Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Zweiter Teil

Pater Paulus

Erstes Kapitel

Vom Judithlein, welches inzwischen eine Judith geworden

Judith Platter schritt durch den sprießenden Frühling, der das graue Haus des alten Geschlechts im »grünen, grünen Vahrn« am Eingang des Schalderertals mit einem Knospen und Blühen ohne Ende umglänzte. Von ihrem Gefolge – es hatte das Judithlein zu einer Märchenkönigin gemacht – war nur noch der Reiher übriggeblieben, und der war alt und flügellahm geworden. Zwar begleitete er die Herrin noch auf allen ihren Wegen. Aber nur mühsam, mit müdem Flügelschlag, hob er sich in die Lüfte, um adlergleich über dem Haupt der dunkelgewandeten Frauengestalt zu kreisen; und wenn er neben der stark und schnell Ausschreitenden einherflatterte, hatte der alte Herr etwas von der steifen Grandezza eines im Dienste seiner Fürstin ergrauten Kavaliers.

Kein Judithlein mehr, sondern eine Judith, schritt die Herrin des Platterhofs an dem glanzvollen Lenzmorgen aus ihrem Hause. Sie war höher gewachsen als die andern Jungfrauen des gesegneten Brixener Tals, darunter sich überaus stattliche Gestalten befanden. Keine jedoch kam dieser jungen Tochter des ehrwürdigen Patriziergeschlechts gleich, weder an Ebenmaß der Glieder und Haltung, noch an Schönheit und Ausdruck der Züge.

Judith Platters Schönheit war von einer seltsam herben, nahezu strengen Art, als hätten ihre dunklen Augen frühzeitig in des Lebens schattenvolle Tiefen geschaut, in Menschenschicksale und Menschenseelen, in der Dinge unerbittliche Wirklichkeiten. So glich sie denn in ihrem Wesen mehr einer jungen Frau voller Erfahrungen und Erkenntnisse, als einem von des Daseins Bitternissen noch unberührten Geschöpf, das sie ihren Jahren nach hätte sein müssen.

Unbedeckten Hauptes, wie es so ihre Gewohnheit war, schritt sie über die Plattform der Terrasse, stieg die Stufen hinab unter die Wipfel der Edelkastanien, die den altertümlichen Edelsitz wie einen feierlichen Hain umgaben und die jetzt ein leichter, schimmernder Schleier umwob; entlockten Frühlingssonne und Lenzluft den grauen Ästen der alten Riesen doch erst jetzt ein spätes schüchternes Sprießen, während sich ringsum die Welt bereits mit frischem Grün und bunten Blüten bedeckt hatte.

Judith brauchte nicht erst auf den schmalen Goldreif an ihrer rechten Hand zu sehen, um bei der Frühlingspracht eines Entfernten zu gedenken:

›Wie mag es in Rom sein, wenn es dort Frühling wird? Keine Maienwonne wie bei uns. Nur wo der Winter lang und hart ist, nur wo der Mensch leidenschaftlich nach neuem Lenz und Leben sich sehnt, kommt er gleich einem Erlöser von Eisesbanden und einem himmlischen Freudenspender ... Rom! Es soll eine heilige Stadt sein und es macht Abtrünnige, Treulose, Verräter. Ihn, den ich nicht vergessen kann, hat Rom sogar gegen sich selbst treulos und abtrünnig gemacht. Denn es ist nicht wahr, daß er aus heiliger Sohnesliebe Geistlicher und Mönch ward. Etwas andres gewann in der Tiberstadt Gewalt über ihn ... Was? Ich will darüber nicht nachdenken, muß es trotzdem und finde es nicht.‹

