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I.

Siehst du das zarte Pflänzchen sprießen
Aus brauner Erde dunklem Schooß?
Die Sonne muß es leise küssen.
Damit es wachset schön und groß.

Und linder Regen darf nicht fehlen,!
Damit es innerlich erstarkt;
Wenn Sonn' und Regen sich vermählen.
Dann giebt es ein gesundes Mark.

Auch kräft'ger Wind muß es bewegen,
Damit es gute Früchte bringt;
Doch ganz alleine Gottes Segen
Macht, daß es endlich wohl gelingt.

Dem Pflänzchen gleichen Kinderseelen,
Entfalten sich in Liebe süß;
Und auch der Regen darf nicht fehlen,
Der Thau aus Gottes Paradies.

Doch soll'n sie tiefe Wurzeln schlagen,
Sich gründen fest auf Jesu Herz,
Dann müssen sie in bösen Tagen
Erfahren heißen, bitt'ren Schmerz.

O Herr des Himmels und der Erden,
Breit' Deine Hände segnend aus,
Auf daß wir Deine Kinder werden,
– – Ein Kind gehört in's Vaterhaus.

Im Pfarrhause zu Burgdorf gab's heut gar viel zu thun. Es war Sonnabend vor Pfingsten, und da mußte zum morgenden Feste alles im höchsten Glanze strahlen. Burgdorf lag im Auslaufe des schönen Harzgebirges, doch noch von Bergen rings umgeben. Mitten im Dorfe stand das Pfarrhaus, der Giebel nur war der Straße zugekehrt, welche, dort zur Kirchgasse verengend, an der linken Seite des Pfarrhofes sich hinzog. Die Fenster des Hauses gingen nach dem Hof hinaus, der durch Ställe und Scheuer begrenzt wurde; rechts blickten Blumen und Sträucher neugierig durch das grüne Stacket, das den Garten einschloß. Von außen sah das Haus heut schon gar festlich aus; mit frischem Weinlaub war es so ganz umzogen, daß man nichts mehr von dem Gebäude selbst sah, dem Zeit und Wetter allerdings längst alles Schöne geraubt hatten; nur die blank geputzten Fenster sahen hell glänzend aus den grünen Rahmen, jedem Eintretenden ein freundliches »Willkommen« zuwinkend. Ja, außen hatte der liebe Gott das Haus selber zum Pfingstfeste geschmückt und er war mit seiner Arbeit längst fertig, während die Menschen innen noch alle Hände voll zu thun hatten. Die Mutter war seit mehreren Stunden im Backhause, und schon wurden die Früchte ihres Fleißes in Gestalt duftender Blechkuchen in's Haus getragen. Die Dienstmädchen waren noch in der Küche beschäftigt, da hatten Heinrich, der Sohn des Hauses, und Ferdinand, der mit ihm erzogen wurde, zwei Knaben von vierzehn und fünfzehn Jahren, großmüthig beschlossen für heute allen ihren Stolz in die Tasche zu stecken, und sämmtliche Kuchen aus dem Backhause in das ganz nahe liegende Pfarrhaus zu tragen. Sie hatten nur die eine Sorge, daß doch ja jeder Vorübergehende wissen möchte, daß sie es freiwillig thäten, ungezwungen, aus reiner persönlicher Großmuth. Gebührend wurde dies auch anerkannt von der zehnjährigen Schwester Elisabeth, welche die Kuchen jedesmal jubelnd, die Brüder aber zärtlich begrüßte und es gar nicht genug rühmen konnte, wie sie heute so gut wären, da sie recht wohl wußte, wie sie schon vor langer Zeit auf's entschiedenste und zwar mit gutem Erfolge dagegen protestirt hatten, mit einer Flasche zum Kaufmann geschickt zu werden. Diese Anerkennung that ihnen sehr wohl, und sie geriethen in solchen Amtseifer, daß die Frau Pastorin nur wehren und sorgen mußte, sonst hätten sie die Kuchen sämmtlicher Bäuerinnen auch in's Pfarrhaus spedirt, was letztere gewiß nicht gebilligt haben würden.

Niemand aber sah neidisch auf die hohen Kuchenberge, welche als die der Pastorin bezeichnet waren, denn man wußte wohl, daß sie für die Armen des halben Dorfes mitbuck, und daß heute Abend die Kinder schaarenweis nach dem Pfarrhof ziehen würden, welche mit leeren Händen kamen und mit kleinen, runden Kuchen darin, fröhlichen Angesichts wieder fortgingen.

