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Sie hatten die Leiche hinaufgetragen in das Oberstockwerk des hochgelegenen Dolomitenhauses und sie in der großen, mit rötlichem Zirbenholz ausgetäfelten Stube aufgebahrt. Es war das Zimmer, darin Judith Platter während der langen Wintermonate ihre Pflanzen aufbewahrte, die unter ihrer Pflege so herrlich gediehen; das nämliche Zimmer war es, darin sie ihre Vögel hielt. Jeder der kleinen, gefiederten Sänger kannte die Herrin; jeder begann laut zu singen, sobald die hohe, schlanke Frauengestalt einem der Bauer sich näherte. Das würde sie nun nicht mehr.
Schier schaurig war es mitanzusehen, wie sich die gewaltigen Leonberger Hunde gebärdeten. Mit blutunterlaufenen Augen hielten sie unter den Felswänden, wo die Königsfrau am frühen Morgen unter den ersten Frühlingsblüten sterbend gefunden ward, bei der Abgestürzten Wache. Wer die Verunglückte berühren wollte, mußte gewärtig sein, von den wütenden Tieren angefallen und niedergerissen zu werden; und unter Lebensgefahr, deren er nicht achtete, trat der Bergpriester zu der mit dem Tode Ringenden. Als dann alles vorüber und Judith Platter eine ewig stille Frau geworden war, flößte das Heulen der Hunde dem Gesinde abergläubische Furcht ein.
Jetzt lagerten sie der Toten zu Füßen, wie sie es der Lebenden zu tun pflegten. Von Zeit zu Zeit stand einer der Getreuen schwerfällig auf, drückte sein zottiges Haupt fest gegen den Rand des Sarges, glotzte das wachsbleiche Antlitz eine Weile an, stieß einen kurzen, dumpfen Klagelaut aus und streckte sich mit leisem Winseln, welches wie menschliches Wimmern klang, von neuem nieder, die Augen unverwandt auf das starre Bildnis der Entschlafenen geheftet.
Die weinenden Mägde hatten den blassen Leib gebadet und in von Judiths eigenen fleißigen Händen gefertigtes Linnen gehüllt, welches weiß war wie frisch gefallener Schnee und festhielt wie ein Gewebe aus Stahl. Unter den lichten Falten war nicht zu gewahren, daß die Glieder der Toten zerschmettert waren. Da das Haupt mit der Stirne gegen den Fels aufgeschlagen war, so hatten die treuen Frauen das aschblonde prachtvolle Haar gelöst und es wie einen schimmernden Schleier über die Brust herabfließen lassen.
Den Totenkranz hatten sie der Herrin aufgesetzt, gewunden aus den großen blaßvioletten Frühlingsanemonen, die sie so geliebt und auf denen sie gefunden worden war, die Kelche mit ihrem Blute betauend. Diese Anemonen waren des Jahres erste Blumen, die unter den Wänden der Dolomiten, an deren Sonnenseite der Hof Judith Platters lag, aufblühten, häufig bereits mitten im Winter.
Die Dielen des saalähnlichen Totengemachs waren mit Tannenzweigen bestreut, und im ganzen Hause roch es würzig nach verbrannten Wacholderbeeren.
Der Sarg, aus seidigschimmerndem Ahornholz verfertigt, stand auf zwei Schemeln. Der Toten zu Häupten brannten in blinkenden Zinnleuchtern hohe hellrote Wachskerzen, das Zeichen eines jähen und gewaltsamen Sterbens. Der Dunst des verbrannten Rauchwerks und der Dampf der Lichter schwebte wie ein Nebel über der regungslosen Gestalt.
Von den Mägden wagte es keine; aber dann tat es Martin, der jüngste Knecht: das große, hölzerne Kruzifix aus der Gesindestube brachte er in das Totenzimmer und befestigte das göttliche Bildnis des Leidens, der Erlösung und der Vergebung zu Füßen der Entschlafenen, so daß die brechenden Christusaugen auf das starre Antlitz herabschauten.
Des Heilands Blick ruhte also zuletzt doch noch segnend auf ihr, die sein Erbarmen nicht gewollt oder dessen nicht bedurft hatte: nicht im Leben und auch nicht im Sterben.
In Judith Platters feierlichem Totenantlitz war etwas, das jedermann, der es sah, Grausen einflößte. Das waren ihre Augen. Vor Entsetzen über das schreckliche Ende der fanatisch geliebten Herrin hatte das Gesinde vergessen, der Verstorbenen die Augen zu schließen, und den Geistlichen hatte der brechende Blick zurückgeschreckt, sie zu berühren. Und jetzt ließen sich die starren Lider nicht mehr herabdrücken. Weit offenen Auges lag Judith Platter auf ihrem letzten schmalen Lager – weit offenen Auges ging sie ein in die Ewigkeit, die für die unbußfertig Gestorbene ewige Verdammnis sein sollte.