Darüber nachdenkend und es nicht findend, nahmen ihre ernsthaften Augen jenen Ausdruck an, den alle, die sie gut kannten, an ihr scheuten. Es war, als stiege aus ihrer Seele etwas in ihren Blick auf: etwas Dunkles und Unheilvolles. Auch um ihren Mund, der weich und schwellend war, das einzige Liebliche an diesem herben Frauenwesen, legte sich ein harter, fast feindseliger Zug, als erstickte sie ein verächtliches Wort. Ein solches aussprechen zu müssen, wäre für sie bittrer gewesen, als wenn sie zu einem einstmals geliebten Menschen gesagt hätte: »Ich hasse dich!« Judith Platter war eine zu kraftvolle, zu gesunde Natur, um mit einem großen Leid nicht fertig zu werden, und es wäre auch ein Leid gewesen, das zu ihrem Leben geworden war. Aber in ihrer Natur lag zugleich, daß sie nicht vergessen konnte – nicht vergessen wollte. Nur schwache Menschen wollen vergessen und nur solche vermögen es. Wie sie den unansehnlichen Goldreif am Finger behielt, wollte sie ihre herrliche Jugendliebe im Herzen behalten. Das war nun einmal so ihre Art. Wenn der Junker Rochus für sie auch gleich einem Gestorbenen war – er hatte sich selbst für Judith Platter getötet –, so blieb er doch in ihrer Seele lebendig, die die Qualen der Erinnerung nicht fürchtete, wie die matten Gemüter zu tun pflegen. So geschah es, daß ihr ganzes Leben mit allem Denken, Empfinden und auch Handeln gleich einem Gemälde von einem Hintergrund sich abhob, der ihre Kindheit und erste Jugend, ihre erste Freundschaft und Liebe war. Dieser Hintergrund erschien jedoch nicht etwa als einförmig dunkle Wolkenwand; es war vielmehr eine Tafel, überflutet von Goldglanz:

›Wie schön und stolz er war, wenn er auf seinem Falben angesprengt kam, um mich zu grüßen. Ein Königssohn könnte nicht stolzer sein. Die Wipfel unsrer Kastanien wölbten sich über ihm wie eine Kuppel aus Smaragd, und die roten Orchideen breiteten einen Purpurteppich zu seinen Füßen ... Nie wieder kommt er geritten; nie wieder schaut er den Frühlingsglanz in seiner Heimat. Und würde ich durch Jahre hier stehen und auf ihn warten – er käme nicht. Den Kuckuck höre ich jeden Mai rufen; doch seine helle Stimme ist für immer verklungen. Und sie war für mich wie Frühlingsgesang.‹

Judith durchschritt mit ihrem gefiederten Gefährten die feierliche Waldung, gelangte an den Rand eines von dunklen Erlen und lichten Birken eingefaßten Baches und über einen Steg an das jenseitige Ufer. Hier wandte sie sich dem Ursprung des Bergwassers zu und stieg auf schmalem Pfade eine tannenbewachsene steile Lehne empor, begleitet von dem geschwätzigen Rauschen des Wildbachs. Blaßblaue Veilchen, gelbe Primeln und weiße Anemonen schmückten die durch die Waldesschwärze schimmernde frischgrüne Wiese, die auf der andern Seite des Baches den sonnenbeschienenen Berg sich hinanzog. Finken übten ihre Lieder ein, mit denen sie auf fröhliche Freite ausziehen wollten, und eine Amsel flötete in so süßen Tönen, als wollte sie zeigen, die Welt bedürfe der Nachtigall nicht, um schmelzende Sehnsuchtsweisen zu hören. Aber von den Bergen des Schalderertals herüber kreiste hoch in den Lüften eine Weihe und stieß von Zeit zu Zeit einen gellenden Ruf aus, den Schrei des beutegierigen Räubers, der sein Opfer sieht.

Mit dem bedächtigen Schritt des Alpenkindes stieg das junge Mädchen durch den Tann aufwärts, ließ den Bach hinter sich und wurde fortan nur noch von dem Wipfelrauschen, dieser die Seele einwiegenden mystischen Musik des Waldes, begleitet.

Kundigen Augs musterte Judith den Stand des noch jungen Forstes. Er befand sich in bester Ordnung. Das üppig wuchernde Unterholz und alles Dürre war sorglich entfernt, sämtliche krüppelhaften Stämme unerbittlich geschlagen, damit die gesunden sich kräftig entwickeln konnten. Man mußte weit wandern, um einen ähnlichen Waldbestand zu finden, die Staatsforsten nicht ausgeschlossen. Und alles hatte der starke Wille des jungen Frauenwesens vollbracht, das keinen andern Lehrmeister kannte als den eigenen verständigen Sinn.

