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Rom, im Kloster des heiligen Augustinus auf dem Aventin am 15. Mai 18..
Unter verschiedenen Dingen, die mein persönliches Eigentum sind, sandte mir mein Vater aus Schloß Enna auch dieses Buch, das Geschenk meiner seligen Mutter.
Heute, an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, öffne ich es wieder. Seit acht Jahren zum erstenmal – Als ich vor acht Jahren zu Ostern mit der Tiroler Pilgerschar nach Rom ging, nahm ich das Buch nicht mit mir. War ich doch des festen Glaubens, ich würde rechtzeitig zurück sein, um auf der Plose den Hahn balzen zu hören.
Weshalb hätte ich also das Heft mitführen sollen auf der Wallfahrt zu dem Grabe des Apostelfürsten? Aufzuschreiben hätte ich – so glaubte ich damals – ja doch nichts darüber.
Denn was galt mir Rom?
Aber ich bin nach Schloß Enna nicht zurückgekehrt; ich habe mein schönes Heimatland Tirol nicht wiedergesehen. Den wilden Eisack hörte ich seither nicht mehr rauschen. Mein Falber trägt keinen Junker Rochus mehr über die Fluren des Brixener Tals, die grünen Hänge nach Vahrn hinauf. Meine Rüden kennen den Herrn nicht mehr, wenn sie noch am Leben sein sollten, was ich nicht weiß, wonach ich nicht frage.
Ich bin in Rom geblieben.
Geistlich bin ich in Rom geworden.
Meiner toten Mutter zuliebe.
Damit sie aus den Qualen des Fegefeuers erlöst werde.
Weshalb sie die Wallfahrt zum blutenden Herzen der süßen Gottesmutter getan; weshalb sie in dem kleinen Dolomitenheiligtum die Kerze angezündet; weshalb sie in dem Schneesturm der grausen Herbstnacht ihr Leben gelassen hat – ich habe es für sie zu Rom erfüllt.
Damit ich den heißen Wunsch ihres Mutterherzens erfüllen konnte, mußte sie sterben, mußte ich meiner toten Mutter zuliebe nach Rom wallfahrten; mußte in Rom das Große an mir sich vollziehen:
Die Erkenntnis meiner Sohnespflicht.
Da mir mein Vater zu meinem Geburtstag, der zugleich der Tag meiner Priesterweihe ist, dieses Buch gewissermaßen als kostbares Vermächtnis meiner verstorbenen Mutter sandte, so will ich in dem Buche weiterschreiben.
Ich werde fortan größere Dinge zu berichten haben als die Leiden und Freuden eines wilden Junkers und unverständigen Knaben. Obgleich alles weit hinter mir liegt; obgleich alles von mit längst abgetan ward und ich ein andrer, ganz neuer Mensch geworden bin: ein stärkerer, seines Ziels sich bewußter Mensch, so empfinde ich doch den Gegensatz zwischen damals und heute. Ich empfinde ihn mit stiller Verwunderung, mit einer Art dumpfen Staunens. Es ist ein Staunen darüber, daß es mit mir so hat kommen können. Bisweilen habe ich Stunden, in denen es mich packt – nicht Schmerz, Trauer und Reue; wohl aber Zorn, Ingrimm, Wut. Dann kämpfe ich mit meinem früheren Selbst wie mit einem Todfeind. Als stünde ich hoch droben auf dem Gipfel des Schlern am Rand des Abgrunds, so kämpfe ich mit meinem Ich von damals. Ich halte es umklammert, versuche es niederzuwerfen, versuche es in die bodenlose Tiefe zu schleudern ...
Bisweilen droht mein Ich von heute von dem andern bezwungen zu werden. Bisweilen fühle ich mich ermatten, unterliegen. Alsdann werde ich wie rasend. Einen Aufschrei erstickend, bohre ich die Zähne in mein eigenes Fleisch. Aber immer wieder gelingt es mir, über meinen früheren Menschen zu siegen, diesen gewaltsam niederzuzwingen. An dem Abgrund, in den hinab ich mein vergangenes Selbst warf, stehe ich alsdann wie an einem offenen Grabe und triumphiere über meinen eigenen Untergang.
Wenn andre junge Geistliche, die der Welt entsagen müssen, derartige Kämpfe zu bestehen haben, so nehmen sie ihre Zuflucht zu den gewaltigen Hilfsmitteln der Kirche: zu Gebet und Fasten, zu Bußgürtel und Geißelstrang.
Solche Sünder vor dem Herrn haben es leicht.
Ich mache es mir schwer. Nur durch mich selbst darf ich mir Hilfe verschaffen gegen mich selbst.
Und so kämpfe ich denn.
Jeden Tag meines Lebens empfinde ich den Unterschied von damals und heute. Meine Tage haben viele Stunden, da ein Kleriker auch zur Nachtzeit dem Herrn dienen, wachen und beten muß. Und jede wache Stunde fühle ich mich vergehen vor Heimweh und Sehnsucht. Jede Stunde muß ich kämpfen.
Anders ist es geworden. Ich brauche vom Schreiben nur aufzublicken, um zu sehen, wie anders es ward. Anstatt meines hohen, freien Turmgemachs auf Schloß Enna eine Klosterzelle; anstatt des fröhlichen Durcheinanders von Dingen, die ein reitender, vogelstellender, jagender Junker braucht, die spärlichen Gerätschaften eines Geistlichen.
Auch zu Hause, auf Schloß Enna, lernte ich beten und Knie beugen. Was jedoch damals fromme Gewohnheit war, wurde nun Lebensberuf.
Wenn ich weiter Umschau halte; wenn ich zwischen den kahlen Mauern, deren einziger Schmuck ein großes schwarzes Kruzifix ist, mich selber erblicke in dem feierlichen Gewande Sankt Augustins; wenn ich mein Haupt befühle – fort ist das dichte Lockengewirr! Mit aszetischer Kunst ist mein Haar säuberlich zu einem Kranz geschoren, der ein kleines kahles Rund umschließt: die Tonsur.
Mein Haupt eine Tonsur! Und mein Haupt ist noch immer so jung...
Oft in den Stunden grimmigen Kämpfens und Leidens fasse ich mit beiden Händen nach meinem noch immer so jungen Haupte, als müßte ich etwas herabreißen, das mich blutiger drückt als eine Dornenkrone, das auf mir zermalmender lastet als ein Felsenstück.