Die Mägde, die noch mit ersticktem Schluchzen um die Tote beschäftigt waren, vermochten den gespenstischen Blick nicht zu ertragen und deckten ein Tüchlein über das weiße Gesicht. Jetzt erst fand eine den Mut, nach dem Beispiele des jungen Martin, die kleine kupferne Schale voll Weihwassers zu bringen und zu Häupten der Toten auf den Schemel neben den Leuchter zu stellen. Die Mägde hoben vom Boden einen Tannenzweig auf, tauchten ihn in das geheiligte Naß und besprengten leise betend die Gestorbene. Das ganze Gesinde trat herein und tat das gleiche. Aber alle verrichteten die fromme Handlung scheu, als begingen sie heimlich ein verbotenes Werk; nicht ein einziger hätte es gewagt, wären Judith Platters weit offene Augen nicht bedeckt gewesen.
Dann ward es Abend, ein goldiger Märzabend mit glühendem Gewölk an einem tiefblauen Himmel. Frühlingsahnung, die Ahnung von Sonne und Sommer, von Blütenduft und Vogelsang durchzitterte die gewaltige Alpenwelt, deren starre Gipfel in der Unnahbarkeit des Todes über den schattenvollen Gründen emporstiegen. Die Zinken und Zacken der Dolomiten entzündeten sich im Sonnenuntergangsfeuer. Sie flammten auf, sie loderten. Sie standen als gigantische Fackeln um das einsame hohe Haus, dessen Herrin auf dem Schrägen lag.
Sanfter Widerschein der himmlischen Gluten fiel über die unbewegliche Gestalt, die es geschehen lassen mußte, daß die göttliche Sonne sie weihte, ehe sie in die Finsternis des Grabes versank... Dann begann das Volk dieser Berge und Wälder sich zu versammeln, um der Sitte gemäß bei der stillen Judith Platter die Nacht über zu wachen, zu beten und zu wehklagen. Die nächsten Nachbarn hatten von ihren Hütten aus eine gute Wegstunde und weiter bis hinauf zu dem Hause, unmittelbar unter den Gipfeln der Dolomiten.
Es war ein Volk, wie es immer seltener wird in diesem Zeitalter neuer Geschlechter: wohlgebildete, schlanke und doch markige Gestalten mit hellem Haar und braunem Gesicht, darin enzianenblaue Augen leuchteten. Von Gemütsart war dieses Volk herb und hart, einfach und einfältig, oft wild und unbändig und mehr von einem unheilvollen Geist der Unduldsamkeit als von einem göttlichen Hauch des Friedens erfüllt. Es waren Seelen heiß im Lieben, heiß im Hassen; krösusreich im Glauben, bettelarm an Wissen. Seelen waren es mit dem dumpfen Bewußtsein einer in ihnen schlummernden Gewalt, die vernichtete, ward sie jählings geweckt.
Nur in tiefster Einsamkeit, die einer Öde gleicht, nur in einer Wildnis von Fels und Wald kann eine solche Volksseele in ihren guten und schlimmen Eigenschaften sich entwickeln und sich selber getreu bleiben.
In den dunklen Feiertagsgewändern ihrer Väter und Mütter, die diese wiederum von Vätern und Müttern überkommen hatten, stiegen sie hinauf zu dem großen Hof, dem höchsten weitum im Dolomitengebiet. Sie kamen aus dem kleinen Klosterorte tief unten im Tale; sie kamen von den Holzschlägen und von den Kohlenmeilern; von den Ufern des Alpsees. Es war, als hätte der Frühlingswind die Kunde auf seine Schwingen genommen und davongetragen: »Judith Platter liegt droben als stille Frau. Kommt und betet alle für sie!« Alle wußten es plötzlich und alle kamen. Gingen zwei zusammen oder trafen sie sich unterwegs, begannen sie sogleich von der Verstorbenen zu sprechen, der ihr weiter Weg heute galt. Sie sprachen leise, fast flüsternd, als könnte Judith Platter sie immer noch hören.