Marie, die älteste, zwölfjährige Tochter des Hauses, war beschäftigt, kleine, weiße Mullvorhänge an den Fenstern der großen »Diele« zu befestigen, emsig bemüht, jedes Geräusch von der Studirstube des Vaters, die, wie alle Zimmer des unteren Hauses, an dieser Diele lag, fern zu halten. Darum verwies sie auch unwillig der kleinen Elisabeth, welche beschäftigt war, einen Blumenstrauß nach dem andern aus dem Garten zu holen und jedes Gemach mit den lieblichen Kindern des Frühlings zu schmücken, ihre laute Fröhlichkeit. Diese schien die Vorwürfe der Schwester nicht sehr zu achten, aber ungeduldig sah sie nach der Uhr, welche in der Form und Größe eines kleinen Kleiderschrankes, schon seit fünfzig Jahren als ein Inventarstück des Pfarrhauses zu Burgdorf dort auf der Diele ihr leises Tick-Tack ertönen ließ.

»Weißt Du, ich finde, sie bleiben schrecklich lange,« sagte sie endlich zu ihrer Schwester.

»Vor einer Stunde können sie nicht kommen,« entgegnete diese mit gedämpfter Stimme, »und das ist auch sehr gut, denn wir haben noch so viel zu thun, und Mutter ist ja auch noch nicht zu Hause.«

Es war heut ein wichtiger Tag für die Bewohner der Pfarre. Während sie Alle noch so beschäftigt sind, nehme ich den Leser beiseit und erzähle ihm, wer hier erwartet wird.

Emma Stieg, die jetzt seit bald zwanzig Jahren die verehrte Pastorin in Burgdorf ist, hatte als Kind und Mädchen eine Freundin gehabt, mit der sie ein Herz und eine Seele war. Früh verwaist, brachte diese nach der Heirath ihrer Emma mehrere Jahre abwechselnd im Pfarrhause zu Burgdorf und in dem Hause einer älteren Schwester, einer Majorin in Berlin, zu. Da lernte sie einen englischen Missionar kennen, der kurze Zeit in Deutschland sich aufhielt; er gewann ihr Herz und ihre Hand, und sie folgte ihm nach dem fernen Indien. Mehrere Kinder entsprossen dieser Ehe, doch nur das älteste, Margareth, blieb am Leben. Aber schon längst hätte dies nach Europa gebracht werden müssen, um im deutschen Klima den Körper, und in christlicher Atmosphäre die Seele zu stärken. Den zärtlichen Eltern wurde es schwer, sich von dem einzigen Kinde zu trennen, und dann fehlte ihnen, da sie selbst es nicht nach Europa geleiten konnten, lange eine passende Reisegesellschaft. So war Margareth fast zwölf Jahre alt geworden; da fand sich eine befreundete Familie, welche sie bis Berlin mitnehmen wollte; von dort sollte ihre Tante, die Majorin von Heß, sie nach Burgdorf geleiten, denn hier, so war die Bestimmung der Eltern, sollte ihr Kind erzogen und eingesegnet werden; dann sollte es auf dringendes Bitten der Tante noch ein Jahr bei ihr in Berlin sein, und die Eltern wollten es von dort zu sich nach Indien holen. So waren ihre Pläne, aber – der Mensch denkt und Gott lenkt.

Zwar bis jetzt war alles geschehen, wie man es sich ausgedacht, und heute sollte Frau von Heß mit ihrer Nichte eintreffen. Nolte, der Knecht, hatte die alte, große Familienkutsche sauber gewaschen und geputzt, und war nach der eine Meile entfernten Eisenbahn gefahren, um von dort die Gäste abzuholen. Gern wäre die Pastorin mitgefahren, – aber am Sonnabend vor Pfingsten – nein, da war es unmöglich! Marie und Elisabeth waren theils zu beschäftigt, theils zu scheu, den Besuch zu empfangen, so blieben nur Heinrich und Ferdinand übrig! Sie wären gern mitgefahren, sie brannten vor Begierde, die neue Genossin zu sehen, welche der ganze Zauber des fernen Indiens in ihren Gedanken umgab – aber das hätte ja ausgesehen wie Neugierde und jene konnte denken, die Knaben machten sich wer weiß wie viel aus so einem Mädchen, – nein, so konnten sie ihre Würde nicht auf's Spiel setzen, und unterdrückten daher ihre Gefühle; – doch habe ich Grund zu glauben, daß sie noch keine echten Spartaner waren und daß beim Kuchentragen ihre Füße theilweise von dem Feuer der Ungeduld und der Erwartung beflügelt wurden.