Durch die Dämmerung der freien Höhe zustrebend, folgten der Herrin des Platterhofs ihre Gedanken, die gleichfalls nach oben drängten, lichten Gipfeln zu: ›Arbeit. Es ist doch das Höchste im Leben! Arbeit vom Morgen bis zum Abend; Arbeit jahraus, jahrein; Arbeit voller Sorgen und Schweiß. Denn nur solche ist gesegnete Arbeit; um so gesegneter, je mühevoller sie ist. Arbeit als Lebensfreude, als Lebensglück – das einzige Glück, das der Mensch sich selbst geben kann ... Hier habe ich des Glücks nicht genug; denn ich habe hier nicht genug Arbeit.‹

Unwillkürlich hob sie ihr Haupt. Sie gewahrte ein verdorrtes Tännlein, das der Waldhüter übersehen hatte; ging hin; faßte den dürren Stamm; riß ihn mit einem starken Ruck aus dem Boden; warf ihn jedoch nicht fort, sondern führte des Waldes toten Sohn als Stecken mit sich, um ihn an geeigneter Stelle einen steinigen Abhang hinunterzuschleudern.

Nun erreichte sie die Höhe. Ein Schritt und sie trat auf eine von prachtvollen Lärchen umschlossene kreisförmige Halde, von der aus der Blick weit hinschweifte über das Brixener Tal, über die Plose und die Berge von Albeins bis zu den weißen wilden Geislerspitzen hinüber.

Der steile Weg hatte Judith so wenig angestrengt, daß sie nicht tiefer Atem holte, als wäre sie auf ebener Landstraße gegangen. Wenn sie jetzt stehen blieb, so geschah es nicht, um auszuruhen, sondern um sich der weiten Umschau zu freuen:

›Stünde der Platterhof nicht bereits seit drei Jahrhunderten an seinem festen Platz, würde ich ihn hier oben aufführen lassen. Ein Hausen in der Höhe ist doch etwas andres, als in der dumpfen Tiefe zu sitzen; das ganze Leben wird dadurch in die Höhe gehoben. Was tut es, wenn hier oben die Stürme wilder toben, das Tagewerk mühsamer ist? Ich will damit schon fertig werden!‹

Wer sie gesehen hätte, wie sie schlank und stark auf der hohen Waldwiese stand, der hätte sich diese Frauengestalt nicht in Tiefen und Engen vorstellen können; Judith Platter gehörte auf Gipfel, umbraust von Alpenstürmen, denen sie widerstand, die sie nicht umwarfen ...

Mit hellem Blick schaute sie jetzt hinab auf das große Landschaftsbild zu ihren Füßen, auf das vom Eisack durchflutete frühlingsgrüne Tal mit der vieltürmigen ehrwürdigen Bischofsstadt Brixen. An den Abhängen über noch winterlichen Weinbergen lagen von schwärzlichen Tannen und lichten Lärchen umstandene Höfe mit weißen Mauern und grauen Schindeldächern; lagen, überragt von spitzigen, himmelan weisenden Kirchtürmen, einsame Dörfer, häufig noch in Höhen, wo Wald und Wiese ihr Ende erreichten. Das Bild von Tal und Berg abschließend, durchschnitt den Äther die gewaltige Kette der Dolomiten mit unzugänglichen kahlen Schroffen und Spitzen, mit Zinken und Zacken, die sich in den Himmel zu bohren schienen, eine prachtvolle, eine furchtbare Felsenwelt, in einem Glanz erstrahlend, als würde sie von einem mystischen Feuer durchglüht.

Von der schönen Halde aus auf die leuchtenden Gipfel schauend, kam Judith ihr Kindertraum in den Sinn: auf unwirtlichen Höhen in Wildnissen ein Stück Kulturland zu schaffen, aus eigenem Willen, eigener Kraft.

Auch heute lächelte sie nicht über die Phantastik des Gedankens; selbst heute noch erschien ihr eine Erfüllung desselben gar köstlich. Sie dachte daran, wie empört Junker Rochus darüber gewesen war und daß er sie deshalb fast verachtet hatte: die letzte Platterin wollte den Hof der Platter verlassen, das Alte und Ehrwürdige mit Neuem und Gleichgültigem vertauschen, wollte sich selbst treulos werden!

Nun hatte sie das Alte als Herrin verwaltet, hatte geordnet und gebessert, bis es nichts mehr zu ordnen und zu bessern gab. Sie, das Mädchen und die Bürgerin, hatte gearbeitet, hatte geschafft und gewirkt, indessen der Mann, der Edle, gebetet, gefastet und gebüßt hatte. Er lebte für den Himmel und die Ewigkeit – sie für die Erde und die Zeitlichkeit. Mit jedem Herzschlag war sie Judith Platter geblieben, während er – Pater Paulus geworden.

