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»Sie hat kein Oel!« – O, wenn in ird'scher Hütte
Dies schon das arme Herze bangen macht,
Wo doch, und wenn die Nacht auch noch so dunkel,
Schön, hell, und licht der Morgen wieder tagt, –
Mit welchem Schrecken wird es dann erfüllen,
Wenn nun die ew'ge Nacht bricht jäh herein?
Die Nacht, die nimmer endet, die nie hellet
Die Sonne, noch des neuen Tages Schein?
»O, gieb mir Oel! – daß meiner Glaubenslampe
Es nimmermehr an Kraft und Licht gebricht;
Und soll ich in des Todes Dunkel sinken:
»Verlaß mich nicht! Sei Du mein Stern und Licht!«
Ein heißer Sommer, so heiß, wie man sich keines anderen erinnern konnte, war in diesem Jahre gewesen. Die Halme bleichten früh, noch mehr als sonst arbeiteten die Leute auf dem Felde im Schweiße ihres Angesichts; in unveränderlicher Bläue sah der Himmel Tag für Tag auf Burgdorf nieder; voll und golden kam jeden Morgen die Sonne hinter den Bergen hervor, ihre brennend heißen Strahlen den ganzen Tag auf die Erde niederschießend; das Bett der kleinen Quellen, in deren Wassern sie sich sonst so gern gespiegelt, war längst zum harten Erdreich geworden, dessen weit geöffneter Mund vergebens nach Wasser rief, den brennenden Durst zu löschen. Es war gut, daß die Blumen und Gesträuche am Ufer des Spiegels entbehrten, in dem sie sonst so gern ihr lieblich Bild gesehen hatten, – sie würden erschrocken sein vor der gelben, vertrockneten Gestalt, die jetzt ihr eigen war. Die Vögel sangen nicht mehr, der Durst schnürte ihnen die heiße Kehle zusammen; wer nicht draußen sein mußte, ließ sich gewiß dort nicht sehen, froh wenn er an einem schattigen Orte die Schweißtropfen von der glühenden Stirn trocknen konnte. Der alte Vater Brocken lag Tag für Tag in unveränderlicher Klarheit da, mit keiner Wetterkappe, die etwa Regen bedeuten konnte, sein ehrwürdiges Haupt bekleidend; und Abend für Abend stieg der weiße »Höhenrauch,« der wiederum einen sonnigen Tag verhieß, in die Höhe; alles lechzte nach Regen, nach einem kühlen Winde; die Natur verging vor Angst und Warten der Dinge, die da kommen würden. Und siehe, da kam es. – Böse Fieber brachen im Dorfe aus, das schlechte Wasser, die bösen Dünste waren Schuld daran, viele Brunnen waren versiegt, die wenigen, die noch gutes Wasser gaben, wurden wie kostbare Schätze gehütet. – Pastor Stiegs waren beide gesund, sie gingen von einem Kranken zum andern, tröstend, lindend, helfend. Die noch gesunden Leute mußten aufs Feld hinaus, die spärliche Ernte einzuheimsen, wenn nicht dem durstigen Sommer ein hungriger Winter folgen sollte. Da waren wenige Hände vorhanden, die Kranken zu pflegen. Die Pastorin Stieg vergaß all eigenes Weh, jetzt waren die Kranken ihre Kinder, denen sie dienen, die sie mütterlich pflegen mußte. Aber nicht nur Mutterdienst, auch Engeldienst konnte sie Vielen thun, sie konnte hinweisen auf Den, dessen Hand das Leid schickt und der durch die Krankheit sagen ließ: »Siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an.« Die Ohren waren geöffnet, das Kreuz ist ein Kraut, das zwar keine lieblichen Blüthen, aber edle Früchte trägt.