Den Toten soll man Gutes nachsagen. Gott habe sie selig! Aber von dieser Toten war, außer von vielem Guten, noch viel andres zu sagen: viel Wunderbares und Seltsames. Alle hatten sie gekannt. War sie doch die Frau vom Dolomitenhause hoch droben gewesen! Wegen seiner Lage unterhalb der Königswände nannte man es das Königshaus und seine Herrin infolgedessen die Königsfrau. Der Name war viel einfacher als Judith Platter; zugleich viel bezeichnender, als jeder andre es sein konnte. Selbst dieses Geschlecht von Waldbauern und Berghirten empfand in seinem dumpfen Sinnen, wie viel bezeichnender für Judith Platter dieser Name war.
Eine »Fremde« war sie gewesen. Das wollte besagen, daß sie in dem Tale, unter dessen Dolomitenwänden ihr Haus stand, nicht geboren war. Als »Fremde« war sie vor zwanzig Jahren in die felsige Wildnis gekommen; eine »Fremde« wäre sie geblieben, und wenn sie hundert Jahre alt geworden, dem Volke Wohltaten über Wohltaten erweisend. Alles Fremde aber war diesen Leuten gleichbedeutend mit Feindseligem. Einem Feinde mißtraut man; einem Feinde darf man Böses antun. So hatten sie denn der fremden Frau mißtraut, hatten sie gehaßt, ihr nach Herzenslust Böses zugefügt; hätten sie am liebsten mit Steinwürfen davongejagt, ihr das Haus immer wieder über dem Kopfe angezündet, sollte sie es immer wieder aufbauen. So blieb es jahrelang: jahrelang mußte die Königsfrau um ihr teuer erworbenes Besitztum kämpfen, darum leiden. Kein Kind reichte ihr die Hand. Niemand grüßte sie. Sie trug ihren stolzen Namen gleichsam zum Spott. Trotzdem blieb sie: kämpfend, arbeitend. Und wie arbeitend! Sie erwarb den größten Hof, dort oben unter den Felsschroffen der Dolomiten, wo die letzten Waldwiesen lagen, auf denen in früheren Zeiten Sommers über Hirten ihre Herden weideten und der Jäger die Spur eines flüchtigen Wildes verfolgte. In Wolkennähe schuf sich die Königsfrau ihr Königreich.
Allmählich ward es anders. Wie ging das zu? Das Volk selbst, dessen Haß sich allmählich in Liebe verwandelte, wußte es nicht.
Judith Platter sprach mit einem ihrer Widersacher, sah dabei den Mann mit ihren dunklen, machtvollen Augen ruhig an; und der Mann hörte plötzlich auf, ihr Feind zu sein. Es dauerte nicht lange, und der Mann wurde allmählich der Freund der fremden Frau, um schließlich ihr fanatischer Anhänger zu werden. Es war wie Hexerei. Es sei Hexerei, sagten viele und konnten sich trotzdem dagegen nicht auflehnen. Hatte die Fremde in den ersten Jahren mit Fremden ihren hohen Hof bewirtschaften müssen, so nahm sie jetzt nur noch Einheimische. Und welch ein Gesinde war das! Die stattlichsten Burschen, die saubersten Dirnen. Ihre Mägde setzten einen Stolz darein, der Herrin den Willen aus den Augen abzulesen, und ihre Knechte wären für sie durch Wasser und Feuer gegangen.
Auch das war absonderlich; die Tiere liefen ihr nur so nach. Sie hätte Wölfe zähmen und eine Gemse sich halten können, wie gewöhnliche Erdenfrauen eine Katze. Nirgends gab es so viele Vögel als rings um das Königshaus. Hexerei war es! Sie aber kümmerte sich um alle Liebe, die sie erweckte, so wenig, wie sie sich früher um allen Haß gekümmert hatte. Damit schmiedete sie die Seelen, denen sie es antat, nur um so fester an sich: wer ihr einmal anhing, kam von ihr nicht wieder los, über den hatte sie Gewalt zum Guten und zum Bösen.
In früheren Jahrhunderten wäre Judith Platter wahrscheinlich als schändliche Zauberin verbrannt worden.
Daß es mit ihr in der Tat auf irgendwelche Weise nicht seine Richtigkeit hatte, dafür lieferte sie selbst den Beweis. Sie verbarg es nicht einmal. Im Gegenteil: jeden Tag zeigte sie es allen, die es sehen wollten: »Seht, so bin ich!«
Wie war sie? ...
Das war es ja eben! Die Königsfrau war keine Christin. Wenigstens keine gute.
