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Erst das erbarmungslose Anbrechen des neuen Tages löste Pater Paulus von dem Herzen der Toten. Das junge Morgenlicht lag wie ein leiser Lebenshauch auf dem blassen Antlitz, darin sich bei den heißen Küssen des Priesters keine Miene verändert hatte.
Pater Paulus stand und lauschte auf die tiefe Stille im Hause, dessen Herrin zum erstenmal, seitdem das Haus gebaut worden war, in der Frühe ruhig liegen blieb. Die Leute, die zur Totenwache gekommen waren, hatten sich im Morgengrauen entfernt, und das Gesinde schlich auf den Zehen umher, um die Frau in ihrem tiefen Schlafe nicht zu stören.
Jetzt sagte der Priester der Gestorbenen die letzten Worte auf Erden: »Lebe wohl, Judith Platter. Auf Wiedersehen in der Ewigkeit. Dort sollst du mich anklagen und zur Verantwortung ziehen. Glaube nicht, daß ich mich rechtfertigen werde.«
Er sprach mit fester, lauter Stimme, unbekümmert, ob jemand ihn hörte. Dann wandte er sich ab und ging zur Tür. Bevor er öffnete, blieb er stehen und rief zurück:
»Lasse dir nicht etwa einfallen, dort oben für mich zu bitten. Ich will deine Fürbitte nicht.«
In dem Augenblick, da er in der verschlossenen Tür den Schlüssel umdrehte, wurde er sich mit unerbittlicher Klarheit bewußt: ›Als ein von Gott Abgefallener schreitest du heute über diese Schwelle hinaus. Seit dieser Nacht bist du nicht mehr wert, hinfürder ein Priester Gottes zu heißen.‹
Als er die Tür öffnete, sprangen dicht vor ihm die Hunde auf und rasten an ihm vorüber ins Zimmer der Herrin: die treuen Tiere hatten die ganze Nacht hindurch vor der Schwelle gelegen.
Ohne Wort und Gruß, wie er gekommen war, verließ der Superior das Haus. Am Wege ins Tal hinab, bei der hohen alten Zirbenkiefer stand der Knecht Martin. Seit dem ersten Morgengrauen wartete hier der junge Mensch auf den hochwürdigen Herrn. Als er ihn endlich kommen sah, schritt er ihm entgegen. Jetzt stand er ihm gegenüber, grüßte nicht, schaute ihn aus heißen Augen an und begann mit ruhiger Stimme:
»Ich wollte Euch nur fragen, wie Ihr es mit dem Begräbnis halten wollt?«
»Morgen in aller Frühe findet es statt:«
»Ich meine, wie es sonst damit wird?«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Ihr werdet doch die Glocken für sie läuten lassen?«
Pater Paulus antwortete nicht.
Der Bursche fragte weiter:
»Ihr werdet ihr doch ein christliches Begräbnis geben?«
Pater Paulus schwieg.
Mit heiserer Stimme fuhr der Bursche fort:
»Dann würdet Ihr sie ohne Geläut und Gebet nur so eingraben lassen? ... Die Frau muß christlich begraben werden, oder –«
Jetzt erhielt der Fragende Antwort:
»Ich dächte, du kennst mich. Ihr alle kennt mich. Zwingen lasse ich mich nicht. Zu nichts und von keinem. Deine verstorbene Herrin wird das Begräbnis erhalten, welches ich ihr geben will; und ich gebe ihr dasjenige, welches mir für sie das rechte erscheint ... Jetzt gehe mir aus dem Wege!«
Drohend rief der Knecht der toten Königsfrau: »Ein christliches Begräbnis, oder – hütet Euch, geistlicher Herr!«
Jetzt trat er zur Seite.
Pater Paulus schritt weiter. Er blickte um sich, sah und beobachtete alles. Die kühne Alpenstraße, die er ging, hatte Judith Platter angelegt, in einer Gegend, durch welche früher nur Hirtensteige und Wildpfade führten. Dieser Acker, darauf unter dem schwindenden Schnee die junge Saat üppig aufschoß, war noch vor kurzem ein verwilderter Forst gewesen, und jene weite Wiese drunten tiefer Morast. In solcher Weise hatte die »gottlose« Königsfrau ihr Leben in dem Buche von Gottes Natur verzeichnet, und das mit einer Schrift, die noch nach Generationen von der Arbeit ihres Lebens zeugen würde.