Ferdinand war der Sohn eines einige Meilen entfernt wohnenden Pastors, dem sein Weltleben nicht erlaubte, ihn selbst zu unterrichten, und dessen Vermögensverhältnisse nicht der Art waren, für dies einzige Kind einen Hauslehrer nehmen zu können. So hatte er seinen Sohn dem befreundeten Pastor Stieg übergeben, daß er mit dessen Kindern erzogen werden und mit ihnen den Unterricht des dortigen Lehrers genießen sollte.

Der Pastor zu Burgdorf war ein stiller, ernster Mann, dem erst in späteren Jahren, nachdem er im Amte war, das volle wahre Glaubenslicht aufgegangen war, der erst nach vielen Kämpfen es glauben gelernt hatte, daß Christus uns nicht nur zur Heiligung, sondern vor allen Dingen erst zur Gerechtigkeit und Erlösung gegeben ist. Langsam und allmählig war ihm diese Erkenntniß Wahrheit geworden, es hatte lange gedauert, bis sie Berge todten Wissens und den ganzen Unglauben des Rationalismus, in dem er erzogen war, überwunden hatte, und auch nachdem es geschehen, leuchtete des Pastors neues Glaubenslicht nicht wie ein mächtiges Osterfeuer auf dem Berge, sondern wie ein stilles Lämplein auf dem Hausaltar. Es war ihm nicht viel vertrauet, was er aber hatte, das verwaltete er treu. Er hatte keine großen Gaben der Beredsamkeit, seine Predigten waren sehr schlicht, ja man behauptete zuweilen, er predige gar nicht recht was Neues, – aber er lebte seinen Bauern Gottes Wort vor, er predigte durch seinen Wandel mehr als durch seine Worte.

Und in diesem Wandel stand ihm sein Weib treu zur Seite, sie war in Wahrheit seine Gehülfin. Sehr jung, aber von einer praktischen Mutter erzogen, war sie in dies Haus getreten. Hier sah es nicht gut aus, – fast alle Stuben hatten nur festgetretenen Lehmboden aufzuweisen, und es kam vor, daß das Ehepaar bei heftigem Regen einen Schirm über das Bett spannen mußte, um nicht durchnäßt zu werden. Aber mit heiterem Muthe überwand die junge, hübsche Frau alle diese Widerwärtigkeiten und gewann durch ihr stets freundliches Wesen bald die Liebe der Gemeinde.

Die Einkünfte des Pfarrers bestanden leider zum größten Theil im Ertrag von Ländereien, – die Aufsicht über diese übernahm die Pastorin ganz allein, damit durfte ihr lieber Mann nichts zu thun haben, er hatte ja den geistlichen Acker zu bearbeiten. Ein treuer Knecht, Nolte, stand ihr hülfreich zur Seite; wenn sie ja etwas nicht wußte, da fragte sie eine alte erfahrene Bäuerin um Rath und gewann sich auch dadurch die Herzen, daß sie so »niederträchtig« und »gemein« war; aber ihr praktischer Blick sah bald, wie sie etwas am Besten einrichten konnte, – alles gedieh ihr unter den Händen; ihre Wirthschaft vergrößerte sich nicht, das war auch nicht ihre Absicht, aber sie war wohl besorgt und das verschaffte ihr bald Respekt bei den Leuten. Es dauerte nicht lange, so war das Pfarrhaus der Ort, wo alle Freuden und Leiden des ganzen Dorfes zuerst hingetragen wurden; man wußte, daß man bei Herrn und Frau Pastorin ein offenes Herz, und, wenn es Noth that, auch eine offene Hand fand. Die Pastorin war wohl innerlich reicher gesegnet als ihr Mann, aber sie wußte es nicht und sah mit unverhohlener Bewunderung zu ihm auf; reiche Geistesgaben schmückten sie, und als ein echtes Weib hatte sie längst mit Liebe den Herrn Jesum umfaßt, ehe derselbe ihr in seiner Schöne offenbar geworden. Als nun der Mann zum neuen Glaubensleben erwachte, da zog er auch seine Frau mit hinein; es ging bei ihr nicht durch schwere Kämpfe wie bei ihm, ihr wurde das »glauben« so leicht und dünkte sie so selig; – so pilgerte sie Hand in Hand mit ihrem Manne auf einem Wege mit ihm der zukünftigen Heimath zu.