Und es ist doch nur eine kleine kahle Stelle auf meinem noch immer so jungen Haupt!
Ich habe eine sonderbare Gewohnheit angenommen. Jedem jungen Kleriker spähe ich ins Gesicht, darin nach der Veränderung suchend, die mit dem jungen Antlitz sich allmählich vollzieht, auf jede Veränderung wartend, jede Veränderung belauernd. Denn unweigerlich verändern sich die Züge des werdenden Gottesmannes – unerbittlich.
Bereits im Kloster Neustift und in der Bischofsstadt Brixen begann ich auf die Wandlung der Züge eines jungen Geistlichen zu achten. Sie kam allmählich, kaum merklich; aber – sie kam. Ich sah junge Gesichter, auf denen das Leben seinen Sang von Glauben, von Hoffnung und Lebensfreude gedichtet, unter meinen erschrockenen Knabenaugen sich verändern; sah die Inschrift glückseliger Jugend allmählich, kaum merklich, blaß und immer blasser werden; sah sie schwinden, verlöschen. Lachende, in Jugendkraft und Jugendlust leuchtende Angesichter wurden bleich unter den brechenden Augen des gekreuzigten Heilands, wurden traurig und trostlos, bekamen einen Zug von Aszese, der sie verzerrte, entstellte – unweigerlich, unerbittlich.
Nicht die Tonsur ist das Mal, welches uns zeichnet, sondern es ist jener mystische Zug in unsern lebendigen Menschengesichtern. Er stempelt uns zu Gottesdienern, welche die Welt, die sie verachten sollen, zu beherrschen streben.
Ob auch in meinem Antlitz die Veränderung bereits begann?
In dem kleinen Spiegelscherben, den ich besitze, spähe ich in mein Gesicht. Ich warte, lauere darauf, daß die Veränderung auch auf meinem Gesicht sich zeige – unweigerlich, unerbittlich. Mir scheint, als dauere es bei mir länger als bei andern; als vollzöge sich bei mir die Wandlung langsamer und weniger merklich. Es scheint mir, als wäre in meinem Gesicht immer noch etwas, das der Erde angehört, das Leben vom Leben ist. Immer noch trage ich mein Haupt hoch. Mein Blick ist noch immer undemütig; mein Gang noch immer zu aufrecht und zu wenig priesterlich.
Wenn ich beten will, murmeln meine Lippen oft Worte, die den Himmel nicht anrufen; wenn ich meine Hand nach Rosenkranz und Brevier ausstrecke, macht sie oft eine Bewegung, als ob sie nach etwas anderm, ganz anderm, greifen wollte.
Wenn ich in meiner Zelle – wie ist sie doch so eng! – an das Fenster trete, so ist das Bild vor mir nicht weniger verschieden von dem meiner Heimat, als mein geschlechtloses, feierliches Mönchsgewand von meinem junkerlichen Jagdkleid verschieden ist. Ist es denn nur möglich, daß dort oben, am Fuß der Alpen, der junge wilde Eisack immer noch an Schloß Enna vorüberrauscht; daß in Tirol Plose und Schlern immer noch gegen den Himmel aufragen; daß im Schaldererbach die Forellen immer noch hin und her schießen und auf den Alpenwiesen der Auerhahn balzt?
Ist es denn nur möglich, daß in dem grünen, grünen Vahrn auf dem Platterhof –
Aber diesen Namen schreibe ich nicht.
Was erblicke ich von dem Fenster meiner Zelle aus durch das Eisengitter, welches mich von der Welt scheidet, als wäre ich, der ich der Freieste der Freien war, ein Gefangener?
Ich sehe Kirchen und Klöster auf dem Berge Aventin; ich sehe antike Ruinen. Immer wieder Ruinen! Zwischen Kirchen und Klöstern und Ruinen trauern Einsamkeit, Verlassenheit, Wildnis. Die Paläste, die Basiliken, die Landhäuser und Prachtbauten der Heiden sanken zu Schutt, wurden Trümmer; die Kirchen und Klöster erhoben sich. Ihrer wurden mehr und mehr und mehr. Aus den schwarzen Gründen der Erde, aus dem großen Reiche des Todes stiegen sie empor.
Ringsum: unter dem ganzen Berg Aventin, unter allen angrenzenden Gebieten der Campagna ziehen sich die Katakomben der ersten Christen hin.
Von unsrer Klosterkirche aus führt ein schmaler Gang in die Tiefe. Wenn der alte Rochus in mir wieder aufleben will, so gehe ich, zünde eine Wachskerze an, öffne die schmale Pforte, steige hinunter – tiefer, immer tiefer.
Nichts als Gräber! Zu beiden Seiten des schmalen Ganges in der braunen Tufferde lauter Begrabene: Grab neben Grab. Die Gänge sind endlos. Sie kreuzen sich, verwirren sich. Drei Totenreiche liegen übereinander, und jedes hat die Ausdehnung von Meilen. Ich wandere, wandere, wandere. Tote christliche Bischöfe, tote christliche Märtyrer! Mein Wachslicht brennt trübe in der dicken Luft. Es flackert. Sein zuckender Schein fällt auf alle die Zeichen des frühesten Christentums, fällt auf Inschriften und Namen. Oft droht der schwache Schimmer zu verlöschen. Wenn ich meine Kerze einmal ausgehen ließe, wenn ich das Zündlicht fortwürfe ... Oder wenn ich in dem schauervollen Labyrinth mich verlöre ... Ich würde im Dunkeln wandern und wandern, irren und irren unter all den Legionen von Toten, bis ich zu Tode ermattet hinsänke. Dann würde ich einen Namen rufen. Ich würde diesen Namen so lange rufen, als meine Stimme noch einen Laut hat. Mit sterbender Stimme würde ich immer nur den einen Namen rufen. Es ist nicht dein geheiligter Name, du mein Heiland und Herr; nicht der deine, o süße Gottesgebärerin. Es ist auch nicht der Name meiner lieben Mutter, derentwillen ich wurde, was ich bin. Der Name ist es, den auszusprechen für mich Todsünde wäre; denn ich würde ihn nur rufen können mit lautem Jauchzen und lautem Jammer, mit inbrünstiger Liebe und inbrünstiger Leidenschaft. Nein! Nur als Sterbender darf ich deinen Namen nennen, du Geliebte meiner glückseligen Jugendzeit.