Der Föhn der Nacht hatte sich gelegt. Tiefe Ruhe lagerte über der erhabenen Welt der Dolomiten, eine rechte Judith Platter-Ruhe. Sie tat dem rasch talwärts Schreitenden wohl. Zugleich erfüllte ihn dumpfes Staunen darüber, daß sie, die er droben zurückgelassen hatte, diesen feierlichen Frieden nach einem wütenden Kampf der Elemente nicht mehr fühlen sollte. Auch darüber wunderte er sich, wie leicht es ihm ward, zu gehen, sich zu bewegen und die Arme zu heben, wo sie doch mit festgeschlossenen Füßen dalag, unfähig, auch nur die leiseste Bewegung zu tun.
Jetzt schaute er aufmerksam zu, wie die schweren schwarzen Schatten der Tiefen allmählich sich aufhellten, wie aus den engen Waldschluchten die Nebel langsam sich hoben, in endlosen Zügen von fahlen Dünsten an den Felsenwänden hinkrochen und plötzlich wie durch Zauber verschwunden waren. Er beobachtete, wie das Leichengrau des Morgenhimmels von dem siegreichen Tageslicht purpurn durchflammt wurde, wie die Dolomitengipfel und Firnfelder, die der aufgehenden Sonne sich zuwandten, mystisch erglühten, wiederum erblaßten, um alsdann von der Strahlenflut des lautlos auftauchenden Sonnenballs überflutet zu werden.
›Heute gibt es einen schönen Tag! Judith würde sich gefreut haben ... Was würde sie wohl heute getan haben? Gewiß hätte sie gerade heute viel zu tun gehabt. Sie hatte immer zu tun, mehr als zehn andre. Aber heute gewiß ganz besonders viel... Was würde sie wohl heute gesprochen, was gedacht haben?‹
Ob sie heute wohl auch an ihn gedacht hätte? Daran gedacht, daß sie nahe daran war, ihm ihre Seele zu ergeben; nahe daran war, ihren Widerstand gebrochen zu fühlen... Wie das sein müßte, wenn er heute gegen Abend den weiten Weg vom Kloster hinauf nach dem Dolomitenhause tun würde; wie es sein müßte, wenn sie ihn droben empfangen haben würde? Was er ihr wohl heute zuerst sagen würde?
»Diese Nacht träumte mir, du wärest gestern gestorben, hättest dich selbst um das Leben gebracht – meinetwillen. Und nun wollen wir... Denn du und ich, wir gehören dennoch zusammen! Unsre Seelen wenigstens. Lange genug waren unsre Seelen getrennt.«
Wenn sie jetzt plötzlich vor ihm stünde: lebendig! Wie das dann sein würde? Ihr plötzliches Leben würde ihn töten. Und wie es wohl sein würde, wenn wirklich alles nur Traum war?
Morgen in aller Frühe würde sie drunten begraben. Es würde ein Begräbnis sein, wie es diese Berge noch niemals gesehen hatten. Alle liebten sie, alle mußten sie lieben! Selbst ihre Feinde. Ob die Sonne wohl scheinen würde, wenn man sie morgen in aller Frühe begrub? Ja, ja, ja! Und wie die Vögel singen würden. Frühling, Frühling! Durch den anbrechenden Frühling bei Sonnenschein und Vogelgesang würde man sie von ihrer stolzen Höhe heruntertragen.
Gewiß würden morgen viele Lawinen niedergehen. Durch den Föhn der Nacht und den schönen Tag von heute gab es zu Judith Platters Begräbnis Lawinendonner. Das waren andre Klänge, als wenn er für sie die Glocken läuten ließ.
Was hatte jener trotzige Bursch von ihm gefordert? ... Daß er Judith Platter ein christliches Begräbnis gäbe und dazu die Glocken läuten ließe. Nicht etwa ein Grab an der Kirchhofsmauer, kein »Loch« ... Weswegen hätten bei ihrem Begräbnis die Glocken nicht geläutet werden sollen?
Deswegen!
Dieser Knecht Martin wußte also auch, daß sie sich – Und er, Pater Paulus, hatte gewähnt, außer Gott und der Toten wüßte nur er davon. Aber der Knecht würde seine tote Herrin um keinen Preis der Welt verraten: über das Grab hinaus wollte er seiner toten Herrin die Treue halten.
Als ob ihr an einem christlichen Begräbnis gelegen gewesen wäre? Nicht das geringste! Sie hätte nicht das geringste getan, um zu verbergen, daß sie freiwillig in den Tod ging. Auch das Loch an der Kirchhofsmauer wäre ihr gleichgültig gewesen.