Ihr Gesinde, welches ihr anhing, als ob die Ketzerin eine Heilige wäre, ließ sie seinem katholischen Christenglauben strenge Treue halten: Judith Platters Gesinde hatte in der großen Stube und in den Kammern Kreuze und Heiligenbildnisse, kleine Altäre und Weihwasserbecken, geweihte Kerzen und ein ewiges Lämplein. Sogar eine Kapelle ließ Judith Platter bauen, damit die Leute, die bei Schneesturm nicht in das Tal und in die Klosterkirche hinabgelangen konnten, droben in der Felsenöde ihr Heiligtum hätten.
Zuerst schürte das schlechte Christentum der Königsfrau den Haß des Volkes gegen sie zu lichten Flammen; zuletzt kümmerte sich keiner der Dolomitenleute mehr darum, welchen Gott und welchen Glauben sie hatte. Das war ihr schönster, ihr höchster Triumph. Einem einzigen ließ der Glaube oder Unglaube der Königsfrau keine Ruhe. Ein einziger drang unablässig in sie, seinen Glauben zu haben, zu seinem Glauben sich zu bekennen. Der Mann, der das tat, drang mit solchem Ungestüm, mit solchem Fanatismus in sie, daß es hätte Felsen zum Wanken bringen können. Judith Platter blieb jedoch unerschütterlich.
Dieser Mann war der Superior des Augustinerklosters, inmitten der Wildnisse der Dolomiten ...
Pater Paulus war nur ein armseliger Bergpriester, der einem einfältigen Volle von Alpenbewohnern das Evangelium verkündete. Aber er verstand sich auf Gottes Wort. Es klang wie Donner in seinem beredten Munde.
Ein demütiger Diener des Herrn, war er doch ein Gewaltiger, dem keiner widerstand, mit Ausnahme der fremden Frau im Dolomitenhause unter den Königswänden.
Sie war ihm ebenbürtig: Kraft gegen Kraft, Gewalt gegen Gewalt. Das lohte und loderte, brauste und blitzte, wenn die beiden zusammen waren. Aber sein Herrenwille half dem Bergpriester nichts: war der Mann stark, so war das Weib stärker, obwohl der Mann Priester war.
Trotzdem ließ er nicht ab.
Immer wieder und wieder stieg er in hochgegürteter Kutte den weiten Weg aus dem tiefen Tale empor, hinauf zu den Einöden der Dolomiten. Bei Sommerglut und Winterkälte, bei Nebel und Sturm, am frühen Morgen und häufig noch spät in der Nacht – immer und immer kam er.
Wenn nur der kühne Forstmann dem Unwetter zu trotzen wagte; nur der hünenhafte Holzknecht die Schneemassen zu durchbrechen vermochte – der gestrenge geistliche Herr war stets der Dritte im Bunde, zu den wilden Höhen hinaufzusteigen.
Im Königshause ward ihm aufgetan. Er erhielt Speise und Trank, erhielt ein Obdach für die Nacht. Das war aber auch alles. So ging es durch Jahre.
Und immer kam er vergeblich.
Frei und unbeugsam hauste Judith Platter in der Welt, die sie sich selber geschaffen hatte. Es war ein stolzes Leben, ein rechtes Herrscherleben, voll äußerer Mühen und innerer Einsamkeit, voller Kraft und Taten. Ein Leben voller Arbeit war es.
»Das ist eine Arbeiterin!« – so sprachen die Dolomitenleute von ihr. Und dabei war sie nicht einmal Bäuerin. Aber arbeiten konnte sie trotzdem: Wälder ausrotten, Sümpfe austrocknen, Felsen abtragen, Wildnisse urbar machen.
Wie stark sie war!
Wollte ein junger Stier im Joche nicht gehen und konnten die Knechte den störrigen Wildling nicht bändigen, so kam Judith Platter. Und der Stier ging prächtig vor Egge und Pflug. Bei den Hörnern packte sie den Widerspenstigen, mit dem sie rang, wenn es sein mußte. Oder wenn in der Gesindestube Sonntags zwei Burschen mit im Griffe feststehenden Messern aufeinander losgingen und niemand sie auseinanderbrachte, so brauchte wiederum nur sie gerufen werden. Und den beiden blutgierigen Jünglingen erging es genau so, wie dem rebellischen Zugvieh; nur mit dem Unterschiede, daß es für die beiden Raufbolde genügte, wenn sie ruhig eintrat, ruhig ein Wort sagte, nicht einmal sonderlich laut. Das alles und noch mehr brachte sie fertig: die Fremde, die Unchristin, die einsame Frau; sie, die Königsfrau!
Eine Königsnatur war sie. Daß sie es war, machte ihre ganze Zauberkraft und Hexenkunst aus ...