Aber wie konnte es nur geschehen, daß ich von meiner österlichen Pilgerfahrt vor Jahren und Jahren nicht zurückkehrte nach Schloß Enna, ins Brixener Tal und nach dem Platterhof in den grünen, grünen Vahrn? Wie konnte es selbst meiner toten Mutter zuliebe kommen, wie es gekommen ist?
Also vor sieben Jahren zur heiligen Osterzeit bin ich mit vielen Landsleuten aus dem Brixener Tal nach Rom gewallfahrtet meiner toten Mutter zuliebe. Wohl sämtliche Pilger waren viel frommere Christen und daher bessere Menschen als meines Vaters jüngster Sohn. Wohl viele gingen nach Rom, ohne gleich beim Fortziehen sehnsuchtsvoll einer baldigen Rückkehr zu gedenken, und alle trieb ein heißer Wunsch vorwärts, der Stadt des Apostelfürsten zu. Der eine mochte schwere Schuld zu sühnen haben, der andre wollte im Petersdom ein Gelübde leisten. Aber jeder trachtete danach, sein beladenes Herz in Rom mit dem Hauche des Himmlischen zu erfüllen und seine Seele von der Gottheit emporziehen zu lassen. Ich allein kam als rechtes Kind der Welt, welches ich auch für alle Zeit zu bleiben gedachte.
Nach frommer Pilgerweise wurde unterwegs laut gebetet und psalmiert. Ich tat, wie alle taten; mein Herz wußte jedoch wenig davon. Es schlug zu jung und zu heiß in der Brust, und meine Augen hatten zu viel zu schauen und zu bestaunen; denn – wie groß war die Welt, an Herrlichkeiten reich! Vollends war sie das, als wir weiter vordrangen in das glückselige Italien hinein. Da erschien mir die Erde als ein einziger mit Blumen geschmückter, von Klängen durchrauschter, unendlicher Festsaal, und die Menschen nur geschaffen, um sich in heller Lust des Lebens zu freuen. Immerfort zu jubeln und zu jubilieren deuchte mich daher christlicher, als fromme Hymnen abzusingen. Schön war für mich auch die Vorstellung, daß mein liebes Heimatland Tirol mit seinen stolzen Alpen, seinen grünen Wäldern und blumigen Fluren gleich einem bekränzten, gewaltigen Wächter vor dem Felsentore stand, durch das es in das Sonnenland führte, Einlaß gewährend oder verweigernd. Das lombardische Gartenland durchziehend, schaute ich häufig rückwärts, wo die Alpen als mächtige Mauer aufstiegen; und ich grüßte hinüber, wo Heimat und Vaterhaus lagen, mit allem, was ich besaß und liebte. Jetzt ist meine Heimat die Welt, mein Vaterhaus die Kirche Christi; und meine Liebe darf allein dem angehören, was nicht von dieser Erde ist ...
Gleich bei meinem Eintritt in Italien fiel mir eines auf: waren die Ortschaften, durch die wir zogen, auch noch so armselig, so war doch das Haus des Herrn ein hochragender Palast. Das Machtvolle, Triumphierende, Herrschende der Kirche stand für mich, der ich eine Herrenseele in mir trug, an dem Himmel Italiens gleich einem leuchtenden Zeichen; es schien geradewegs nach Rom zu führen, wo der demütige Vertreter Christi als weltlicher Machthaber thronte.
Wir langten an.
Kaum angelangt, ergriff es meine Seele wie ein Rausch, wie ein Taumel. »Ich bin die Herrscherin, die Königin, die Majestät auf Erden« – predigten Roms Steine. »Ich mache meine armseligen Knechte zu Herren, meine demütigsten Diener zu Fürsten«, rief es mir aus der Pracht der Basiliken und den Himmeln der Dome, dem goldenen Glanz der Altäre tausendstimmig mit Posaunentönen entgegen. Bischöfe und Prälaten schienen die Bürgerschaft von Rom, Priester und Mönche Roms Plebs zu sein. In schimmernden Prunkwagen durchfuhren die Kardinäle die Stadt. Als ich den Papst sah auf seinen Umzügen zu den sieben großen Pilgerkirchen, verstand ich plötzlich die Worte von der »triumphierenden« Kirche. Aber am gewaltigsten offenbarte sich mir die Macht und Herrlichkeit der Kirche, als ich das alte Rom durchwanderte: Forum und Kolosseum; als ich die Ruinen der untergegangenen Welt bestaunte, die das Christentum in Trümmer zerschlagen und zu Staub zermalmt hatte.
Gleich bei unsrer Ankunft in Rom wurden wir Leute aus dem Eisacktale getrennt. Rom wimmelte von Pilgerscharen aus aller Herren Länder, so daß es in den Herbergen, wie viele ihrer auch waren, keine Unterkunft gab und die Wallfahrer in Klöstern und bei einzelnen Geistlichen untergebracht werden mußten. Letzteres geschah auch mir, und war es mir wohl vom Himmel bestimmt, so daß ich mich dagegen nicht auflehnen durfte. Es Zufall zu schelten, käme daher einer Lästerung des höchsten Willens gleich: göttliche Fügung war es, Vorsehung.
Der Mann, dem ich als Gast zugeteilt wurde, und der Großes an mir vollbringen sollte, war ein deutscher Priester, hieß Sebastian Schwarz und wohnte, wie man mir sagte, jenseits vom Tiberfluß. Name und Wohnung standen auf einem Zettel verzeichnet. Diesen gab man mir und ließ mich sodann meinen Weg selbst suchen.
Ganz Junker Rochus, also ganz frohe, starke Jugend, stürzte ich mich in das Gewühl der Stadt Pius' IX. Mir war zumute, als bade sich meine siebzehnjährige Seele in Hoffnung und Tatendrang, die nun einmal des Menschen Leben sind. Dabei hielt ich meine Augen weit offen. Das tat freilich not; denn Rom war kein kleines Tiroler Städtlein, und ich mußte von Rom alles schauen, um zu Hause davon erzählen zu können: in Schloß Enna und – auf dem Platterhof!