Nolte, der treue Knecht des Hauses, war gestorben. Seine Tochter, eine arme Wittwe, hatte in den letzten Jahren mit ihren drei Kindern bei dem Vater gewohnt. Die beiden ältesten Mädchen lagen schon zwei Tage am Fieber darnieder, am Nachmittag legte sich auch die Frau. Die Pastorin, vom Doktor mit den nöthigen Arzneien versehen, war bei ihr bis zum späten Abend, in der Nacht sollte das Mädchen vom Pfarrhause bei ihr wachen. Aber der Zustand wurde so schlimm, die Kranke bat die Pastorin so flehentlich, nicht fort zu gehen, daß es diese nicht über's Herz bringen konnte, die arme Frau zu verlassen! sie ließ ihren Mann wissen, daß sie erst am nächsten Morgen nach Hause kommen würde, bat, ihr noch einige Lebensmittel zu bringen und richtete sich zur Nacht im kleinen Knechtehäuschen ein. Sie wusch das kleinste, noch gesunde Kind, fütterte es und legte es auf sein Lager in der anstoßenden Kammer; dann ging sie in die Stube zurück, wo die drei Kranken schwer athmend lagen. Sie hob und deckte sie, kühlte die brennenden Zungen mit einigen Wassertropfen, gab die vorgeschriebene Arznei ein, – dann wurde es ruhiger um sie, sie nahm die alte Bibel vom Simms, es verlangte sie nach einem Worte Gottes in all diesem Elend und Schmerz der Menschen. »Wie ein Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?« Und wie sie so las, da war es ihrer Seele, als hätte sie einen Trunk genommen aus der lebendigen Quelle, gestärkt konnte sie wieder an ihre schwere Arbeit gehen. Um elf Uhr starb das eine Kind; die Mutter schlief noch immer, still erhob sich die Pastorin von den Knieen und breitete ein Tuch über die kleine Leiche. Es schlug zwölf Uhr, und immer matter wurden die Athemzüge der Wittwe; es schlug ein Uhr, da fing sie wieder an zu phantasiren, und während die Pastorin mit ihr beschäftigt war, verlosch die kleine Lampe. Finster war es in der Stube, sie konnte die Fieberkranke kaum los lassen, aber sie mußte doch wieder Licht haben. Sie lappte nach den Schwefelhölzern, zündete die Lampe wieder an, aber ach, der Docht war trocken, er kohlte einen Augenblick aus, um dann auf's neue zu verlöschen und die Stube noch finsterer erscheinen zu lassen. Rathlos stand die Pastorin da, endlich eilte sie mit einem brennenden Schwefelholz in die Küche, dort ein Stümpfchen Licht suchend. Vergebens. Jetzt beruhigte sie die Kranke wieder, zündete noch ein Streichholz an, nach der Oelflasche im fremden Hause suchend. Endlich nach langem vergeblichen Suchen fand sie dieselbe, aber, – sie war leer. Entmuthigt ließ die Pastorin die Hand sinken; da polterte es in der Stube, die Frau war im Fieber aufgesprungen und hatte den Tisch umgeworfen. Und nun kein Oel im Hause, kein Licht, alles Finsterniß rings um! Frau Stieg hätte nach der Pfarre eilen, dort klopfen und Oel fordern können, – aber sie konnte ja die Kranke keinen Augenblick allein lassen. – O, nur eine Kleinigkeit, einige Tropfen werthloses Brennöl fehlten, und doch trug dieser Mangel wesentlich dazu bei, diese Nacht zu einer der dunkelsten ihres Lebens zu machen. Sie brachte die Kranke wieder zu Bett, das Wasser, welches aus dem Krug, der beim Umwerfen des Tisches zerbrochen war, geflossen, näßte ihre Füße. Sie tauchte ihr Taschentuch hinein und kühlte damit die lechzenden Lippen der Kranken. Unbekannt, fremd im Hause, mußte sie tastend alles suchen, einmal fuhr sie über einen eiskalten Gegenstand, schaudernd bemerkte sie, daß sie die Leiche, welche nun starr und kalt da lag, unversehens berührt hatte. »Meines Glaubens Licht, laß verlöschen nicht,« betete sie oft in dieser schrecklichen Nacht.
Endlich dämmerte der Morgen. Der Pastorin war zu Muthe, als wäre es der Morgenglanz der Ewigkeit, der herein bräche, das so schmerzlich ersehnte Licht kam ihr anders vor als sonst und herrlicher denn je. Aber es beleuchtete ein Bild der Zerstörung, – da kam auch bald ihr treuer Pastor, um nach seinem und dem kranken Weibe zu sehen. Ach, sah seine Emma nicht bleicher und abgespannter aus, glühten nicht ihre Augen fieberischer, als die der Kranken? Sie lehnte sich matt an ihn: »Schicke Sophie her, ich muß nach Hause.« Das Mädchen kam, der Pastor trug seine Frau mehr, als er sie führte, heim; hier mußte sie sich zu Bett legen, das Fieber brach mit aller Kraft aus; »laß Lilli holen,« bat sie noch, dann schwand die Besinnung.