Jetzt war es aus mit der Hexerei; jetzt war der Zauber gebrochen; jetzt war die fremde Frau tot.
Ja – Judith Platter war tot!
Zuerst begriffen die Leute es nicht. Denn daß die Königsfrau das fertiggebracht: daß sie sterben konnte, genau wie jeder andre sterbliche Mensch, grade so wie der erste beste, das verstanden sie nicht gleich. Wie sollten sie das auch so rasch verstehen können? Heute in aller Frühe war sie gestorben, in der Nacht hielten sie bei ihr die erste Totenwache, und den übernächsten Tag sollte sie begraben werden – genau so wie jeder andre Gestorbene.
Etwas Besonderes fand jedoch bei ihrem Tode statt. Das mußte dabei stattfinden: so sterben, wie jeder andre, jeder gewöhnliche Mensch – das hätte die Königsfrau gar nicht können; das hätte die Leute noch viel mehr verwundert, hätten sie noch viel weniger begriffen. Gestern abend war sie noch voller Leben und Kraft gewesen, gestern abend hatte sie noch der geistliche Herr besucht – in der Frühe des Morgens fand man sie sterbend.
Von den Königswänden war sie abgestürzt ...
Wie war sie hinaufgelangt, wo bei dem Märzschnee kaum der beste Bergsteiger hinaufkam? ... Sie war eben hinaufgekommen – sie!
Noch bei Nacht – der Mond schien hell – mußte sie das Haus verlassen haben, ohne daß einer von ihren Leuten es gemerkt hatte. In der leuchtenden Mondnacht mußte sie hinaufgestiegen sein. Um was dort oben zu tun?
Wollte sie etwa Edelweiß pflücken? Im Märzschnee!
Was immer sie dort oben zu tun hatte, jedenfalls lag sie am frühen Morgen unter den wilden Wänden inmitten des Anemonenfeldes.
Jeder andre von dort oben Abgestürzte wäre auf der Stelle tot gewesen: Judith Platter lebte noch.
Aber sie sprach nicht mehr. Nur die brechenden Augen sprachen. Was? Um des sterbenden Heilands willen, was? Sie würde nicht haben sterben können, wenn zuvor nicht geschah, was ihr brechender Blick verlangte, gebieterisch forderte.
Man wollte sie aufheben und ins Haus tragen. Sie begehrte jedoch durch Zeichen, liegen zu bleiben, wo sie lag: unter den blühenden Anemonen wollte sie sterben, während über den majestätischen Gipfeln die Sonne aufging, die Frühlingssonne.
Einer der Knechte verstand ihren Blick: der junge Martin war es. Er stürzte sogleich davon. Bereits nach wenigen Stunden kam er wieder zurück – mit dem geistlichen Herrn aus dem Tale. Auch die blutroten Wachskerzen, die an den Leichen von Verunglückten und jäh Verschiedenen gebrannt werden mußten, brachte er mit.
Das Gesinde mußte weit zurücktreten, damit der geistliche Herr, dessen Gesicht weiß war wie das Priestergewand, welches er angetan hatte, mit der Sterbenden allein blieb.
Aber nicht auf den letzten Trost hatte Judith Platter mit ihrem Sterben gewartet, nicht auf das letzte Sakrament: weder Irdisches noch Himmlisches wollte sie aus diesen Händen empfangen. Auch im Tode nicht.
Der Superior stand an ihrem umblühten Sterbelager und streckte ihr die göttliche Gnade entgegen. Judith gewahrte sie jedoch nicht. Nur den Priester sah sie an. Unverwandt blickte sie ihm in die Augen.
Er neigte sich tief zu ihr herab, er sank bei ihr hin. Jetzt kniete er vor ihr. Auf seinen Knien redete er in sie hinein: inbrünstig beschwörend, mit der ganzen Gewalt seines Wortes, seines Wesens. Aber sie hörte ihn nicht. Sie sah ihn unverwandt an, blickte ihm fest, fest in die Augen.
Er sprang in die Höhe, laut stöhnend, als müßte er Todesqualen erdulden, als gälte es seinem Seelenheile, seiner ewigen Verdammnis. Er bat und flehte, mahnte und drohte. Sie jedoch wandte ihre Augen nicht ab von dem fanatischen Gottesmanne; und – ihren brechenden Blick in den seinen gebohrt, starb Judith Platter.
Die Umstehenden hörten den Aufschrei des geistlichen Herrn. Sie sahen, wie er wankte, wie er fast zu Boden gestürzt wäre: hin über die Tote. Aber er blieb aufrecht stehen.