Drei Kinder waren die Freude dieser Eltern, wir haben schon ihre oberflächliche Bekanntschaft gemacht. Heinrich hatte viel vom Vater, war meist ernst Und verkehrte jetzt mehr mit den Griechen und Römern als mit den Burgdorfern. Er und Ferdinand liebten sich auf's zärtlichste, obgleich sie sehr verschieden waren. Ferdinand war viel begabter als Heinrich; was er sich vorgenommen, führte er auch aus, wenn er nämlich es eben bis zum Ende wollte; er hatte stets ein Steckenpferd, das er mit glühender Liebe ritt, aber dem er leider bald treulos wurde, um sich ein anderes zu suchen. Er behauptete immer, Heinrich sei kalt wie Eis, obgleich dies nicht der Fall war. Heinrich am ähnlichsten war seine älteste Schwester Marie: sie war nicht begabt, lernte sehr schwer, war von Gesicht nicht hübsch und wurde deshalb oft von Fremden hinter ihre Schwester Elisabeth zurückgesetzt. Sie war sehr hausmütterlich und fleißig, fast über ihre Jahre hinaus, und wurde oft vom Vater seine kleine Wirthschafterin genannt, während Elisabeth, gewöhnlich Lilli geheißen, ein reizendes Kind mit blondem Lockenköpfchen, nur für die Freude und nur um zu erfreuen geschaffen zu sein schien. Ihr Helles Lachen tönte oft durch's ganze Haus, und wenn man noch so verdrießlich war, mußte man mit diesem fröhlichen Kinde fröhlich sein. Wenn eine Stube gefegt wurde oder wenn es in der Küche rauchte, so floh sie diese Orte, wenn sie irgend konnte. Im Garten war ihr liebster Aufenthalt, und es war ihr unbestrittenes Recht, zu den Sonn- und Festtagen, wenn alles im Hause rein und sauber war, jedes Zimmer mit Blumen zu schmücken, »dem Ganzen die Krone aufzusetzen,« wie Heinrich es nannte.

Aber während wir hier von Pastors plaudern, haben wir ganz vergessen, auf den Wagen zu achten, und er fährt so eben in den Hof. Marie steht in der Thür und sieht nach ihrer Mutter aus, die immer noch nicht kommt. Ferdinand und Heinrich machen den Wagenschlag auf, helfen den Damen heraus und sind bemüht, so liebenswürdig als nur irgend möglich zu sein. Lilli fällt mit einem lauten Freudengeschrei dem aussteigenden kleinen Mädchen um den Hals. Da kommt auch eben die Frau Pastorin, sie trägt noch einige Spuren von ihrem letzten Aufenthaltsorte an sich, aber sonst sieht sie freundlich und sauber aus wie immer. »Ohne Hut,« sagt Frau von Heß leise für sich, »und Mehl am Tuche! Nun, ländlich, sittlich.« Und freundlich erwidert sie des Pastors Willkommen, den der Lärm auch aus seiner Studirstube gezogen. Nun entsteht ein Küssen und Umarmen der kleinen Margareth, Jeder will Sachen tragen und greift unglücklicherweise gerade nach denen, welche ein Anderer schon gefaßt hat; der Eine bittet den Anderen, doch einzutreten, aber Niemand will vorangehen, – kurz, es entwickelt sich so viel Liebe und Confusion, als nur irgend möglich ist.

Endlich sitzen die großen Leute um den Kaffeetisch, die Pastorin hat Margareth dicht neben sich und kann es gar nicht lassen, sie immer wieder an ihr Herz zu drücken. »Ja, Du hast meiner Agnes liebe, liebe Augen,« sagt sie, »aber ihr Haar war weit heller als das Deine, – doch hätte ich Dich gleich als ihr Kind erkannt.«

»Mamas Haar ist aber jetzt dunkler als meins,« entgegnet Margareth, »es ist fast schwarz.«

»Nun, dann hat Indiens heiße Sonne es schwarz gebrannt,« antwortet die Pastorin; »o ich möchte wohl sehen, wie Deine Mutter jetzt aussehen mag! Es sind nun fünfzehn Jahre, daß ich sie nicht mehr gesehen!«

Margareth's Augen füllen sich beim Gedanken an ihre Mama mit Thränen. Ihr Vater und ihre Mutter, – das sind die beiden Pole, um die sich all ihr Sinnen und Denken dreht. Doch schnell wischt sie die Thränen fort, sie hat ihrer Mama versprochen, gegen solche wehmüthigen Gefühle wacker anzukämpfen, und sie will ihr Wort halten. Es war ihr bisher leichter geworden, als sie vorher selbst geglaubt hatte; die Abwechselungen der Reise waren für das aufgeweckte, lebhafte Mädchen sehr interessant gewesen; sie hatte jetzt so viele Menschen gesehen und kennen gelernt, sie, die früher oft ein Jahr lang keinen Weißen zu Gesicht bekommen hatte, sie war wie in einer neuen Welt, und heute, da sie hier angekommen, wo für eine lange Zeit nun ihr Aufenthalt sein sollte, da war's ihr vollends alles wie ein Traum.