Lilli kam. Das Kind eilte zur Mutter, o, es ist doch ein Wort, das Wort: »Mutter.« Und was hat wohl eine solche erschütternde Macht, als wenn ein Kind fern vom Hause ist und nun den Ruf hört: »komm heim, deine Mutter will sterben!«
Dieser Ruf erging jetzt an Lilli, und mit einem Male war alles ausgefegt aus ihrem Herzen, was bis jetzt darin geherrscht und gehaust hatte, und das Bild der Mutter, der treuen Mutter, die ihr Kind heißer liebte, als sie es je geliebt hatte, und das so lange im Hintergrunde verdeckt gestanden, es wurde jetzt lebendig und in seiner alten Kraft und Schöne rief es des Kindes Namen. Lilli kam, eine Andere als die sie vor wenigen Stunden noch gewesen; man würde sie nicht wieder gekannt haben; »die Mutter, die Mutter!« dies eine Gefühl verschlang alle übrigen.
Die Pastorin war sehr, sehr krank, Lilli pflegte sie mit Kindesliebe und Kindestreue, wich Tag und Nacht nicht von ihrem Bette, ihr zarter Körper schien keine Ermüdung zu kennen, ihr mattes Auge keinen Schlaf zu suchen. Ist es nur eine vorübergehende Aufregung durch den Schreck hervorgerufen? Oder ist es eine bleibende Veränderung ihrer Seele? Werden die trüben Schatten der Erinnerung an Wallerbergs Untreue ihren Weg wieder verdüstern, oder ist der Morgenstern in ihrem Herzen nun aufgegangen, und wird von nun an Gottes Wort das Licht auf ihrem Wege und die Leuchte ihrer Füße sein?«
Das Fieber wich nach mehreren angstvollen Tagen von der Pastorin, aber ein anderes Leiden hatte sich daraus entwickelt, sie fühlte, daß ihr Ende nahe sei, und der Doktor bestätigte es mit traurigem Achselzucken; Boten wurden an Ferdinand und Margareth gesandt, o, daß man auch Heinrich und Marie an das Sterbebett hätte rufen können, den letzten Segen der Mutter zu empfangen!
»Lilli,« sagte die Pastorin mit schwacher Stimme, »bald gehe ich heim; ich bin getrost, mein Herr ist mein und ich bin sein. Aber der Vater, – er wird sehr allein sein, er wird mich schwer vermissen. Lilli, Du bist das Einzige, was uns geblieben, wirst Du nun Deines Vaters rechtes Kind sein, ihn pflegen in seinem Alter, für ihn sorgen, ihn erheitern, wenn er verzagt, ihn trösten, wenn er traurig ist? Willst Du Dich selbst vergessen und versuchen, mich beim Vater zu ersetzen? Sage Lilli, willst Du das versuchen und Gott täglich um Kraft dazu bitten?«
»Ja, ich will, ich will! Ich will alles thun, o Gott, und wenn ich gar nichts kann, ich will, er wird mir helfen.«
»Seine Kraft ist in dem Schwachen mächtig,« sagte die Pastorin, »nun kann ich ruhig sterben, wenn ich den Vater nicht allein weiß.«
»Mutter, Mutter, vergieb, was ich an Dir gesündigt, Zeit meines Lebens und besonders in den letzten Jahren! O könnte ich doch alles ungeschehen machen! Aber sage mir nur ein Wort, daß Du vergiebst, daß Du mir nicht zürnest!«
Und nun folgte ein Zwiegespräch zwischen Mutter und Tochter, an dem wohl die Engel ihre Freude gehabt haben mögen. Das letzte Gespräch: die Mutter, im Begriff das irdische Leben zu verlassen und in das ewige einzugehen; die Tochter, einem seichten Traumleben den Rücken wendend und nun mit ganzem Ernst den Pilgerlauf durch's Erdenleben in Gottes Kraft neu beginnend. Beider Herzen lagen offen vor einander, die Mutter war die segnende, gebende; der Tochter wurde es so wohl, so selig bei der Mutter, und doch durchzuckte