Ihr Blick wollte die Stätte meiden; dennoch schaute sie hin, zu Schloß Enna hinüber.

Grade noch konnte sie es von ihrem hohen Standpunkt aus erblicken: dort, wo das Brixener Tal sich engte und bei der Waldschlucht eine Bergkulisse sich vorschob. In der Talsohle sowohl wie auf den Höhen schmückten Edelsitze und Schlösser das reiche Land; viele mit Türmen und Zinnen gleich Festungen und alle mit einer Vergangenheit, die in des Landes Geschichte verzeichnet stand. Aber keine dieser alten stolzen Herrenburgen zwischen Mühlbach und der Klosterstadt Klausen glich an Schönheit der Lage und Ehrwürdigkeit seines Baues dem Stammsitze der Grafen von Enna, deren Jüngster in Rom betete, statt seine Hände zu rühren. Und wie jung und stark sie waren, Hände, geschaffen zur Arbeit! Zu einer Lebensarbeit voller Mühen, aber zugleich voller Kraft. Wenn sie dann abends von einem schweren, einem köstlichen Tagewerk ausruhten, so hätten andre Hände nach ihnen sich ausgestreckt um sie zu fassen und zu halten, bis der Tod von einem mühseligen, einem durch seine Mühsal gesegneten Tagewerk die fest verbundenen leise, leise löste ...

Als sie von der Besichtigung des Forstes auf den Hof zurückkehrte, kam ihr die Schließerin entgegen mit der Meldung, von Schloß Enna sei ein Bote geschickt worden, sie möge sogleich kommen!

Sie fragte: »War es der alte Florian?«

»Einer von den jungen Knechten war's.« »Und er sagte?«

»Der gnädige Herr Graf lasse die Jungfer Platterin bitten, sogleich auf das Schloß zu kommen.«

»Weshalb?«

»Das wußte der Mann nicht. Aber –«

»Aber was?«

»Auf Schloß Enna muß etwas geschehen sein.«

Auf Schloß Enna etwas geschehen ... Und der Graf von Enna schickte nach ihr. Das war seit langem nicht vorgekommen. Judith Platter hatte sich von dem Grafen von Enna abgewendet: die Bürgerin von den Adelsleuten. Seit der Untreue des einen Grafen von Enna gegen sich selbst wollte sie mit der ganzen Sippe nichts mehr zu schaffen haben. Sie konnte jedoch nicht verhindern, daß sie bei dem bloßen Klange des wohllautenden Namens ein heißes Erbeben fühlte. Heute nun rief man sie hin.

Was war geschehen? Etwas Wichtiges, Großes. Nichts Freudiges. Auf Schloß Enna konnte etwas Frohes sich nicht mehr begeben, seitdem des Hauses jüngster und liebster Sohn nach Rom gewallfahrtet und in Rom geblieben war – seitdem der alte einsame Mann der Rückkehr des andern Sohnes harrte, in dem das edle Geschlecht fortleben sollte. Der Älteste, jetzt Einzige des Stammes, befand sich noch immer in Wien, war noch immer unvermählt, scheute die Rückkehr in seiner Väter Haus, das inzwischen mehr und mehr zur Ruine ward. Und wie das Haus, so der ganze Besitz. Dieser Älteste und Einzige war am Kaiserhofe zu Wien ein gar glänzender Kavalier, der Schulden über Schulden machte, infolgedessen von dem schlecht verwalteten väterlichen Eigentum jedes Jahr ein Acker um den andern, eine Flur, eine Waldparzelle um die andre verkauft werden mußte, damit der Älteste und Einzige ein glänzender Kavalier sein konnte. Wie verächtlich das war! Aus voller Seele verachtete Judith Platter solch vornehmes Wesen. Junker Rochus hatte es verächtlich gefunden, daß sie ihr väterliches Erbe hingeben wollte, um durch den Erlös etwas Junges und Zukünftiges zu schaffen, und dieser Erbe seines Stammes verpraßte Haus und Gut.

