stille, starrten hinaus auf die geisterhafte Nebelwand, ob sie noch immer nicht wankte und wich?
Der Hochwürdige war es, der zuerst den Alpdruck des Schweigens nicht länger ertrug und ihn abwerfen mußte. Er war von Zeit zu Zelt aufgesprungen, an das Fenster geeilt oder hinausgestürzt. Jetzt wandte er sich an den Künstler und rief ihn an:
»Du, höre! Was geht's dich an, junger Mensch? Wie kommst du zu diesem Hangen und Bangen? Was hast du zu warten? Mit welchem Gesicht? Ich will dein Gesicht hier oben nicht länger sehen!«
»Ihr wollt nicht?«
»Da kommst du, der du hier nichts zu suchen hast, begibst dich in Gefahr, lässest dich von ihr retten und glaubst nun, ein Recht zu besitzen? Ein Recht worauf? Daß sie dich duldet in ihrem Hause? Nun ist's genug damit. Auch genug Duldung von mir ... Du hörst mich doch?«
»Seid Ihr in diesem Hause der Herr, um das Recht zu haben, mich auszuweisen?«
»Ich habe ein Recht, so zu sprechen.«
»Wodurch? Etwa durch Euer Gewand?«
»Auch durch dieses.«
»Seid Ihr der Seelsorger der Herrin des Hauses?«
Wiederum klangen die Worte des Fremden gleich Hohn, und wie peitschende Geißelhiebe empfand sie der Priester. Sein stolzer geschlagener Geist wand sich darunter. Er stieß hervor:
»Es genügt, daß ich hier berechtigt bin, so zu reden.«
»Ihr meint, Ihr fühlt Euch dazu berechtigt. Aus welchem Grunde Ihr Euch wohl dieses Recht zusprecht? Die Herrliche, die hier einzig und allein das Recht hat zu reden, würde es Euch nämlich nicht zuerkennen. Niemals! ... Fahrt nur auf. Ich weiß es.«
»Was wißt Ihr?«
»Soll ich's Euch ins Gesicht sagen?«
»Ich fragte, was Ihr wissen könnt? Ihr von mir!«
»Ich weiß von Euch, daß Ihr, um über die Seele dieser Frau Macht zu gewinnen, ein Verbrechen begehen würdet: Raub, Totschlag, Mord. Ich weiß von Euch, daß Ihr an nichts andres denkt, für nichts andres lebt als für das eine: ›Wie gewinnst du über sie Macht?‹ Und ich weiß von Euch, daß Ihr Euer geistliches Gelübde zu tausend Malen gebrochen habt; denn Ihr, der Priester, liebt diese Frau.«
Sein Geheimnis verraten! Diesem verhaßten Fremdling ausgeliefert! ... Selbst in der Beichte hatte er es nur unvollkommen bekannt; hatte er hinter Hüllen die Sünde verborgen. Sein ganzes Sinnen und Trachten der letzten Jahre war darauf gerichtet gewesen, die Wahrheit auch für seine eigenen Augen zu verschleiern, auch sich selbst zu belügen:
›Du hast die Liebe zu diesem Weibe bezwungen; hast jede Regung der Kreatur in dir erstickt. Was in dir glüht und brennt, was dich treibt und drängt, ist eine ganz andre Liebe als jene, die von der Erde ist. Eine Liebe ist's, die dich zusammen mit diesem Weibe von der Erde zum Himmel emporzieht,‹
So weit hatte er es in seiner Selbsttäuschung gebracht, daß er es der Gottheit abgeleugnet hätte, würde sie ihn angeklagt haben: ›Wie du selber ein Mensch bliebst, so blieb auch dein Menschliches in dir!‹ Und nun – plötzlich – – ein einziges Wort dieses Knaben hatte den Schleier zerrissen, die Selbstlüge erkennen lassen –
Nicht ganz vermochte er den Aufschrei zu ersticken. Wie ein Stöhnen aus tödlich verwundeter Seele kam es von seinen Lippen. Sein Arm hob sich, als wollte er den Schlag, den seine Seele empfing, dem Beleidiger in dessen Gesicht zurückgeben. Dann besann er sich auf sein Gewand, das er immer von neuem wieder vergaß. Sein Arm sank wie gelähmt herab. Er stand regungslos mit geschlossenen Augen, keuchendem Atem.