Es war uralter Brauch, daß ein Selbstmörder an der Kirchhofsmauer eingescharrt ward, ohne Priester und Glockengeläute. Jeder alte Brauch war heilig. Das Volk hing an seinen Bräuchen wie an seinen Heiligtümern. Es ließ daran nicht rühren, von keinem. Auch nicht von seinem Priester. Pater Paulus mußte also das Volk belügen, wenn er der toten Königsfrau ein christliches Begräbnis geben ließ. Ob die Gestorbene die Lüge des Priesters für sich annehmen würde?
Nein!
Immer noch führte des Superiors Weg durch Wiesen, Felder und Forste, die zum Dolomitenhof gehörten. Dieser selbst lag bereits weit hinter ihm, über ihm. Blieb er stehen und schaute zurück, so schimmerten die weißen Wände des großen Hofes im Sonnenglanz von der Höhe zu ihm herab. Unmittelbar dahinter türmten sich die Königswände empor, lagerte sich die breite Masse der Dolomiten in ihrer ganzen schrecklichen Herrlichkeit: himmelhohe Felsenmauern, an denen nicht einmal der Schnee haften blieb, voller Schlünde und Scharten, hier aschgrau und schwarz, dort smaragdgrün und azurblau, oder hellgelb, oder blutrot, oder purpurbraun, ein Spiel von Farben, ein Farbenrausch des Gesteins, eine tolle Phantasie des Alpengottes. Und inmitten der flammenden Schönheit des Felsengebiets blaute das dunkle Kristall eines gewaltigen Gletschers, breiteten sich weiß und weich, flimmernd und funkelnd die Schneefelder, aus denen eine unersteigliche Dolomitenzacke um die andere emporragte, die unbezwingliche Krone dieser majestätischen Natur.
Zinken und Zacken, Scharten und Schlünde, Dolomitengluten und Firnenglanz, soweit des Bergpriesters Blick reichte: ein wundersames Meer, dessen bei einer flammenden Schöpfung erstarrter Wellenschlag zum Himmel sich aufbäumte. Unter den weißen Schaumkämmen und der bunten Wogenpracht dieses ungeheuren Felsenozeans zogen sich die finsteren Furchen der Schluchten, gesäumt von hochstämmiger Kiefernwaldung.
Jetzt bog sich der Weg. In der engen Schlucht drängten sich schäumend und tosend die Wasser eines jungen Bergstromes. Darüber, auf senkrecht abfallender Felsenwand, graues, altertümliches Klostergemäuer mit dem schlanken Turm einer Klosterkirche, und rings um das Haus Gottes die schwärzlichen Holzbauten eines kleinen, weltentlegenen Dorfes, inmitten der Dolomitenherrlichkeit.
Sobald Pater Paulus das Reich der Königsfrau verließ, veränderten sich Weg und Wald. Aber auch was in der Nähe ihres Besitzes lag, zeigte noch die Wirkung ihres arbeitsamen Lebens. Der Weg war noch leidlich gangbar, und der Wald trug noch Spuren einer verständigen Kultur. Je weiter der geistliche Herr von dem Gebiete des Dolomitenhofes sich entfernte, um so verwahrloster wurde die Straße, um so verwilderter der Forst.
Wo ein junger, gesunder Baum gefällt war oder ein prächtiger vom Sturme gebrochener Stamm achtlos vermoderte, blieb der Superior stehen und dachte:
›Das hätte sie auf ihrem Grunde nicht gelitten. Und wie schauderhaft hier der Weg ist! Wäre sie noch am Leben und sähe es, so würde sie ihre eigenen Knechte hierher schicken, um die schlechte Stelle ausbessern zu lassen. Bald wird man an allem merken, daß sie tot ist.‹
Mitunter begegnete er einem Holzknecht oder Bergbauern. Die Männer blieben stehen, grüßten den Ehrwürdigen, und jeder sagte: »Gewiß waret Ihr droben im Königshause bei der toten Frau, geistlicher Herr? Um die ist's schad'. Eine solche gibt es nicht wieder. Gott schenke ihr die ewige Ruh'!«
Und jedem erwiderte Pater Paulus: »Freilich war ich droben bei der toten Frau. Um die ist es wohl schad'. Ich danke Euch.«
Dem herben Manne war zumute, als müßte er bei jedem, welcher der Toten Gutes nachsagte, sich dafür eigens bedanken. Der stolze Priester hätte am liebsten jedem, der voller Trauer ihren Namen aussprach, die Hand gedrückt.
Was sie aus ihm gemacht hatte, seit sie tot war! Und das binnen einer kurzen Frühlingsnacht...