Jetzt wurde sie in Eile nach Schloß Enna gerufen – Was wollte man dort von ihr? Was hatte sie dort noch zu tun? Sollte sie etwa helfen und retten? Sollte die Herrin des Platterhofs vielleicht Herrin von Schloß Enna werden? Weil es der Älteste und Einzige bis auf den letzten Acker in der lustigen Donaustadt verjubelt hatte? Deshalb berief man sie plötzlich, dazu brauchte man sie jetzt.

Sie erkundigte sich nochmals bei der Schließerin: »Ich soll wirklich sogleich kommen?«

»So schnell Ihr kommen könnt.«

»Und der Bote sagte kein Wort?«

»Er sagte, es müsse ein Unglück geschehen sein.«

»Dem alten Herrn?«

»Nein.«

Wenn es das wäre! Ein Unglück geschehen in Rom mit dem Jüngsten und einstmals Liebsten? Wenn Rochus von Enna in Rom gestorben wäre? ... Rochus von Enna war gestorben. Gestorben für die Welt; gestorben für sein Geschlecht; gestorben für die Geliebte, die Braut. Wenn man in Rom den längst Gestorbenen jetzt begraben hätte, wie man andre Tote begrub? Wenn sie sich ihn fortan als stillen, stummen Mann vorstellen durfte, mit ewig regungslosen Händen, ewig geschlossenen Lippen ... Solcher Tod mußte schön sein! An dem Grabe eines geliebten Menschen trauern zu dürfen, war Trost und Glück im Vergleich zu dem Jammer um einen Gestorbenen, den man in seiner Seele zu Grabe tragen mußte ...

»Sogleich soll der Fuchs eingespannt werden!«

Dem Befehl war anzuhören, wie widerwillig er erteilt ward. Sie hatte dabei einen Zug um die Lippen, der diesen jungen weichen Frauenmund nahezu hart erscheinen ließ.

Während die Schließerin nach der Stallung eilte, begab sich Judith ins Haus, um für die Fahrt sich zu richten, als ob sie bei Fremden einen Besuch abstatten wollte. Zu dem grauen Kleide aus einem seidig schimmernden festen Stoff setzte sie den breitrandigen Florentiner Strohhut auf, der vollkommen unverziert war. Wie anders hatte sie in andern Zeiten diesen Weg angetreten: über Brixen, den rauschenden Eisack hinab, bis sie den stumpfen Turm, der mit braunrotem Ziegeldach den Gipfeln des Schloßbodens entstieg, voll verhaltenen Jubels grüßte.

Judith ging in den Garten, der in üppigster Frühlingspracht prangte, und pflückte einen mächtigen Strauß weißer Narzissen, weißen Flieders und weißer Schwertlilien:

›Die Blumen bringe ich seiner Mutter. Sollten sie ihn in Rom begraben haben, kann ich keinen Kranz auf sein Grab legen. Seine Mutter mag ihm sagen: Judith Platter legte für dich aus ihrem Garten einen weißen Frühling auf mein Grab ... Morgen ist der fünfzehnte Mai. Sein Geburtstag! Vielleicht wird er gerade morgen zu Grabe getragen.‹

Sie fühlte ihre Glieder plötzlich schwer von der Frühlingsluft, darin Wehen des Südwindes war, des Windes von Rom her! Müden Schrittes ging sie zu dem leichten Gefährt, davor der junge Fuchs ungeduldig den Boden stampfte, die Herrin mit freudigem Wiehern grüßend. Fast wäre sie, die Starke und Aufrechte, mit ihrer Blumenlast einen Augenblick stehen geblieben, um eine plötzliche Schwäche zu besiegen:

›Vielleicht wird er grade morgen zu Grabe getragen –‹

Und sie stand da, an ihrem Finger seinen Ring, den keine Hand abstreifen, in ihrem Herzen seine Treulosigkeit, die nichts sie vergessen machen konnte. Und im Herzen ihre Liebe, die nichts zu töten vermochte; die noch gewaltiger, noch herrlicher in ihr aufleben würde, wenn sie ihn in Rom zu Grabe getragen ...

Behutsam, fast zärtlich, legte sie die Blumen in den kleinen Tiroler Wagen, der fest genug gebaut war, um die Tiroler Straßen ertragen zu können; stieg auf; ließ sich die Zügel reichen, wies den Knecht ab: »Ich brauche dich heut' nicht.«

Sie erteilte für Haus und Wirtschaft noch einige Befehle, falls sie vor Nachtanbruch nicht zurück sein sollte, und fuhr dann fort, eine kurze Strecke von ihrem Hofmarschall begleitet. Aber der in ihrem Dienste ergraute würdige Herr hatte steife Beine und seine Flügel trugen diesen Segler der Lüfte auch nicht mehr recht.