In prachtvollen Karossen fuhren an mir die vornehmen Römerinnen vorüber. Sie waren sehr schön. Und schön waren viele Frauen und Töchter von Bürgern und sonst aus dem Volk, die mir zu Fuß begegneten. Die meisten hatten etwas überaus Stolzes, schritten einher, als ob sie Königinnen wären. Ich schaute allen keck ins Gesicht, weil ich sehen wollte, ob unter allen eine wäre, so schön wie die Herrin vom Platterhof. Es war jedoch keine wie sie. Im Brixener Tal gibt es genug Welsche. Wir Tiroler mögen sie nicht leiden; aber wir nehmen sie zu Knechten, weil sie geringeren Lohn fordern als unser Volk und weil sie nicht solche Fresser und Säufer sind. Den geringeren Lohn sparen sie mühselig zusammen; und mancher sitzt jetzt als Herr auf dem Hofe, wo er einst gedient hat. Mein Vater sagte oft, Tirol würde noch einmal welsches Land, ohne daß es den Fremden einen Schwertstreich und eine Kugel zu kosten brauchte. Freilich sind wir Söhne vom Kaiserland Österreich jetzt die Herren der Meereskönigin Venetia und des schönen Trento. Also wird mein kluger Vater wohl falsch prophezeit haben.
Durch die vielen Welschen in Tirol – auf dem Platterhof wird keiner geduldet – wußte ich schon als Kind einiges von ihrer Sprache, so daß ich mich jetzt in Rom ganz gut durchfragen konnte. Man sagte mir, ich sollte dorthin gehen, wohin das größte Gewühl drängte, sei es von Fußgängern oder von Wagen. Der Menschenstrom würde mich zuerst nach dem Flusse führen, alsdann über den Fluß und weiter bis zum Petersplatz und dem Vatikan. Ganz nahe von beiden Orten würde ich den Mann finden, den ich suchte. Jedes Kind könnte mich von dort zu ihm weisen. Wie mir geraten war, so tat ich; trieb wohlgemut mit den lebendigen Fluten meinem Schicksal entgegen, schaute voll frohen Staunens zugleich auf Menschen und Dinge, bei jedem denkend: ›Was würde Judith dazu sagen? Wäre doch Judith hier! Du mußt wiederkommen – mit Judith!‹
Nun habe ich doch den Namen ausgesprochen ... Da mein Herz an jedem Tage, zu jeder Stunde ihn ruft, ihn aufschreit, so mag er auch auf diesem Papier, in dem Buche meiner schmerzensreichen Mutter gerufen werden – aufgeschrieen. Ich habe den Namen in meinem Herzen so heilig gemacht, daß ich ihn im Gebet an die allerheiligste Jungfrau nennen und mich dabei reinen Herzens fühlen könnte.
Judith beständig in meiner Seele und an meiner Seite fühlend, durchschritt ich Rom. Ich kam an den Tiberstrom, von dem ich schon als Knabe vernommen hatte, als ich in der Klosterschule zu Neustift den Livius las. Der Fluß der alten Römer hätte mir Ehrfurcht einflößen sollen, all der großen Taten und Ereignisse wegen, die sich an seinen Ufern zugetragen hatten; aber – mein grüner, wilder Eisack ist tausendmal schöner als dieses gelbe, lehmige Wasser. Das nämliche meint auch Judith. Deutlich höre ich sie sagen, sie fände den Tiber abscheulich.
Sieh doch, Judith! Der gewaltige runde Turm dort ist kein Turm und keine Festung, sondern ein Grab, ein Kaisergrab, Judith! Nicht wahr – das ist stolz? Und du und ich, wir lieben alles, was stolz ist. Ich liebe dich, Judith, die du eine Königsseele hast; und du liebst mich, Judith, der ich meine stolze Seele einzig vor Gott beuge, meiner toten Mutter zuliebe. Du freilich würdest dein Gemüt nicht vor dem Herrn demütigen können, Menschen zuliebe. Ich kenne dich!
Was habe ich geschrieben? Daß ich dich liebe ... Wie durfte ich das schreiben in meinem Mönchsgewande? Dich zu lieben, ist Todsünde. Auch wollte ich schreiben: »Ich habe dich geliebt! » Und du – ich weiß es – du verachtest mich! Du verachtest mich, weil ich dich nicht mehr lieben darf; weil ich mich mit Leib und Seele dem Herrn ergab; weil ich dieses heilige Gewand anzog. Nicht einmal, weshalb ich es tat, kann deine Verachtung mildern. Ich kenne dich, Judith, ach Judith!
Dann sah ich den Petersdom und das Haus des heiligen Vaters ... Hadrian war ein großer Kaiser. Sein Grab am Tiber ist wie ein Felsenberg. Aber der Apostel Petrus, der zu Rom gekreuzigt ward, hat ein Grab, dreimal gewaltiger als die Imperatorengruft am Tiberstrand. Armselig erscheint das herrliche Heidentum neben dem, was von Nazareth aus über die Welt kam; und der Vatikan ist ein Herrscherschloß, wie es auf Erden kein zweites gibt.
»Herrschen, herrschen, herrschen!«
Schon damals, als ich das erstemal auf den Petersplatz trat, fühlte ich die Herrschermacht der katholischen Kirche als eine Macht von oben herab; und es ist mir jetzt oft zu Sinn, als ob ich nicht meiner toten Mutter zuliebe Geistlicher geworden wäre, sondern weil meine Herrschernatur ... Aber das läßt sich nicht ausdenken. Es würde auch eine zehnfach ärgere Sünde wider den heiligen Geist sein, als meine Liebe zu einem jungen, schönen und stolzen Weibe, welches meiner voller Verachtung gedenkt. Denn, Judith – mich vergessen kannst du nicht ...