Als er nach einer langen Weile sich umwandte und davonschritt, hatte er ein Gesicht, daß alle, die dieses leichenblasse Antlitz sahen, ein Grausen anwandelte.
Nachdem der geistliche Herr davongeschritten, waren die Leute zu der Abgestürzten getreten. Sie fanden sie tot und die Augen weit offen. War Judith Platter der Gnaden des letzten Sakramentes teilhaftig geworden? War sie eines bußfertigen, also eines christlichen Todes gestorben?
Von ihrem Gesinde wußte es zuerst niemand. Plötzlich behauptete jedoch der junge Martin: er könnte beschwören, daß die Frau aus den Händen des geistlichen Herrn die heilige Wegzehrung empfangen hätte. Daraufhin sagten es auch die andern. Ein Einziger wußte die Wahrheit. Würde dieser Einzige sprechen? Vielmehr: durfte er schweigen?
Die Leute, die bei Judith Platter die Totenwache halten wollten, waren versammelt. Nicht nur Leidtragende, sondern auch Neugierige waren von weither gekommen; denn die Königsfrau so schlank ausgestreckt auf dem Schragen liegen zu sehen, so vollkommen tatenlos und ausruhend, so regungslos und hilflos, das mußte ein seltsamer Anblick sein. Aber Judiths Hunde bewachten die Herrin und ließen über die Schwelle des Totenzimmers nur den, der zum Hause gehörte. Selbst die Hofleute fürchteten sich vor den blutunterlaufenen Augen und fletschenden Zähnen der zottigen Leichenwächter. Die übrigen drängten sich in der Türe und spähten scheu hinüber, wo, umflutet von dem festlichen Scheine der Wachskerzen, die friedlich-feiernde Gestalt lag. Endlich zogen sich alle zurück und begannen den Totendienst, nachdem sie zuvor gegessen und getrunken hatten, beides so gut und so reichlich, als hätte die gestorbene Herrin selbst für die Bewirtung Sorge getragen: in solcher Weise ehrten die Mägde in dieser Nacht das Gedächtnis der verstorbenen Frau ...
Jetzt nahmen sie alle ein kleines rotes Wachslicht, welches die Leute mitgebracht hatten, befestigten es auf der die Gesindestube an allen vier Wänden umlaufenden Holzbank, zündeten das Kerzlein an, knieten davor nieder, beteten die Totenbitten, sangen die Totenklagen:
»Kommt zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes!
Eilet herbei, ihr Engel des Herrn!
Nehmet auf diese arme Seele!
Und führet sie zum Angesicht Gottes!
Erlöset sie von der schrecklichen Pein des Fegefeuers!
Jesus, in deine geöffnete Seite ...«
Plötzlich wurde das dumpfe Gemurmel durch helle, süße Töne unterbrochen. Ein Zwitschern war es zuerst, dann ward es ein Schmettern, ein Jubel und Jubilieren: Judiths Vögel!
Die Stimmen der Beter hatten sie aus ihrem tiefen Schlummer geweckt. Sie mochten den Schein der Wachskerzen für erstes Tageslicht halten und begannen ihr Morgenlied. Frühlingsheitere, sangesfrohe Klänge waren es.
Das war für Judith Platter der rechte Totengesang!
Später wurde die Nacht wild. Föhn brauste auf. Er fuhr um das freistehende Gehöft des Dolomitenhauses, rüttelte an den mit Steinen beschwerten Schindeldächern, stieß tosend gegen Wände und Fenster, pochte donnernd an Tor und Türen, riß heulend Läden auf, als wollte auch der Sturm bei der toten Königsfrau Leichenwache halten. Auf den Alpen wurde der lockere Märzschnee aufgewühlt und in die Höhe getrieben. Lange flatternde Flockenschleier wehten durch die fahle Dämmerung der wolkigen Mondnacht.
Tiefer und tiefer senkten sich von dem umdunsteten Himmel die Nebelmassen herab. Es war, als begrüben sie die ganze gewaltige Alpenwelt. Die brausende Stimme der Windsbraut war das Ächzen und Stöhnen der lebendig eingesargten Natur...
Judiths Vögel hatten die Täuschung erkannt und waren wieder zur Ruhe gegangen. Das Haus wurde erfüllt von den eintönigen Weisen der Totenklagen, in welche der Sturm hineinheulte und die Hunde von Zeit zu Zeit ihr wimmerndes Winseln mischten. Um Mitternacht geschah es, daß die Tiere anfingen, unruhig zu werden. Plötzlich fuhren sie mit heiserem Geheul auf und stürzten durch alle, Räume, deren Türen weit offen standen, dem Ausgang zu.