sie es immer wieder mit schmerzhaftem Krampfe: es ist das letzte Mal! Sie hätte sich jedes Wort, jeden Blick tief ins Herz prägen mögen als einen Schatz für kommende Zeiten. Aber auch ein tiefes Weh übermannte sie, daß sie diese Mutter heute erst ganz erkannte, o wie hätte sie von nun an mit ihr leben wollen! – – Aus dem süßen Weh riß sie der eintretende Vater, er war ruhig und gefaßt; die Mutter sagte ihm lächelnd, daß Lilli nun ihre Stelle vertreten würde, diese warf sich in ihres Vaters Arme, aber sein dankender Blick suchte sein treues Weib, als wollte er sagen: »auch das verdanke ich Dir noch!«
Am andern Morgen kamen Ferdinand und Margareth, man hatte auf sie gewartet, die Eltern wollten noch einmal mit ihren Kindern das heilige Abendmahl nehmen. Eine wunderbar erhebende Feier! Die Pastorin schien Schmerz, Sünde, Tod, – alles überwunden zu haben, ihr Auge strahlte, ihr Mund lächelte. Der Doktor, ein alter Freund des Hauses, schüttelte den Kopf, und sagte leise zu Ferdinand: »Das ist kein gutes Zeichen! Sie wird noch heute sterben.«
Nun ging Niemand mehr aus der Stube, Jeder wollte die letzten Minuten bei der geliebten Mutter sein; dies Sterbebett hatte nicht nur für den Christen, sondern auch für den natürlichen Menschen nichts schreckliches. Frau Stieg schlummerte viel und freute sich, wenn beim Erwachen ihr Auge die geliebten Gestalten sah, die sich immer enger um sie drängten. Sie sprach wenig, aber man sah, daß sie Alle erkannte. Ihre irdischen Angelegenheiten hatte sie besorgt, für die Kinder in Indien die letzten Aufträge gegeben, mit ihrem Herrn war sie versöhnt durch sein heiliges Blut und durch sein unschuldiges Leiden und Sterben; er hatte sie bekleidet mit dem weißen Kleide seiner Gerechtigkeit, nun lag sie als eine geschmückte Braut da, den Bräutigam erwartend, den sie nicht gesehen und doch lieb hatte, und der sie nun zur seligsten Vereinigung heim holen wollte in seinen Hochzeitssaal. »Laß mich, laß mich hin gelangen, da Du mich und ich Dich leiblich werd' umfangen!«
Es war Abend geworden. Die Fenster standen geöffnet, die Sonne ging eben unter, einen rosigen Schein in die Stube werfend. Sie verklärte noch mit ihren Strahlen die Sterbende, welche hier einer schöneren Sonne entgegen reifte. Jetzt blickte sie noch einmal auf, Margareth stützte sie mit ihren Armen. Die Andern knieten nieder, der Vater hatte seiner Frau Hände gefaßt, röchelnd ging ihr Odem, wirr war der Blick des Auges.
»Emma, sprich noch ein Wort, kennst Du mich noch?« bat ihr Gatte.
Sie sah mit einem ängstlichen Ausdruck umher und antwortete nicht.
»Kennst Du Deinen Heiland noch? Jesus Christus ist bei Dir,« fuhr er mit ernster Stimme fort.
Da wurde das Auge klar, ein Blick des Verständnisses fiel auf ihren Mann. Dann sagte sie leise und in abgebrochenen Sätzen: »In Deine Hände – befehle – ich meinen Geist. Du – hast – mich erlöset, – Herr – Du treuer Gott,« – und da war sie entschlafen.
Lag nun still in Jesu Schooß,
Amen, ja, ihr Glück war groß!
Alles war still in der Stube, die Sonne war untergegangen, es wurde dämmerig. Da tönten Worte, Gottes Worte, die aus jener Welt zu kommen schienen, durch die Stille. Ferdinand betete:
»Herr Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir haben einen Gott, der da hilft und einen Herrn, der vom Tode errettet.