Judith fuhr durch den Kastanienwald, um dessen Wipfel der Lenz goldige Schleier webte, dessen Grasboden in dem Purpur der Orchideen erglühte – genau so wie es Frühling um Frühling war, wie es Frühling um Frühling sein würde, während die Geschlechter, die auf dem Sitz der Platter hausten, daselbst lebten, arbeiteten, starben, um neuem Leben, neuer Arbeit, neuem Sterben Raum zu geben. Wenn Judith Platter nicht Ehefrau und Mutter einer jungen Generation ward, fiel alles, was sie zurückließ, weit entfernten, nie gesehenen Verwandten zu, die sie nichts angingen. Schon deshalb sollte der Hof in Hände gelangen, deren Tatkraft und Arbeitsfreudigkeit sie kannte. Sie wollte sich danach umtun. Und das bald; das schon jetzt.

Indessen ihre Gedanken mit dem Ziele und der Ursache ihrer Fahrt beschäftigt waren, hielt sie Umschau in ihrem Eigentum, kein Versinken in Sorge und Vergessen ihrer Herrinpflichten sich gestattend: ›Die Marillenbäume stehen gut in Blüte. Wenn kein Nachtfrost mehr kommt, werden sie prächtig Frucht ansetzen. Die Pflanzung anzulegen, war damals klug von mir. Freilich wollte ich gar nicht klug sein, sondern nur Nutzen schaffen. Für Klugheit besitze ich nicht die geringste Begabung. Das schadet nichts. Die klugen Leute im Tal machen mir jetzt meine Pflanzung nach, selbst die Schloßherren. Nur nicht der Graf von Enna. Ihm erscheint solch neues Wesen seines alten Namens nicht würdig. Dem Manne ist eben nicht zu helfen. Das Alte und Morsche, das nicht das Neue und Kraftvolle will und tut, mag in Gottes Namen in sich selber verfallen, sich auflösen, zugrunde gehen ... Kürzlich hat wieder ein welscher Bauer einen Maisacker vom Schloßgut angekauft und darauf ein Haus errichtet. Wir selbst bringen unser schönes Land Tirol an unsre schlimmsten Feinde; denn das sind die Leute von dort unten. Meinen Platterhof muß ein Tiroler von echter rechter Art bekommen. Lieber deutsch als mit nur einem welschen Blutstropfen in den Adern! Der eine Blutstropfen kann für uns noch einmal zur blutigen Sündflut werden, darin ganz Tirol versinkt... Und er blieb in Rom!‹

Da war ihr Gemüt wiederum bei dem einen Punkt angelangt, um den ihre stolze Seele kreiste wie der Königsadler um den Gipfel des Schlern.

In Brixen wurde die junge Herrin vom Platterhof viel gegrüßt: mehr achtungsvoll als vertraulich. Viele blieben stehen, schauten dem schmucken Gefährt und seiner Lenkerin wohlgefällig nach, stellten die Betrachtungen an:

»Weshalb sie wohl immer noch einspännig durchs Leben fährt? Als ob sie nicht auch jung wäre und ein Herz in der Brust hätte, genau wie andre Frauenzimmer. Unter den Besten brauchte sie nur zu wählen: unter Männern, die unsre Edelfräulein nicht abweisen würden. Aber der Platterin scheint keiner gut genug. Sauber ist sie und tüchtig wie keine Zweite im Lande; aber auch wie keine Zweite hochmütig und streng.«

So oft Judith durch Brixen fuhr – sie tat es nur notgedrungen und nur einige Male des Jahres – mied sie den Gasthof zum »Elefanten«. Lieber machte sie einen Umweg durch die von steinernen Laubengängen eingefaßten engen Gassen der altertümlichen, frommen Stadt, wo alle sie kannten und wo sie sich doch fremd fühlte. Fremd wollte sie bleiben. Mit jedem Jahr empfand sie mehr und mehr, wie wenig Gemeinsames sie mit den Menschen besaß. Selbst mit ihren Landsleuten. Es jagte sie förmlich aus dem fruchtbaren, reich bevölkerten Tale in die Einsamkeiten der Höhen hinauf.