Jemand kam. Gewiß ein verspäteter Leichengast. Durch Föhnsturm und Schneetreiben war der nächtliche Wanderer aufgedrungen, um für die arme Seele im Fegfeuer zu beten. Es mochte dieser wohl nottun.
»Öffnet!«
Durch Sturmesbrausen und Hundegebell erkannten die Hofleute die Stimme. Nur die Stimme eines Einzigen hatte solchen gebietenden Ton.
Und da nicht sofort gehorsamt wurde: »Öffnet!«
Der junge Martin rief zurück: »Die Hunde, Hochwürden! Wir müssen erst die Hunde einsperren. Die Tiere sind wie toll.«
Aber es rief ein drittesmal: »Öffnet!«
Es war eine Stimme, der ohne weiteres gehorcht werden mußte. So ward denn dem späten Ankömmling aufgetan.
Die Knechte drängten sich zwischen die Hunde und die Haustür, um die rasenden Geschöpfe von dem Eintretenden zurückzuhalten. Hoch und stark stand er auf der Schwelle des Hauses, in dem heute statt der Hausfrau der Tod herrschte. Wie zum Hohn schien dieser Mann das Gewand aller Weltentsagung und tiefsten Demut zu tragen; und selbst die dunkle Kutte des Augustinermönches konnte die Pracht dieser Männergestalt nicht verhüllen. Wegen des Unwetters hatte er mit seinem weißen Strick die Kutte hoch aufgegürtet, die Kapuze übergezogen, und ein fester Stab hatte ihm geholfen, den Elementen zu trotzen. Mit einer ungestümen Bewegung des Kopfes schlug er jetzt die schwere Umhüllung zurück, daß das Haupt bis tief auf den Nacken herab frei ward.
Der Bergpriester mit der souveränen Miene eines Herrschers, den fahlen Wangen eines Aszeten, dem glühenden Blick eines Fanatikers stand im besten Mannesalter. Über dem kurzgehaltenen dichten Haare, darin die Tonsur sorgfältig ausgeschnitten war, lag bereits ein leichter grauer Schimmer. Ein Stücklein noch nicht überwundener irdischer Eitelkeit verriet sich auch in der Hand des hochwürdigen Herrn, die mit starkem Griff den schweren Stab umfaßt hielt: es war die wohlgepflegte Hand eines Aristokraten.
Die Hunde ließen sich von den Knechten nicht länger zurückdrängen und stürzten sich auf den Ankömmling. Dieser stand und schaute den wütenden Tieren gelassen entgegen. Als läge in den düsteren Augen des Priesters eine zwingende Macht, hielten die Hunde mitten im Sprung inne. Knurrend und zähnefletschend wichen sie vor dem späten Gast des Dolomitenhauses zurück.
Dieser durchschritt langsam das Haus. Er beachtete niemand, begab sich in die große, mit Zirbenholz getäfelte Stube, darin unter dem goldig schimmernden Holzwerk die tote Königsfrau wie unter einem Baldachin aufgebahrt lag. Die Hunde wollten folgen. Aber der Priester scheuchte sie zurück, worauf er die Tür hinter sich schloß. Die Leute hörten, wie der Schlüssel umgedreht ward.
Allein wollte der geistliche Herr bei der Verstorbenen beten, deren unbußfertige Seele er noch im letzten Augenblick für den Himmel nicht hatte gewinnen können. Um für Judith Platters Seele zu beten, war Pater Paulus trotz Finsternis, Föhnsturm und Schneetreiben den weiten Weg vom Kloster heraufgestiegen, aus christlicher Nächstenliebe sowohl wie aus Amtspflicht. Jetzt sollte nur der Herr gegenwärtig sein, wenn er vor dem Leichnam des so jäh aus dem Leben geschiedenen Weibes seine Knie beugte.
Die kleine Gemeinde der Beter dämpfte ihre Stimmen noch mehr. Die Leute schienen zu lauschen, ob sie in dem Totenzimmer den geistlichen Herrn beten hörten. Aber alles blieb still. Langsam schritt der Priester auf die im tiefen Frieden Ruhende zu. Ihr zu Häupten blieb er stehen, faßte nach dem Tuch, welches das Antlitz bedeckte, zog es fort.
Die Augen! Die weit offenen toten, schrecklichen Augen!
Er bohrte seinen gebieterischen Blick in den erloschenen der Königsfrau. Aber es half ihm nichts. Voll unnahbarer Hoheit ertrug Judith Platter den Blick des Priesters, dem sie bis zum Tode getrotzt hatte.