Man hatte mir gesagt, jedes Kind könnte mich zu dem hochwürdigen Herrn Sebastian Schwarz weisen. Es mußte also ein in ganz Rom bekannter und angesehener Mann sein. Ein solcher schien mir für den Junker Rochus auf Schloß Enna in Rom grade der richtige Wirt. Um zu seiner Wohnung zu gelangen, mußte ich über den Petersplatz gehen und linker Hand durch den gewaltigen Säulengang. Gleich goldbraunen Felswänden stiegen die Mauern der Kirche neben mir auf, bis zu einer Höhe, daß ich meinen Kopf in den Nacken werfen mußte, um emporzuschauen. Dann erst merkte ich, wie seltsam das war: aus dem Gewühle und Getöse war ich plötzlich in tiefe Einsamkeit und Stille geraten. Rechts das St. Petersgemäuer, links kleine Kirchen und Häuser und ansteigende Gärten und große Waldungen von Pfirsichbäumen. Diese standen in voller Blüte, so daß rosige Haine in den Himmel aufstiegen, der so blau und strahlend war, wie ich zuvor nie etwas so Blaues und Strahlendes gesehen hatte. In den Gärten herrschte ein bunter Wirrwarr von Rosen, Schwertlilien und vielen andern Blumen, die es bei uns erst zur Sommerszeit gibt. Heißer Sonnenschein brannte auf mich herab. Alles leuchtete, daß mich die Augen schmerzten. Die Straße, die ich schritt, und die kleinen Plätze vor den kleinen Kirchen und Häusern waren dicht mit Gras bewachsen, daß darauf eine Herde hätte werden können; und in dem tiefen Schweigen tönte aus den Gärten das Summen der Insekten herüber. Es war Klosterstille und Klosterfrieden. Beides ist bisweilen gleich Grabesruhe.
Ich sah jedoch kein Kind, welches ich hätte fragen können, wo der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz wohnte. Keine Seele sah ich um die heiße Mittagszeit in dieser verwunschenen Stadt. Alsdann fand ich den kleinen grasgrünen Platz, der auf meinem Zettel aufgeschrieben stand. Es befand sich hier ein einziges Häuslein. Goldgelb angestrichen, lag es inmitten von bunten Blumen und rosigen Blütenbäumen, durch deren schimmernde Zweige schwarze Amseln schlüpften. Die lieben Vögel flöteten mir Willkommen entgegen.
So süß singen die Amseln im Schloßgarten von Enna. Aber bei uns singen sie erst im Mai.
Alle Fenster des kleinen Hauses standen weit offen, die Tür war geschlossen. Ein eiserner Klopfer war daran befestigt, den ich kräftig bewegte. In einem der Fenster erschien die Gestalt eines geistlichen Herrn. Der Hochwürdige sah ganz anders aus, als ich mir vorgestellt hatte. Höchst unscheinbar, klein und schmal wie ein Schulknabe mit einem alten, verwelkten Gesicht. Ich hielt meinen Zettel zu ihm in die Höhe, nahm meinen Tiroler Hut ab und rief hinauf, ich hieße Rochus von Enna, käme aus dem Eisacktale und sollte bei ihm wohnen. –
»Warten Sie, die Cristina wird Ihnen gleich öffnen.«
Damit verschwand der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz von dem Fenster, und ich wartete in dem heißen Mittagsschwelgen auf die Cristina. Mir gegenüber die Felsenwand der Peterskirche im Sonnenschein wie ein goldener Berg strahlend; vor mir das kleine gelbe Haus; gegenüber blühende Pfirsiche, rote und weiße Rosen und blaue Schwertlilien.
Plötzlich begann hoch in Lüften ein Hallen, ein Klingen, ein Brausen von metallenen Tönen, als ob sämtliche Kirchenglocken der Christenheit in eine gewaltige Schallwoge zusammenflössen, die von St. Peter her als eine Sturmflut von Klängen sich ergoß. Die Gewalt der feierlichen Töne hätte mich fast zu Boden gezogen, nieder auf meine Knie, wo ich damals doch noch der lustige Junker war.
In diesem Augenblick wurde die Tür des kleinen gelben Hauses aufgetan. Eine alte Frau mit blassem, feinem Gesicht öffnete mir, sah mich aus hellen, sanften Augen forschend an, nickte mir darauf liebreich zu und sagte mit einer zarten Stimme:
»Sei benvenuto, figlio mio!«
Die Frau, die mich so mütterlich grüßte, glich meiner toten Mutter ...
Als ich über die Schwelle in das stille Haus schritt, überlief es mich. Es war das Schicksal, welches meine Seele anhauchte, diese Jünglingsseele, die mit allen Fasern an Gottes schöner Erde und ihren Geschöpfen hing, daran angekettet war, gleichsam angeschmiedet, und die von der Erde losgerissen und dem Himmel zugeführt werden sollte.
Losgerissen von dir, Judith, o Judith l
Ohne mich waren die Rompilger aus dem Eisacktale in die Heimat zurückgekehrt. Der hochwürdige Herr Sebastian hatte an meinen Vater geschrieben und den Herrn von Schloß Enna gebeten: ›Er möge seinen jüngsten Sohn für eine kleine Weile bei ihm lassen – nur für eine kleine Weile! Rom und die katholisch-christliche Kirche wirkten mächtig auf seinen jüngsten Sohn! Es käme schier einem Wunder gleich. Binnen einer kleinen Weile würde es sich entscheiden, ob der Himmel mit seinem Sohne Großes vorhätte. Auf diese himmlische Entscheidung wollte man warten – bitten wollte man, daß sie erfolgte: zu seines Sohnes ewigem Heil und Gottes Ruhm.‹
Dem Schreiben des hochwürdigen Herrn Sebastian Schwarz an meinen Vater fügte ich ein Brieflein bei:
»Auf der Plose möge der Auerhahn balzen, ohne daß Junker Rochus seinen Liebesgesang durch eine gut gezielte Kugel beende; mein Falber möge auf den Eisackwiesen das junge Gras sich schmecken lassen, ohne daß sein Herr ihm den schlanken Rücken drücke; meine Rüden mögen den Weg nach Vahrn und zum Platterhofe ohne mich finden und das Judithlein von mir grüßen: ich bliebe noch für eine kurze Weile in Rom – nur noch für eine kurze Weile! Rom sei eine gar zu wundersame Stadt. Rom sei das wundersamste auf Erden. Davon könne ich mich nicht so schnell trennen. In Rom verkünden selbst die Steine die Größe, die Herrlichkeit und Allmacht der Kirche. Fern von der lieben Heimat fühle ich in Rom die Grenzen der Welt zu eng, um sie zu meiner Heimat zu machen; getrennt von meinem guten Vater fühle ich meine tote Mutter leben in meinem Herzen; getrennt von meiner allerliebsten Judith fühle ich die süße Madonna mir zulächeln. Aber – im Sommer käme ich nach Schloß Enna zurück! Spätestens im Sommer, wenn auf dem Platterhofe die Stockrosen blühen, die Himbeeren reifen, die Kastanien dichten Schatten spenden. Dann wird meines Falben gute Futterzeit aus sein; dann können meine Rüden unter freudigem Geheul zu dem Reiter aufspringen; dann ziehe ich mit Judith auf die Almen zum Besuch ihrer Herden; dann willkommen Heimat, willkommen Land Tirol!