Jetzt ging die Fahrt wiederum längs des Eisacks hin, über eine Brücke, die einem Stege glich, durch graue Dörfer, an hochgiebligen Edelsitzen vorüber; dann grüßte sie mit Blick und Seele, was für sie nicht mehr auf der Welt sein sollte und doch einen Teil ihrer Welt ausmachte. Unterhalb des Schloßbodens hielt sie den Fuchs an. Sie schlang die Leine um eine Esche, nahm die Blumen aus dem Wagen und stieg einen Pfad hinauf, der durch ein nachtdunkles Gewölbe von Wipfeln und Zweigen zu der Kapelle und den Grüften der Grafen von Enna führte.

Bevor sie im Schlosse vernahm, weshalb sie so eilig gerufen ward, wollte sie den beiden Toten ihre Blüten bringen; galt ihr Gang doch auch dem Sohn seiner Mutter.

Als sei an der offenen Gruft die junge gute Frühlingsgöttin vorübergegangen, still gestanden und für einen Augenblick eingetreten, um von ihrer Fülle auch den Toten abzugeben, erschien Judith Platter in dem dämmerigen Raum. Sie schritt zu dem Stein am Boden, darunter eine müde Seele zur Ruhe gebettet wurde, und ließ aus ihren Armen die duftende lichte Last niedergleiten – niedergleiten auf eine hingesunkene dunkle Gestalt.

Wie zu Boden gestreckt lag der Mönch auf dem weißen Marmor, wie auf einen Toten fielen Judiths Blumen auf den Regungslosen herab, auf den Sohn, der zur Mutter zurückkehrte.

Da er sein Gesicht auf den Grabstein preßte, konnte sie ihm nicht ins Gesicht sehen. Um zu wissen, wen sie mit ihren Blumen zudeckte, bedurfte es jedoch nicht erst des Anblicks seiner Züge. Sie stieß keinen Schrei aus, tat keinen Laut. Aber als sie sich bewegen wollte, um sogleich wieder zu gehen, konnte sie kein Glied rühren. Sie blieb regungslos wie der Sohn auf dem Grabe seiner Mutter, der sich von ihren Blumen einhüllen ließ, ohne eine Bewegung zu tun, ohne es überhaupt zu empfinden – so sehr war seine Seele bei der Toten.

Sie stand neben ihm; blickte auf ihn herab; würde ihr Leben dafür gegeben haben, hätte sie sich zu ihm herabbeugen, ihn mit beiden Armen – ihren starken Armen! – umfassen und emporziehen können, um sein Haupt an ihre Brust, an ihr Herz zu legen, voller Schwesterliebe: »Ruhe aus, du von deinem verfehlten Leben Todmüder! Hier ist dein Platz, um zu ruhen.«

Ihr Leben würde sie dafür gegeben haben, hätte sie sich zu ihm niederwerfen und neben ihm daliegen können, selbst einer Toten gleich, mit ihm zusammen gestorben, im Tode mit ihm vereint.

Sie konnte nicht, durfte nicht! Regen mußte sie sich; sich abwenden von ihm, der von ihr sich abgewendet hatte. Sie mußte davonschreiten, hinaus, ohne stehen zu bleiben und zurück zu schauen; nicht mit einem einzigen Blick! Aber jetzt –

Plötzlich regte er sich wie im Traum; wie im Traum sprach er ...

Sie mußte fort! Nicht einen Augenblick länger durfte sie bleiben! Sie durfte nicht mitanhören, was ein Sohn seiner Mutter sagte: dieser Sohn dieser Mutter.

Sie wollte fliehen und sie blieb.

Was rief er jetzt ... Einen Namen? Seiner Mutter Namen? ... Wie ein Verzweifelnder, von seinem Gott Verlassener, seinem Gott Ausgestoßener schrie der Priester auf dem Grabe seiner Mutter den Namen zu der Toten hinab: immerfort nur den einen Namen:

»Judith! Judith! Judith"«

Ihr Name von diesen Lippen mit dem Aufschrei eines Sterbenden gerufen, gab Judith die Kraft, ihrer Entgeisterung sich zu entreißen. Mit einem Gesicht, weiß wie die Blumen, die sie gebracht hatte, entfernte sie sich.


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