Jetzt war sie ihm entronnen, ihm in Unerreichbarkeiten entwichen!
Und das gerade in dem Augenblick, wo er sie endlich, endlich zu besitzen vermeinte, unentrinnbar in der Gewalt seines Willens. Im letzten Augenblick entkam sie ihm doch! Und das ganz, das für ewig. Was kümmerte es ihn, wie sie entkommen war und daß ihre Rettung einer Flucht vor ihm glich. Aus den Händen war sie ihm entschlüpft, überlistet hatte sie ihn; und jetzt lag sie vor ihm in einer Feierlichkeit, als beginge sie ihren höchsten Triumph. Diese weit offenen toten, schrecklichen Augen sagten ihm: ,Ich wurde doch nicht dein! Nicht mit einem Hauch meiner Seele, die du unterwerfen wolltest in deines Gottes Namen – für dich selbst. Sieh mich an! Sieh, wie königlich frei ich von dir blieb! Sieh, ich selbst habe mich zu dem gemacht, als was du mich vor dir liegen siehst.'
Was niemand gesehen, wobei nur Gott gegenwärtig gewesen, das wußte der Priester. Er wußte, daß Judith Platter bis zu ihrem letzten Atemzuge den Herrn des Himmels und der Erde nicht als Herrn über ihr Leben anerkannt hatte; er wußte, daß selbst ihr Tod eine Todsünde gewesen. Aus freien Stücken, aus eigenem, souveränem Willen hatte sie das Dasein fortgeworfen in den ersten besten Abgrund hinab. Es war eine echte Judith Platter-Tat gewesen. Nicht den Himmel und nicht seinen Diener wollte sie über ihr Leben gebieten lassen – sie selbst wollte darüber bestimmen.
So war sie denn nicht als Überwundene, sondern als Überwinderin aus dem letzten grimmigen Kampfe hervorgegangen. Und des Todes Majestät umkleidete einen gebrochenen Königsgeist mit seinem düsteren Purpur...
Seit ihrer ersten Jugendzeit hatten dieser Mann und dieses Weib einander feindlich gegenübergestanden, hatten sie miteinander gerungen. Selbst seinen wütenden Ehrgeiz hatte er in den Wildnissen der Dolomiten begraben, um mit diesem Weibe zu ringen, um mit diesem Weibe, das seine Jugendliebe gewesen, das seine einzige Lebensliebe geblieben, zu kämpfen. Und – Judith Platter hatte ihn dennoch besiegt.
Er hatte noch einen großen Teil der Nacht vor sich, um mit ihr allein zu sein – Gott sei Dank, noch einen großen Teil! Er konnte sie also noch lange anschauen. Selbst ihre weit offenen Augen, so fürchterlich sie waren, hätte er um keinen Preis geschlossen haben mögen; es waren immerhin ihre Augen.
Noch die halbe Nacht über konnte er mit ihr allein sein, konnte er mit ihr reden: Aug' in Auge! Das tat er. Alles, was er gegen sie auf der Seele hatte, schrie er vor ihrem toten Antlitz aus. Ohne einen Laut, ohne eine Bewegung tun zu können, mußte sie ihn anhören: seine wütende Liebe, aus der zuletzt wütender Haß ward. Ihretwillen war er seinem Gelübde treulos geworden; ihretwillen hatte er seinen Gott und Heiland verraten; ihretwillen war er ein schlechter, ein falscher Priester geworden.
Pater Paulus stand vor der Toten, schaute ihr in die Augen, ließ seine Seele zu ihr reden. Plötzlich fiel er bei ihr nieder. Sein Haupt sank herab auf ihre stille Brust. Sein Gesicht auf ihre weißen, kalten Wangen gepreßt, lag er wie hingestreckt durch eine göttliche Hand.
Jetzt küßte er den stummen, starren Mund, der sich im Leben von dem seinen nicht hatte berühren lassen ... Und Judith Platter mußte sich gefallen lassen, im Tode seine Küsse zu dulden.
Dann beging der Mönch etwas Furchtbares: einen Leichenraub.
Die Tote trug an dem Ringfinger ihrer rechten Hand einen schmalen Goldreif mit einem kleinen Rubin. Der Stein glühte an der wachsgelben Hand, als wäre von dem Blute aus der Todeswunde der Abgestürzten ein Tropfen an dem Golde haften geblieben.
Pater Paulus faßte nach der steifen, kalten Hand, hob sie, raubte ihr den Ring.
Er hatte Mühe, Judith Platter den Reif abzuringen. Es war, als hielte sie ihn im Tode noch fest.