Du einziges, du wundersames Rom, wenn ich zu dir wiederkehre, bringe ich Judith mit und Judith ist mein! Dann ziehen zwei Glückliche ein in die ewige Stadt, um den Petersdom zu grüßen. Einstweilen grüße ich das Judithlein und dieses soll mich wiedergrüßen lassen ...
So schrieb ich aus Rom und dem Hause des hochwürdigen Herrn Sebastian Schwarz an meinen Vater. Dieser schrieb zurück: »Er gäbe mir bis zum Sommer Urlaub. Aber dann bedürfe er meiner; denn seit dem Tode meiner Mutter sei es einsam geworden auf Schloß Enna« ... Vom Judithlein kein Wort. Nicht ein einziges Wort, geschweige denn einen Gruß ...
Der Abend ging zu Ende. Im weiten, wilden Lande, welches rings um die Tore Roms sich erstreckt, weinte ich in tiefer Einsamkeit bittere Tränen, weil das Judithlein mich nicht hatte grüßen lassen.
Noch nach sieben Jahren weinte ich ... Ich fahre fort zu schreiben.
In der Osterwoche war ich vor lauter Schauen und Staunen gar nicht zu mir selbst gekommen. Schauer der Ehrfurcht hatten mich ergriffen. Gibt es etwas Unfaßlicheres, Größeres, Höheres; etwas Mystischeres, Heiligeres als Ostern in Rom! Es versetzte mich in einen Zustand, als hätte ich einen Zaubertrunk geschlürft.
Den Papst hatte ich das erstemal auf seinem Zuge nach den sieben heiligen Kirchen gesehen. Ein Heer von Kardinalen und Bischöfen hatte ihn begleitet, und eine wahre Völkerschaft von Prälaten, Diakonen und Geistlichen aller Kongregationen befand sich in seinem Gefolge. Wohin er kam, sank die Menge auf die Knie wie gewaltsam niedergezogen. Er spendete seinen apostolischen Segen und erschien mir in Wahrheit als ein Gottgesalbter und Stellvertreter Christi auf Erden. Auch das ergriff mich mächtig, daß er in Gold gehüllt dahinwandelte, daß sein Gewand strahlte von Perlen und Edelsteinen, daß sein Haupt die dreifache Krone trug und daß sein war die irdische Macht und Herrlichkeit...
Aber erst, als die Wunder der heiligen Osterzeit an meiner Seele vorübergerauscht waren; als meine Landsleute ohne mich Rom verlassen hatten; als ich in dem kleinen gelben, von einer Blumenwildnis umblühten Hause gegenüber den Mauermassen von St. Peter allein zurückgeblieben war – dann erst sollte die tiefste Erschütterung über mich kommen. Demütig und armselig war mir, dem menschenunkundigen und weltfremden Knaben, der hochwürdige Herr Sebastian Schwarz zuerst erschienen. In meinem Jugendübermut und meiner Jünglingskraft hatte ich mich zuerst über ihn erhaben gedünkt, auf die schmächtige, verkümmerte Gestalt mit dem Mitleid des Starken herabblickend. Dabei besaß er solche leise, fast frauenhafte Art, die mich heimlich lächeln machte. Ich merkte wohl, daß er mich beständig beobachtete, um zu ergründen, wes Geistes Kind er unter seinem frommen Dache beherberge; und ich dachte: »Beobachte du nur, sieh mich nur an! So bin ich! Ich bin der wilde Junker Rochus, der das Judithlein vom Platterhof lieb hat; und das mehr als sein Leben. Ich habe vor dir nichts zu verheimlichen und zu verbergen. Und wie ich bin, so bleibe ich. Basta!«
Mit leiser, feiner Stimme sprach er zu mir. Er ließ sich von mir erzählen, von meiner Heimat, meinen Eltern, vom grünen Vahrn. Jawohl – auch von dem Platterhof und dem Judithlein! Zuerst wollte ich ihm nichts sagen, zuletzt sagte ich ihm alles. Ich wollte nicht und mußte doch. Wenn er mit seiner leisen, feinen Stimme nach diesem und jenem fragte und mich dabei mit seinen sanften, stillen Blicken ansah, so mußte ich.
Jetzt weiß ich, daß dieser demütige und armselige Priester eine Gewalt über die Herzen der Menschen besitzt, die wie ein Zauber wirkt; ich weiß, daß er die Herzen der Menschen sich unterwirft; daß er eine große, heiße Seele, eine Herrschernatur hat, wie ich selbst sie in meinem tiefsten Innern fühle.
Der demütige, armselige Priester stand vor mir als neuer Mensch. Sein Gesicht blieb blaß und unbeweglich; aber aus seinen Augen brach eine Glut, als wäre in seiner Seele ein heiliges Feuer entzündet worden. Aus seiner flammenden Seele schlug die Lohe über in die meine. Und er sagte mir: Es wäre meiner Mutter sehnlichster Wunsch gewesen, daß ihr jüngster Sohn Geistlicher werde. Damit der Himmel ihren sehnlichsten Wunsch erfüllte, hätte sie die Wallfahrt zu dem blutenden Herzen der Mutter Gottes in dem hohen Dolomitentale gemacht. Dabei wäre sie zugrunde gegangen. Ohne letztes Sakrament, ohne ein letztes Vergeben ihrer Sünden, wäre sie eines jähen Todes gestorben. Meiner verstorbenen Mutter Seele brannte im Fegfeuer und – sie brannte meinetwillen! Alle Messen, die wir für ihre Seele hatten lesen lassen, löschten die Flammen nicht, die ihre Seele verzehrten ...
Meiner toten Mutter zuliebe war ich nach Rom gewallfahrtet. Das war jedoch nicht genug. Auch ihres Sohnes Romwallfahrt löschte die Flammen nicht.