O Herr Jesu, Du bist hingegangen, uns die Stätte zu bereiten. Du wandelst dort, wo Leben und unvergängliches Wesen die Fülle ist und winkst uns hinüber. Du lässest uns im Voraus sehen, was Du denen bereitet hast, die Dich lieb haben. Du hast durch Deinen Tod und Auferstehung unserm Tode alle Schrecken genommen. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch Jesum Christum, unsern Herrn! Wir bitten Dich, Erlöser, löse unsere Herzen von den Dingen dieser Erde, in denen wir uns ermüden! Wir bitten Dich, Heiland, heile unsere Seele von allem Schaden, heile uns, Du Heil der Seelen, die wir krank und traurig sind. Aber was betrübst Du Dich meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn Du wirst ihm noch danken, daß er Deines Angesichts Hülfe und Dein Gott ist.«
Alle weinten, der Vater drückte seinem Weibe die Augen zu und küßte den erkalteten Mund. Jeder wollte ihr noch einmal Lebewohl sagen, jeder die Hand, die ihm so viel Treue und Liebe erwiesen, noch einmal an seine Lippen drücken! Die Thränen flossen reichlich, aber die seligen Verheißungen trockneten sie wieder; Margareth war die Gefaßteste und Ruhigste von allen; vor einem fernen Unglück konnte sie bangen und zagen, das gegenwärtige fand bei ihr meist ein stilles, gelassenes Herz. Sie traf auch alle die Vorbereitungen zum Begräbniß, das drei Tage später stattfinden sollte.
Es war ein freundlicher Septembertag, als nun der Leib der treuen Magd des Herrn, der Pastorin Stieg, in die Grabkammer gebettet werden sollte. »Gehe hin mein Volk, in deine Kammer,« ruft der Prophet Jesaias den Todten, die im Herrn sterben, nach, und die Weisheit Salomos fügt hinzu: »aber der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an.«
Ein Abglanz von der Seligkeit des »in Gottes Hand ruhen,« dahin die Pastorin noch mit ihrem letzten Odemzug ihre Seele befohlen hatte, lag auf dem friedvollen Gesicht der lieben Leiche. Aber nun forderte die Verwesung ihr Recht, – Staub muß wieder zu Staub werden, – man mußte eilen, den müden Leib in die stille Grabeskammer zu betten. Am vorhergehenden Abend hatten Alle Abschied von der theuren Entschlafenen genommen, Jeder hatte noch allein bei ihr gesessen, hatte noch einmal der Worte gedacht, die dieser bleiche Mund zu ihm gesprochen, ihr noch einmal für all die Liebe gedankt, die sie ihm zeitlebens erwiesen. Es war Allen so wohl bei ihr in der stillen Stube, der Himmel war ihnen näher gerückt, die Erde sah viel kleiner aus, alles Irdische kam ihnen viel irdischer vor, wenn sie die liebe Leiche nach solchem stillen Zwiegespräch verließen. Und nicht die Familie allein zog es in die Nähe der lieben Todten, da kamen alle die Kinder aus dem Dorfe, denen sie Mutter gewesen, alle die Jungfrauen, die sie liebreich ermahnt, alle die Frauen, denen sie mit Rath und That beigestanden, alle die Männer, welche sich so oft an ihrem holden Wesen und verständigen Gesprächen erquickt hatten. Manche Thräne fiel auf ihr einfaches Todtenhemd, bald lag sie fast von Blumen bedeckt, welche dankbare Liebe ihr brachte. Niemand fürchtete sich vor dieser Leiche, und wenn sie sich plötzlich aufgerichtet und geredet hätte, es wäre Niemand erschreckt geflohen, man wußte ja, daß diese Lippen nicht andere als segnende Worte sprechen würden.