Voller Entsetzen blickte der Künstler auf den Priester, der vor seinen Augen mit einem Dämon rang. So hatte er es sich nicht vorgestellt! Nicht voll solcher Qual, solcher Verzweiflung. Was mußte dieser Mann gelitten haben! Ein Martyrium der Leidenschaft, dafür er, statt selig gesprochen zu werden, verdammt wurde. Den Jüngling wandelte bei diesem Einblick in die Abgründe der Menschenseele ein Grauen an. Wer wollte den Stein aufheben? Der Heiland hätte es nicht getan; aber des Heilands Kirche mußte es tun. Auf den der Todsünde des Gedankens schuldigen Priester mußte sie den Stein werfen. Sie waltete dabei lediglich ihres heiligen Amtes.
Zugleich mit dieser Erkenntnis ergriff Barbaro ein unsägliches Mitleid. Er mußte sich Gewalt antun, den von ihm tödlich Beleidigten nicht um Verzeihung zu bitten. Diese Empfindung verstärkte sich, als er sich von einer Stimme, die einem fremden Menschen anzugehören schien, aufgefordert hörte:
»Komm mit mir hinaus, junger Mann. Ich will zu Euch sprechen, wie ich bisher noch zu keinem Menschen sprach. Es soll meine Strafe sein für die Demütigung, die ich mir durch Euch zuzog. Aber nicht hier, nicht in ihrem Hause, sollt Ihr mich anhören.«
Ohne sich zu kümmern, ob er ihm folgte, schritt Pater Paulus zum Zimmer und zum Hause hinaus; schritt hinein in das Grausen der Nebelnacht. Barbaro ging ihm nach. Um die ragende Gestalt in dem dunklen Gewande in der Finsternis nicht zu verlieren, mußte er sich dicht neben ihr halten. Ein Geistergang war's.
Umwogt von den schwarzen Wellen der Dunstflut, die über ihnen zusammenschlug, schritten sie pfadlos, ziellos weiter und weiter. Hätte sich zu ihren Füßen ein Abgrund aufgetan, so wären sie unfehlbar hinabgestürzt, oder sie konnten ihr Haupt an einer Felswand zerschellen. Keiner hatte dessen acht. Und der Priester sprach zu dem Jüngling, wie er »zuvor noch zu keinem Menschen« gesprochen hatte:
»Es mag gut für Euch sein, einmal zu hören, welche Gewalten Macht über eine Seele gewinnen, welche Tiefen darin sich auftun, welche Finsternisse sie erfüllen. Die Elemente der Natur sind dagegen sanfte Geister, die Abgründe der Alpen und diese Dunkelheiten gefahrlos im Vergleich zu dem, was wir in uns tragen, in uns verstecken und begraben, bis auch für uns die Stunde schlägt, in der es in unsrer Seele aufersteht und aus uns hervorgeht, wie Ihr es bei mir in dieser Stunde erlebt ... Ihr hört mich doch?«
»Sprecht! Sprecht!«
»Auch Ihr wißt nicht, was keiner hier weiß, daß ich sie, der die Leute einen Königsnamen beilegten, seit meiner ersten Kindheit kenne. Oder sagte sie's Euch, verriet sie's Euch?«
»Nein ... Seit ihrer ersten Kindheit kennt Ihr sie?«
»Liebe ich sie.«
»Oh!«
»Ihr saht an ihrer Hand den Ring?«
»Er ist von Euch!«
»Ward ihr von mir mit heiligem Eidschwur gegeben. Heilig, obgleich ich damals noch ein unwissender Knabe war.«
»Ihr bracht Euren Schwur?« »Ja, ja!«
»Warum?«
»So frage ich mich seit der Stunde, in der ich es tat; so werde ich mich fragen bis zu meiner letzten Stunde: ›Warum? Warum?‹«
Tonlos kam es von des Jünglings Lippen: »Sie trägt Euren Ring noch, wird Euren Ring tragen bis zu ihrer letzten Stunde.«