Mit fanatischer Glut in seinen Augen schilderte mir der Priester, was meine Mutter litt. Er schilderte mir ihre Flammenqualen, so lange und so gräßlich, bis ich vor Entsetzen laut aufschrie, vor Jammer besinnungslos niedersank. So tat er an meiner armen jungen Seele Tag für Tag, wochenlang.
Was konnte meiner Mutter Qual lindern? Was die Flammen löschen? Eines, nur ein Einziges! Ihr Sohn mußte ihren heißen Wunsch erfüllen; ihr Sohn mußte das tun, um was sie für ihn die schmerzensreiche Gottesmutter in dem Dolomitenheiligtume anflehen wollte:
Geistlich mußte ich werden!
Wiederum schrie ich gräßlich auf; wiederum sank ich zerschmettert hin. Aber Tag für Tag wurde mir das nämliche mit furchtbarerer Gewalt gepredigt, mit Flammenschrift mir in die Seele gebohrt – wochenlang, Tag für Tag!
Ich wollte nicht, konnte nicht.
Also wollte ich meiner Mutter Seele Flammenqualen erdulden lassen? Flammenqualen bis in alle Ewigkeit!
Wie ich litt! Judith, Judith, wie ich litt! Meine Qualen mußten zu dir hinüberdringen mit einem Schmerzensschrei, einem Sterbelaut.
Als ich vor Qual nicht mehr ich selbst war, da – was geschah da mit mir?
Da wurde mir mit Engelszungen verkündet, welche Wonnen meiner Mutter harrten, wenn ihr Sohn ihren sehnlichsten Wunsch erfüllte. Es waren Paradieseswonnen für meine Mutter, ihr geschenkt durch ihren Sohn!
Um sie für meine Mutter zu erlangen, mußte ich Höllenpein erdulden, mußte ich auf Tod und Leben kämpfen, mit meiner Jugend, meiner Kraft, meinen Hoffnungen; kämpfen mußte ich mit meinem Daseinsdrang, meinem Lebenstrieb, meinem Glücksbedürfnis, meinem Hunger nach Liebe, Leben. Jahrelange Qual, jahrelanger Kampf standen mir bevor, wenn ich meiner Mutter Seele aus den Martern des Fegfeuers fort den Wonnen des Paradieses zuführte... Er ersparte mir nichts, verschonte mich mit nichts, war grausam, ganz mitleidslos.
Denn er nannte auch deinen Namen, Judith, o Judith, für die ich dies alles aufschreibe – da ich es dir nicht sagen kann. Seit langem weiß ich nämlich: nur für dich schreibe ich in diesem Hefte meiner jetzt seligen Mutter; einzig und allein für dich, Geliebte!
Meiner »seligen« Mutter... Denn – Judith, o Judith! – meine Mutter wurde durch mich von ihren Qualen erlöst; meiner Mutter Seele ist durch ihres Sohnes Liebe aus den Flammen des Fegfeuers hervor in die himmlische Seligkeit eingegangen! Ich erfüllte ihren sehnlichsten Wunsch; ich tat, um was sie die Madonna anflehen wollte: Ich blieb in Rom, wurde in Rom Geistlicher.
Sein letztes Mittel, wodurch er mich völlig bezwang, war das deines Dämons. Er hatte in meiner Seele gelesen, in ihrem tiefsten, verborgensten, dunkelsten Wesen.
Denn nachdem er den Kampf um die Qual, die mir bevorstand, eindringlich geschildert hatte, malte er mir den Sieg, der diesen Kämpfen; die Wonnen, die diesen Qualen folgen würden:
Ein demütiger, armseliger Priester würde ich sein und – herrschen würde ich; herrschen über die Seelen der Menschen!
Ein Herrscherdasein, ein königliches Dasein war es, das er mir beredten Mundes verkündete. War er doch selbst ein demütiger, armseliger Priester, zugleich aber ein Herrscher, ein »Königsmensch«!
Ich war der Sohn des Grafen von Enna, ein Sproß aus uraltem, edlem Geschlecht. Wohl! Söhne von Tagelöhnern und Bauern waren Priester, wurden Bischöfe, Kardinäle... Das war von allen Wundern der katholischen Kirche das größte: eines Fischers Sohn konnte Stellvertreter Christi auf Erden werden.
Wie ein Dämon packte die Gewalt dieses Worts meine ehrgeizige, herrschsüchtige Seele.
Das Große, das Ungeheure, was des Priesters Werk an mir vollendete, begab sich folgendermaßen:
Eines Tags in aller Frühe war's. In aller Frühe, der großen Sonnenhitze willen, verließ der Papst Rom, um sein Landhaus im Albaner Gebirge zu beziehen. Gleich nach dem Abhalten des Hochamtes sollte dahin aufgebrochen werden.
Als Herr Sebastian Schwarz mit mir in den Vatikan ging, war es noch dämmerig. Wir nahmen die Straße, die zu den vatikanischen Gärten führt, und traten durch das Tor der Schweizerwache in den Palast.
Seitdem ich wußte, daß meine Mutter meinetwillen Flammenqualen erduldete, befand ich mich in einem Zustand, in welchem das Leben für mich kein Leben mehr war. So fühlte ich denn auch an diesem Morgen alles, was ich sah und erfuhr, gleichsam als nicht von dieser Welt. Wir begaben uns in den Vatikan, der kein Haus, auch kein Palast, sondern eine Stadt ist, an der viele Jahrhunderte bauten, und die länger über dem Erdboden bleiben wird, als alle Herrscherschlösser der Erde.
Zugleich mit uns kamen viele Mächtige der Kirche, römische Große und vornehme Damen, so daß es auf den Höfen, den Treppen und in den Gängen ein arges Gedränge gab. Durch eine enge Tür gelangten wir in einen sehr hohen, sehr langen und nicht sehr breiten Raum, darin es fast dunkel war. Auf dem Altar, der an einer der Schmalwände über einem Podest stand, brannten sechs gewaltige Wachskerzen. Sie flackerten mit rötlichem Schein, der über ein Wirrsal von dunklen titanischen Gestalten hinflammte. Diese Gestalten, von denen ich kaum Umrisse und Farben erkennen konnte, bedeckten die ganze hohe Mauer über dem Altar bis zu den Wölbungen der Decke empor. An dieser, wie an den andern drei Wänden, war alles Gestalt und Farbe, so daß ein Gewimmel von Leibern von allen Seiten herbeizudrängen schien, um den heiligen Vater die Messe lesen zu hören. Erhellt war jedoch nur der Altar durch die brennenden Kerzen; alles andere war wie von düsteren Schleiern umwoben. Denn es herrschte noch tiefe Dämmerung in der Kapelle, und nur von einer Seite flutete von hoch her fahles Morgenlicht herein.