»Das Kleid hat sie mir genäht,« sagte eine Frau, welche sich von der stillen Stätte nicht trennen konnte. »Ja, und mich hat sie in der Krankheit gepflegt und diese Hände haben mir das Bett gemacht. Und mir hat sie täglich Essen gekocht nach dem Tode meiner Frau,« sagte ein alter Mann mit weißem Haar. Ein junges Bauermädchen weinte bitterlich, kein Wort kam über ihre Lippen, aber in ihrem Herzen hieß es: »mich hat sie meine Sünde kennen gelehrt, mich hat sie zum Herrn Jesu geführt, o, ich kann ihr in alle Ewigkeit nicht danken, was sie an mir gethan hat.«
Ja, es ist wahr, was das Wort Gottes sagt: »Wer an mich glaubet, von deß Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.«
Du Pastorenfrau, Frau und Jungfrau, stehe noch ein wenig still an dieser Leiche. Es kommt ein Tag, wo Du auch so fülle daliegen wirst auf dem letzten Bette. Dein Mund wird erkaltet, Dein Auge gebrochen sein. Und auch über die Schwelle Deines Zimmers werden Menschen treten, die Dich gekannt bei Leibes Leben, – werden sie auch also von Dir sprechen – wie hier die Leute von der Pastorin Stieg? Oder wird der Eine an Dein Lager treten, Deine kalte Hand ergreifen und sagen: »Nun, ich will Dir alles vergeben, aber Du hast mir Leides und kein Liebes gethan Dein Lebelang.« Und wird der Andere sprechen: »Sie konnte recht freundlich sein, wenn sie wollte, aber wen sie nicht leiden konnte, und deren gab es Viele, dem gönnte sie kein gutes Wort; o wie böse hat sie mich oft angeblickt! Lieber seh ich jetzt in das gebrochene Auge und es dünkt mich schöner als der eiskalte Blick, mit dem sie mich oft von Kopf bis zu den Füßen maß.« Und wird ein Dritter sagen: »Möge Gott barmherziger gegen sie sein, als sie gegen mich gewesen ist; möge er für ihre Bitten ein offeneres Ohr haben, als sie für die meinen gehabt hat.« Und wird ein Vierter Dich vorwurfsvoll ansehen und weinend sprechen: »O, ich hatte den Herrn lieb und wollte ernstlich auf seinen Wegen wandeln. Da hat Dein heftiges Wesen mich gereizt, da hat Deine Lieblosigkeit mich empört, da hat Dein weltliches Wesen mich vom Herrn abwendig gemacht.« Wehe, wehe Dem, an dessen letzter Ruhestätte, die für ihn kein Ort der Ruhe wird, solche Gedanken laut werden!
Es hat jeder Mensch für seine eigene Seele zu sorgen und sie in Händen zu tragen, daß er sie heil durchbringe durch dies Leben, aber es geht nicht Einer durch die Welt, der nicht einen Einfluß auf andere Menschen hätte. Es rankt der Mensch sich an Menschen empor, eine Seele schlingt sich um andere Seelen und saugt aus ihren Säften Nahrung zu ihrem Wachsthum. Es ist ein ernster Gedanke, daß ein Jeder, auch der es gar nicht ahnt, entweder einen guten oder einen bösen Einfluß auf Andere ausübt. Eine That, ein Wort von Dir kann einer anderen Seele zum ewigen Heil oder zum ewigen Fluch gereichen, ohne daß Du's weißt. So ist es mit Jedem, aber wie viel mehr mit Solchen, die schon äußerlich berufen sind, daß Andere zu ihnen aufsehen. Welche Verantwortung für Eltern, für Herren, für Pastoren, für Pastorenfrauen! Richten sie sich auf nach oben und suchen freie Himmelslüfte, so werden andere Seelen an ihnen aufklimmen und dieselbe Nahrung suchen; kriechen sie im Schlamm, da werden junge Seelen ihnen nachkriechen und sich auch ihren Weg durch Koth und Moder suchen. An einer himmelanstrebenden Eiche rankt sich der Epheu empor, an einer Eissäule wird er sich nimmer hinauf winden. –
Der Sarg war geschlossen, auf der Diele stand er, schwarz behangen: zu seinen Häupten ragten aus hohen Topfgewächsen zwei Kerzen hervor, mit ihrem bleichen Lichte ein Crucifix beleuchtend; ihre kleine Taschenbibel hatte man der Pastorin in die gefalteten Hände gelegt, sie hatte sich im Leben selten von diesem Buche getrennt, sie sollte es auch im Tode behalten. Die zwölf angesehensten Bauern hatten um die Ehre gebeten, den Sarg auf ihren Schultern nach dem Kirchhof tragen zu dürfen; jetzt traten sie herein in ihrer alten Tracht, mit den dreieckigen Hüten, den Trauerflor am Arm, den Rosmarinstrauß mit schwarzem Bande vor der Brust. Stille beugten sie die Knie am Sarge, dann stellten sie sich in der »Diele« auf. Ferdinand stand im Talar daneben, und als Alle versammelt waren, wurde der Vers gesungen:
Christus, der ist mein Leben,
Sterben ist mein Gewinn;
Dem hab' ich mich ergeben,
Mit Freud' fahr' ich dahin.