»Die Treue, die ich ihr brach, hielt sie mir ... Begreift Ihr nun? Begreift Ihr?«
»Ich begreife sie. Aber ich begreife nicht Euch. Was wollt Ihr noch immer von ihr? Weshalb heftet Ihr Euch an ihr Leben? Verfolgt sie, martert sie? Denn das tut Ihr! Weshalb verwandelt Ihr ihre Liebe zu Euch in Haß?«
»In Haß? Sie haßt mich!«
»Das seht Ihr nicht, fühlt Ihr nicht?«
»Und Ihr fühlt es doch!«
Statt einer Antwort die Wiederholung der Frage: »Was wollt Ihr noch immer von ihr? Sie macht sich frei von Euch. Also laßt sie frei bleiben.«
Der Priester war stehen geblieben. Er näherte sein todblasses, von der Gewalt seiner Empfindungen entstelltes Gesicht dem des Venezianers, daß dieser wie vor etwas Grausigem zurückwich; flüsterte mit heiserer Stimme:
»Und Ihr fühlt, daß Judith Platter mich haßt ... Fühlt Ihr etwa auch, daß Ihr von Judith Platter geliebt werdet? ... Antwortet! Ihr sollt mir antworten!«
»Ich antworte Euch nicht.«
»Antwortet! Antwortet!«
»Nein.«
Schweigend standen sie sich gegenüber, von dem Nebelmeer wie von stygischer Welle umwogt ... Nach langer Weile hörte Barbaro die heisere Stimme von neuem flüstern:
»So will ich Euch antworten! ... Noch liebt sie Euch nicht. Aber – sie wird Euch lieben! Und sie wird Euch lieben, weil Ihr dem Jüngling gleicht, der ich einstmals war. Nur darum wird sie Euch lieben! Sie wird in Euch mich lieben, den sie hassen soll – wie Ihr zu behaupten wagt. Gut, gut, gut! Sei es so, werde es so: sie möge Euch lieben! Geht also nicht fort, bleibt. Der Tag wird kommen, an dem Ihr wissen werdet, weshalb ich Euch hier noch fernhin dulde. Euch liebend, wird sie in Schuld verfallen; und einmal schuldig geworden, wird sie – Doch das ist meine Sache! ... Judith Platter haßt mich; und Judith Platter wird Euch lieben; und ich werde sie – Meine, meine Sache! ... Noch einmal: es ist so gut, ist so am besten. Und jetzt – Ich sprach zu Euch und Ihr hörtet mich. Ihr wißt jetzt, daß es auch in eines Priesters geweihter Seele sternenlose Nächte, grimmige Stürme, bodenlose Abgründe gibt. Hebt auf den Stein; werft den Stein; trefft mein Herz. Gott wird es Euch nachtun. Denn auch Judith Platters Haß kommt über mich, wie meine Liebe über mich kommt. Sie wird jedoch ihren Haß zwingen; und dann – dann werdet Ihr sehen.«
Im nächsten Augenblick war die dunkle Gestalt von dem Künstler zurückgewichen; war sie in der Schwärze verschwunden, von den Nebeln wie verschlungen. Und wie die Stimme eines mit Wellen Kämpfenden, eines Ertrinkenden vernahm Barbaro aus der Ferne dumpf herüberklingend, als letztes Wort:
»Dann – «
Was sollte dann geschehen?
Während der Einsame mit seinen schwerbeweglichen Gliedern sich mühsam zum Hause zurücktastete, sann er unablässig über dieses geheimnisvolle prophetische, wie eine dunkle Drohung tönende »Dann« nach. Er fand nicht die Antwort, nicht die Lösung. Aber bei dieser Rückkehr in das Haus der geliebten Frau gab er sich selbst auf eine andre Frage die Erwiderung; bei der Finsternis seines Weges gelangte er in sich selber zur Klarheit, und plötzlich wußte er, was er zu tun hatte.