Hinter einer hohen Marmorschranke hatte ich neben Herrn Sebastian Schwarz Platz gefunden. Ich stand von dem Altar ziemlich entfernt, ihm jedoch gerade gegenüber. Also gerade gegenüber jener Legion von Gestalten, von denen viele aus der Tiefe zu kommen, aus dem schwarzen Abgrund aufzusteigen, aufzustürmen schienen. Meine Augen, an das Dämmerlicht allmählich gewöhnt, erkannten – immer noch als schattenhafte Gebilde – wie links vom Altar die Erde sich öffnete und wie die schwarze Scholle die Gestorbenen ausspie: Leichname und Gerippe! Die Auferstandenen strebten empor in den unendlichen Raum, und wurden von andern Auferstandenen, die bereits eine höhere Sphäre erreicht hatten, nachgezogen. Ein dichter Kreis von Leibern umdrängte mit Gebärden höchster Furcht und höchsten Hoffens, von Entzücken erfüllt und von Verzweiflung gepackt, einen Gewaltigen, der wie ein nackter Titan den Arm richtend emporstreckte. Eine bebende Frau schmiegte sich mit über der Brust gekreuzten Armen an des Fürchterlichen Knie, Gnade bittend, angstvoll flehend. Aber die emporgestreckte Hand schien nur Verdammnis zu spenden ... Unter dem erbarmungslosen Richter, gleich einem lebendigen Gewölk, eine Schar Engel, die mit Posaunentönen zu Gericht riefen; und von hoch oben her Cherubine, wie auf Sturmesfittichen brausend niederfahrend.
Wer durch die Fürbitte der Mutter von dem schrecklichen Gott selig gesprochen ward, der fühlte himmlische Wonnen; während derjenige, für den es keine Verzeihung gab – für den die Mutter nicht bat –, in die ewige Tiefe zurückstürzte ...
Schattenvoll und schemenhaft sah ich bei dem Ungewissen Schein des langsam aufdämmernden Tages den ungeheuren Vorgang des Jüngsten Gerichtes. Um so mystischer und furchtbarer wirkte er auf mein völlig zerrüttetes Gemüt.
Meiner Mutter gedachte ich. Mir war es, als sähe ich sie. Sie war dort vor mir auf der Wand, über dem Altar, linker Hand. In Leichentücher gehüllt, beide Arme jammernd ausgestreckt, das Haupt wie in Verzweiflung in den Nacken geworfen, sah ich sie mutterseeleneinsam durch die Unendlichkeit irren, den Sohn suchend, dessentwillen sie gestorben war, dessentwillen sie die Flammenqualen des Fegfeuers erlitt. Sie suchte mich. Fand sie mich unter den Millionen, so wollte sie mich bei der Hand fassen und mit mir empordringen: dorthin, wo die zitternde Mutter an ihres richtenden Sohnes Knie sich schmiegte. Die Mutter wollte flehen für ihren Sohn, daß ihr Sohn nicht verdämmt werde, weil er seiner Mutter Seele im Fegfeuer hatte schmachten lassen.
Unverwandt starrte ich auf die in der Unendlichkeit einsam irrende, einsam suchende Frauengestalt. Fast hätte ich laut aufgeschrieen: »Mutter! Mutter! Mutter! Hier bin ich! Vergib mir! Ich will es tun – deinetwillen!« In meiner fiebernden Phantasie merkte ich nicht, daß der Papst eingetreten und zum Altar vorgeschritten war. Gesang eines Knabenchors schwebte plötzlich wie Geisterstimmen durch die Wölbungen. Es war, als hätte die Schar der schwebenden Cherubim des Jüngsten Gerichts zu singen begonnen, so unirdisch erklang der Gesang, wie aus offenen Himmeln hernieder.
Ich sah den Papst. Im weißen Gewände stand er vor dem Altar. Er hob beide Arme, als gebiete er den Toten, aufzustehen und zu dem Herrn und Heiland zu drängen – zu dem Richter und Rächer; besaß doch auch er Macht, auf Erden zu binden und zu lösen, zu verdammen und selig zu sprechen.
Da geschah etwas Wundersames.
Die Sonne ging auf. Ihre ersten Strahlen fielen durch dl« Fenster in die Kapelle und auf die Darstellung des Jüngsten Gerichts. Von Glanz überflutet die Gestalt des Heiligen Vaters; von Glanz überflutet die weiße Gestalt des göttlichen Rächers; von Glanz überflutet das Gewimmel der Seligen; von Glanz umflutet die zum Gericht rufenden Engel und Cherubim, die triumphierend Christi Märtyrerwerkzeuge mit sich führten: Strick und Kreuz, Dornenkrone und Speer, Nägel und Geißelstrang. Es war eine Verklärung. Eine Glorie war's l
Der goldene Schein des großen Himmelslichtes brach so plötzlich herein, der Eindruck war von solcher überwältigenden Gewalt, daß in der Kapelle eine allgemeine Bewegung entstand.
Und unter dem Jubelgesang des Knabenchors erteilte Plus IX. den Segen.
Als ich mich von den Knien erhob, schaute ich auf. Da gewahrte ich, hoch über mir schwebend, Gott den Vater und Schöpfer, wie er die Dämmerung auseinanderriß, wie er seinen soeben geschaffenen Welten das erste Licht gab, wie er davonstürmte und, von Purpurwolken getragen, den ersten Menschen schuf – das erste Menschenpaar.
Auch die göttliche Schönheit des ersten Menschenpaares empfand ich in jener großen Stunde, in welcher ich die auf Michelangelos Jüngstem Gericht einsam irrende Gestalt für den Geist meiner gestorbenen Mutter hielt, deren in Feuerqualen schmachtende Seele nicht eher Erlösung fand, als bis ihr jüngster und liebster Sohn ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt hatte und ein armseliger Diener des Herrn, ein demütiger Knecht der Kirche – ein königlicher Herrscher über die Gemüter der Menschen geworden war.
So geschah es, daß aus dem Junker Rochus in Rom Pater Paulus ward.