Jetzt erreichte Pater Paulus die Talsohle und befand sich fast unmittelbar vor dem Dorfe. Die Kinder scheuten ihn. Wenn sie beim Anblick der hohen, gebietenden Gestalt in der dunklen Mönchskutte nicht rechtzeitig mehr flüchten oder sich verstecken konnten, so näherten sie sich dem Hochwürdigen mit geheimem Widerstreben, um ängstlich nach seiner Hand zu haschen. Aber gewöhnlich wehrte der rasch Einherschreitende die Kleinen unfreundlich ab. Denn er besaß kein Gemüt, welches die Kindlein zu sich kommen ließ; und nur wenn er auf seinen vielen einsamen Wanderungen durch Tal und Gebirge in tiefes Sinnen verloren war, ließ er sich den Tribut der Bergjugend gedankenlos gefallen.
Als an diesem Morgen eine der kleinen Hände sich schüchtern nach ihm ausstreckte, erschrak er über den demütigen Gruß, der seiner geweihten Person galt, und er ließ sich von keinem Kinde auch nur anrühren.
Wie eine Herde zu Füßen des treuen Hirten gelagert, drängten sich die wenigen Hütten um das hochragende, überaus stattliche Stift. Der Superior schlug einen Pfad ein, auf dem er zum Kloster gelangte, ohne einen Fuß in das Dorf setzen zu müssen. Auf diesem Wege fiel der Felsen so steil ab, daß zum Halt ein Seil an den Wänden befestigt war. Wer das Seil nicht gefaßt hielt, ober wer daneben griff, konnte hier seinen Tod finden. Aber selbst bei Unwetter und finsterer Nacht stieg der Superior auf diesem Weg zum Kloster hinauf und vom Kloster wieder hinab; und Winters mußte für ihn in das blinkende Eis eine Treppe gesprengt werden. Die Königsfrau hätte nur diesen Weg zu gehen und das haltende Seil nicht zu fassen brauchen, um hier unten zu finden, was sie droben gesucht hatte: den Tod. Freilich – dieser Weg brachte sie zum Kloster hinauf und zu ihm. Also wäre sie diesen Todesweg niemals gegangen.
Droben angelangt, führte den Superior ein stets offenes Pförtlein in der zerbrochenen Mauer auf den Friedhof, der nur einen Tag des Jahres: am Feste von Allerseelen, notdürftig geschmückt wurde. Während des langen Winters breitete sich hier ein ödes Schneefeld aus. Aber im Sommer schossen Blumen und Gras in fröhlicher Wirrnis auf, und in dem wilden Rosengestrüpp suchte die Dorfjugend nach Vogelnestern.
Pater Paulus hatte kein Auge für die Verwahrlosung der Stätte; kaum beachtete er, daß er über den Gottesacker ging, wenn er in sein Kloster zurückkehrte. Heute war sein sonst so kraftvoller und schneller Schritt langsam, schwerfällig und müde. Als heftete sich von der Kirchhofserde eine Scholle an seine Füße, schlich er heute durch die Grabreihen, die sich wenig über den Boden erhoben und darauf noch eine leichte Schneedecke lag, die jedoch schon heute bei dem Sonnenschein schwinden mußte.
Plötzlich blieb der Hochwürdige stehen, als könnte er nicht weiter... Hier würde sie morgen früh begraben werden: sie, Judith Platter! Zum erstenmal kam sie den Weg, der zu ihm führte.
Der Priester betrachtete die Stelle so genau, als sollte er hier selbst seine letzte Ruhestätte finden. Der Platz stieß an den Chor der Klosterkirche. Wer dort ruhte, mußte Gesang und Gebet der Gemeinde, mußte das Glöcklein des Ministranten und die Stimme des Geistlichen so deutlich vernehmen, als befände er sich in der Kirche: über Judith Platters Grab würde das gewaltige Mysterium des Glaubens hinrauschen wie der Alpensturm; und wenn während der Christmette das Gotteshaus weit hinausstrahlte in die heilige Nacht, würde der Lichtschein ihre letzte Ruhestätte umfluten. Und viele Monate im Jahre würden die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne grade dieses Grab treffen und sie wärmen, die am Herzen von Mutter Erde fest schlief; die Frühlingslüfte würden grade auf diesem Grabe die ersten Blüten aus den Schollen locken. Schon jetzt sproßten hier gelbe Krokus und blaue Leberblümlein, die bereits nach wenigen Stunden der Spaten des Totengräbers zerstören würde: bereits nach wenigen Stunden tat sich an dieser heiteren Stelle lang, schmal und tief die schwarze Scholle auf... Der geistliche Herr wollte dem Manne befehlen, aus der Erde jeden Stein zu entfernen.