Als endlich, endlich die Nebelnacht zu weichen begann, wurde der Abtrieb der Herden vollführt; auf der Hochalm war das letzte Bündel Heu verfüttert, der letzte Laib Brot verzehrt worden. Jedes Stück Vieh brachten die Knechte unter Judiths und Martins Leitung unversehrt die verschneiten Pfade hinunter. Auf dem Hofe hatten sich viele Dolomitenleute eingefunden, um die verloren Geglaubten zu erwarten und ihnen einen festlichen Empfang zu bereiten. Der hochwürdige Herr vom Augustinerkloster befand sich jedoch nicht darunter. Judiths Mägde weinten, als sie die Herrin wiedersahen, die sie seltsam ernst grüßte. Martin berichtete:
»Ohne die Frau wären wir samt und sonders nicht wiedergekommen. Es war fürchterlich droben. Fast hätte der Schnee das Dach eingedrückt und der Sturm beim Abstieg uns hinuntergerissen. Aber sie half uns Sturm und Schnee bestehen – sie, die Königsfrau! Als etliche von uns beten wollten, anstatt zu helfen, die Herde und uns selbst am Leben zu erhalten, sagte sie: ›Betet ihr nur. Ich und Martin bringen die Tiere ohne euch glücklich hinab. Wer jetzt beten will, darf niemals mehr eine Hand für mich rühren. Gott hilft nicht den Betenden, sondern solchen, deren Gebet in der höchsten Not ihre höchste Kraft ist.‹ Da hättet ihr sehen sollen! Solange die Dolomiten stehen, ward solch Abstieg nicht vollführt, wird ein solcher niemals wieder vollführt werden.«
Judith trug Sorge für Menschen und Vieh. Die Knechte mußten Ruhetag halten. Sie bekamen Festgerichte vorgesetzt und lobende Worte zu hören, die ihnen aus dem Munde der Herrin mehr galten als die köstlichsten Feierspeisen. Wer aber keines Ausruhens zu bedürfen schien, war Judith. Und doch lag über ihrem ganzen Wesen etwas Schweres und Müdes, was ihr so fremd war, daß Barbaro sie mit heimlicher Scheu betrachtete. Mit keinem Wort fragte sie, ob während der Angsttage der Hochwürdige oben gewesen. Niemand sprach ihr von ihm. Sie hatte einen Blick und Ausdruck, der jedem verbot, nach überstandener Todesgefahr diesen Namen zu nennen.
Als das Gesinde sich zum Schlaf niederlegte, bot sie auch ihrem jungen Gast Gute Nacht. Er fragte sie:
»Liebe Frau, werdet Ihr Euch jetzt Ruhe gönnen?«
»Ich bleibe noch auf.«
»Schonung kennt Ihr wohl nicht?«
»Ich bedarf keiner Schonung.«
»Auch nicht für andre?«
»Für welche andre?«
»Für solche, die Euch lieben.«
Wiederum sprach sie ihm nach: »Die mich lieben ...«
Und wiederum mußte sie denken: ›Seltsam, daß es Menschen geben sollte, die mich lieben ... Menschen! Von einem Menschen geliebt zu werden, das wäre – Ich kann mir's nicht vorstellen. Eines Menschen Welt zu sein, sein Leben und Glück ... Davon einmal in der Jugend geträumt zu haben, allein das ist schon Glück. Ich war also einmal sehr glücklich ... Ich fürchte, dieser gute Jüngling könnte mich eines Tages lieb haben. Das darf nicht sein!‹
Und weil es nicht sein »durfte«, sagte sie ablehnend: »Ich will nicht geliebt werden. Von keinem! Geliebt zu werden, liegt nicht in meiner Natur; und der Mensch soll alles von sich weisen, was wider seine Natur ist. Ich weise die Liebe von mir, in welcher Gestalt sie auch an mich herantreten sollte. Aber sie wird in keiner Gestalt zu mir kommen.«
Da sagte er ihr leise:
»Ich liebe Euch. Und ich gehe fort von Euch. Gleich morgen. Ihr braucht mich also nicht von Euch zu weisen.«
Sie hörte seine leise stammelnde Stimme, und sie sah seinen todtraurigen Blick. Sie sah, wie er erbebte, als würde er von Fieberschauern erfaßt.
Also sie wurde geliebt! Auch sie! Von diesem Jüngling, der dem einstmals Geliebten gleichsah, als dieser noch jung und gut war. Sie wurde von seinem Ebenbilde geliebt – hoffnungslos.
Ein ungeheures Mitleid ergriff sie. Nicht nur mit dem hoffnungslos Liebenden, sondern auch mit sich selbst, weil sie ihn nicht wiederlieben konnte, weil sie ihn von sich weisen, ihn gehen lassen mußte – gleich morgen.
»Darf ich zu Euch sprechen? Es wird zum letztenmal im Leben sein.«
»Sprecht.«
Sie bedeutete ihm, sich zu setzen; denn er stand vor ihr und sie wußte, daß er noch immer Schmerzen litt.