Mit Freud' fahr' ich von dannen,
Zu Christ, dem Bruder mein,
Auf daß ich zu ihm komme
Und ewig bei ihm sei.
Und nun tönten über dem Sarg hin Worte, Gottes Worte, von der Seligkeit und der Herrlichkeit des zukünftigen Lebens. Auf den Sarg deutend, sprach Ferdinand: »Siehe da, eine Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein. Und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird es alles ererben. Und sie werden sehen, Gottes Angesicht und sein Name wird an ihren Stirnen sein. Und wird keine Nacht da sein und nicht bedürfen einer Leuchte oder des Lichtes der Sonne, denn Gott der Herr wird sie erleuchten und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und der Geist und die Braut sprechen: Komm. Und wer es höret, der spreche: Komm. Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.«
Jetzt begannen die Glocken zu läuten. Der Zug ordnete sich. Voran schritten der Pastor Stieg und Ferdinand, dann folgte der Sarg, dicht hinter ihm gingen Margareth und Lilli; dann viele Pastoren aus der Umgegend, alle im Talar, dann der Schullehrer mit allen Kindern, dann alle anderen Leidtragenden, aber das ganze Dorf trug Leide, und deshalb waren nur die Alten, die Kranken und die kleinen Kinder zurückgeblieben. Unterm Geläut der Glocken und dem Singen des Liedes: »Jesus meine Zuversicht« wurde der kurze Weg zurückgelegt, der Sarg hing über der Tiefe, Ferdinand trat auf den Erdhügel und hielt der treuen Mutter die Leichenpredigt über die Lieblingsworte der Verstorbenen, die man in ihrer Bibel unterstrichen und mit der Bemerkung: »meine Grabschrift« bezeichnet fand: »Du hast mich erlöset, Herr, Du treuer Gott.«
Dann trat Pastor Stieg, der wohl nicht vergebens gesungen hatte: »Seid getrost und hocherfreut! Jesus trägt euch!« an seine Stelle und segnete die körperlichen Ueberreste derer, die ihm die Liebste und Nächste auf Erden gewesen war, zur ewigen Ruhe ein. Die Glocken begannen wieder ihre Trauerklage, die Tücher wurden fortgezogen, langsam sank der Sarg in die Tiefe, still sah Pastor Stieg ihm nach, dann warf er drei Hände voll Erde auf denselben, die andern folgten seinem Beispiel, jetzt griffen die Träger zu den Schaufeln, dumpf polterte die Erde hinab, sie legte sich schwer aus Vieler Herzen, – da erklangen die Töne der Orgel, beruhigend und erhebend wirkten sie und zogen Alle in die geöffnete Kirche. Hier wurde, wie es dort in den Dörfern Sitte ist, wieder gesungen, dann der Lebenslauf der Verstorbenen erzählt, und zum Schluß knieten Alle nieder, Gott lobend, der so Großes an ihr gethan, ihm dankend für alle den Segen, den er durch sie verbreitet, ihn bittend um Treue zum gottseligen Leben, um ein gleiches seliges Ende.
Als man nun über den Kirchhof nach Hause ging, funkelten die Sterne hell wie selten am Abendhimmel. Ahnungen von der Schönheit unbekannter Welten und von der Herrlichkeit Gottes stiegen in der Seele auf, das milde Sternenlicht goß ein Gefühl von Frieden in die Herzen, das noch verstärkt wurde, wenn man den ganz mit Blumen überdeckten Grabhügel des Friedenskindes ansah, dem das Loos auf's lieblichste gefallen. Und heute und noch oft gingen Viele hier vorbei, mit den Worten im Herzen und auf den Lippen:
Friede sei um diesen Grabstein her,
Sanfter Friede Gottes, denn sie haben
Eine gute Frau begraben,
Und mir war sie mehr.