Er mußte sich Gewalt antun, um sich an dem Platze nicht niederzulegen: lang ausgestreckt, beide Hände über der Brust gekreuzt und die Augen geschlossen – Nein! Die Augen weit offen. Gar zu gern hätte er einmal versucht, wie es sich dort lag. Er hätte nur den Kopf etwas zu heben brauchen, um von jenem Platz aus die bunten Dolomitenwände zu sehen, unterhalb deren das Königshaus lag mit Wiesen, Wäldern und Feldern.
Und Pater Paulus freute sich, daß die tote Königsfrau von ihrer letzten Ruhestätte aus ihr ganzes Gebiet überschauen konnte.
Es geschah zum erstenmal, daß der Superior an diesem Tage die Frühmesse nicht las. In seiner Zelle saß er an einem großen, mit Büchern und Schriften bedeckten Tisch. Daneben befand sich der Betschemel, und über diesem in einem kostbaren altertümlichen Rahmen hing in Lebensgröße eine heilige Barbara. Es war eine hervorragend gute Kopie des berühmten Gemäldes von Palma Vecchio. Das Bild hatte die Größe des Originals und nahm die ganze Höhe der Wand ein. Ein Holzknecht, der einmal mit einem dringlichen Anliegen bei dem Superior vorgelassen wurde, sah das Bild und meinte:
»Geistlicher Herr, bei dir hängt ja die Königsfrau leibhaftig an der Wand. Das ist von dir gescheit; denn das ist eine! Eine Ganze und Echte ist es!«
Und der Gestrenge hatte den jungen ungeschlachten Waldmenschen nicht einmal ernsthaft zurechtgewiesen, sondern freundlich belehrt: Mönche bewahrten in ihren Zellen keine Bildnisse irdischer Frauen! Diese hohe und machtvolle Gestalt sei das Konterfei einer Märtyrerin und Heiligen, deren Fürbitte der Superior jeden Morgen und Abend anrief.
In Gegenwart dieser großen Himmlischen saß nun Pater Paulus, vor sich ein aufgeschlagenes Buch. Es war jedoch nicht das Brevier. Auch sonst kein Andachtbuch. Ein ziemlich umfangreiches Heft starken Schreibpapiers war es in einem braunen, derben Ledereinband. Das ganze starke Heft schien vollgeschrieben; aber Tinte sowohl wie Papier waren vergilbt. Kühn und trotzig standen gleich anfangs die großen, steilen Buchstaben auf dem festen Papier. Wie in überschäumender Jugendkraft und leidenschaftlicher Lebenslust schienen die Worte hingeworfen. Allmählich veränderte sich der Charakter der Schrift. Sie wurde jedoch womöglich noch fester, stolzer, unbeugsamer.
Das bei der ersten Seite geöffnete Heft vor sich, saß Pater Paulus und starrte regungslos in das aufgeschlagene Buch, welches ein niedergeschriebenes Stück Menschenleben enthielt. Erhob er den Blick, so schauten ihn unverwandt die mächtigen Augen der Heiligen an – die Augen Judith Platters! Und wandte er sein Haupt etwas zur Seite, dem Fenster zu, so war es wiederum diese Frau, die ihn an sich mahnte. Denn zu ihm leuchteten die Dolomiten in seine Zelle herab, und er sah am Rande der noch winterlichen Lärchenwälder auf dem fahlen Plan der Hochwiese das Königshaus. Oft, gar oft hatte der Mann Gottes in seinen feierlichsten und einsamsten Stunden den Blick zu den ernsthaften Augen der herrlichen Heiligen des großen Venezianers erhoben; oft, gar oft hatte er durch seine vergitterten engen Fenster auf die Felsenöden der Dolomiten geschaut; auf den hellen Punkt am Saume der höchsten Wiese.
Damals lebte sie noch ... Gestern noch lebte sie!
Gestern noch saß Pater Paulus an dem nämlichen Platz, den Blick der Heiligen scheu meidend und sehnsuchtsvoll hinaufschauend zu dem Dolomitenhause, dessen Herrin er dennoch und dennoch bezwingen würde.
Heute nun saß er als Bezwungener in dem Kloster, neben dem verwilderten Kirchhofe, der bald einen menschlichen Leib mehr empfangen sollte. Vor dem geöffneten Buche saß er und las die Geschichte seiner Jugend und seines Glücks, seiner Liebe und seiner Schuld.