Auch sie nahm Platz. Und sie mußte sich zwingen, nicht seine Hand zu fassen und in der ihren zu halten, solange er sprach. Seine Liebe zurückweisend, fühlte sie, daß sie ihn liebte, schwesterlich, mit keinem andern Wunsch, als seine Hand zu fassen und festzuhalten ...
In der Feierstille der Nacht sprach er zu ihr:
»Ich wußte nicht, daß es solche Frauen gibt wie Ihr, wollte von solchen Frauen nichts wissen, lachte, wenn ich einmal sagen hörte: ›Das ist eine Frau, über die hat die Sünde keine Gewalt.‹ Ein Unchrist, als der ich mich fühlte, malte ich Madonnen und Heilige. Und ich lachte auch, wenn ich sagen hörte: ›Barbaro Bossi ist der neue Fra Angelico! Mit solcher Inbrust, solchem Glauben malt er seine Kirchenbilder. Für einen Künstler wie er müssen die Frauen die Verkörperung alles Reinen und Himmlischen sein.‹
»Wenn sie, die so sprachen, gewußt hätten, nach welchen Vorbildern ich meine unbefleckten Jungfrauen und seligen Gestalten schuf! Wenn sie gewußt hätten –
»Da ist eine. Sie heißt Giulietta. Ihr Name klingt fast wie ein andrer Frauenname, den ich fortan aussprechen werde andächtigen Gemüts, als Gebet. Es sei ferne von mir, daß ich Euch von dieser Giulietta erzähle, von der Ihr glaubtet, sie sei meine Braut. Ich werde niemals eine Braut besitzen, weil ich mir von diesem Weibe Lippen und Seele wund küssen ließ und danach Euch kennen lernte.
»Daß dies geschah, ist mein größtes Glück. Mein Schicksal ist's. Über meinem ganzen Leben, all meinem Denken und Tun, wird fortan Euer Antlitz schweben, wie ich es von Euch in meiner Seele mit mir davontrage. Euer Antlitz über mir und in mir, werde ich durch meine Liebe zu Euch ein Geweihter sein. Als solcher werde ich in Zukunft Werke schaffen, meiner Liebe zu Euch würdig. Sollte daher einmal ein wahrer Künstler aus mir werden, was Ihr einen wahren Künstler nennen würdet, so ist es Euer Werk. Und Euer Werk wird gesegnet sein wie alles, was von Euch kommt.
»Das mußte ich Euch zum Abschied sagen. Vielleicht, daß die Erinnerung an die Seelenrettung, die Ihr an mir – an dem in einen Abgrund Gestürzten – vollzogen habt, Euch wohltun könnte in Stunden des Leidens. Denn möglicherweise werdet auch Ihr noch vieles leiden müssen auf dieser wunderschönen Welt voll Menschenjammers.«
»Geliebte Frau – lebt wohl!«
Er stand auf, trat zu ihr, wollte sich tief vor ihr neigen und sank dabei auf seine Knie. Da umfaßte sie ihn mit beiden Armen, zog sein Haupt an ihre Brust, daran keines Mannes Haupt geruht hatte, und gab ihm den Abschiedskuß.
Auf den Mund küßte sie ihn. Nach einiger Zeit kam aus der Lagunenstadt von Barbaro Bossi Botschaft. Sie war jedoch nicht an Judith gerichtet, sondern an den hochwürdigen Superior des Augustinerklosters und bestand nicht in Worten, sondern in der Sendung eines Gemäldes.
Es war die heilige Barbara des Palma Vecchio aus Santa Maria Formosa zu Venedig ... Als Kirchenbild war das Gemälde bestimmt, über dem Altar zur Anbetung für die ganze Gemeinde der Dolomitenleute.
Aber der hochwürdige Herr gönnte keinem andern, vor der herrlichen Heiligen Andacht zu halten; einzig und allein er wollte vor Santa Barbara knien, beten, seine Hände aufheben; und einzig und allein sein Gott wußte, mit welcher Inbrunst, welcher Seelenqual, welchem Trost in hoffnungslosem Leid.
Oder – wußte es auch der Künstler, und hatte er deshalb die heilige Barbara in die Wildnis der Dolomiten gesendet?