»Willst Du nicht ein wenig hinausgehen zu den Kindern, liebe Margareth?« fragte die Pastorin.

Margareth schüttelte den Kopf.

»Sie ist wohl müde und abgespannt von der Reise,« sagte Frau von Heß.

Draußen war sie natürlich Gegenstand des Gespräches.

»O, sie ist reizend!« rief Lilli, »ich habe sie schon schrecklich lieb.«

Marie mußte es in ihrem Herzen bestätigen, daß sie sehr hübsch sei; aber der Neid flüsterte ihr zu: »Du bist lange nicht so hübsch, Jedermann wird auch sie lieb haben und Dich wird gar Niemand mehr beachten.«

»Ja, sie ist reizend,« wiederholte Ferdinand, »aber sie ist gewiß auch sehr stolz,« und heimlich freute er sich, daß sie ihn nicht mit einem Kuchenblech im Arme gesehen hatte.

»Wir können noch gar nicht wissen, ob sie stolz ist,« sagte Heinrich, »sie hat ja noch kein Wort mit uns gesprochen.«

»Eben deswegen,« antwortete Ferdinand sehr entschieden.

»Wißt Ihr,« sagte Marie nach einer kleinen Pause, »sie wird auch wohl nicht herauskommen, deshalb wollen wir hier nicht länger auf sie warten, sondern –«

»Bildest Du Dir etwa ein,« unterbrach sie Ferdinand, »daß ich auf sie gewartet habe? – O, da irrst Du sehr!«

»Sondern wir wollen,« fuhr Marie ruhig fort, »Eier suchen gehen. Wir haben erst sechs Eier zu übermorgen, und ganz gewiß haben die Hühner noch welche verlegt. Ich habe heute mehrere Male auf dem hintersten Heuboden gackern hören, nun wollen wir Alle noch recht suchen.«

Der Vorschlag war so einleuchtend, daß er einstimmig angenommen wurde, und augenblicklich sah man die vier Kinder über den Hof eilen, und sich auf den verschiedenen Böden und Ställen zerstreuen.

Uebermorgen war nämlich großes Kochfest. Das war nur drei Mal im Jahre: am zweiten Weihnachts-, am zweiten Oster- und am zweiten Pfingstfeiertage. Große Vorbereitungen wurden dazu getroffen, die Mutter öffnete ihre Speisekammer und Keller und gab den Kindern allerhand gute Dinge. Ja, sie war oft selbst dabei und half den kleinen Köchen, aber nie ordnete sie etwas an, die Kinder mußten alles selbst bestimmen, die Mutter gab nur guten Rath, wenn er begehrt wurde. Zu den Privilegien dieses Kochfestes gehörte auch, daß alle Eier, welche die Hühner in den letzten acht Tagen verlegten, d. h., die an einem andern Orte als in dem bestimmten Hühnerneste lagen, den Kindern gehörten. Da wurden denn eifrige Nachforschungen gehalten, – war das Glück sehr gut und fanden sie mehr Eier als sie brauchen konnten, so tauschten sie bei der Mutter andere Dinge dafür ein. – Um Mittag des zweiten Festtages wurde in der großen Küche, die ihnen für diesen Nachmittag ganz gehörte, angefangen zu kochen. Gewöhnlich konnten mehrere Tauben oder ein Huhn gekocht werden, allerlei kräftige Speisen folgten, und Flammri mit Weinsauce machte fast immer den Schluß. Gegen sechs Uhr war alles fertig, die erhitzten Köche theilten ein, Lilli zierte die Speisen, die ihr zufielen, noch mit Blumen und grünen Blättern, – und dann ging's zur Thür hinaus in's Dorf. Wo ein krankes Kind lag, das wurde besucht, und jedes bekam das Essen, was ihm nach der Meinung der Pastorin gerade gut war. Marie und Lilli hatten sich verabredet, welche Kinder diese, und welche jene besuchen sollte, die Knaben begleiteten die Mädchen und halfen ihnen tragen, – so wurde die Runde durch's Dorf gemacht, immer wieder frischer Vorrath aus der Pfarrküche geholt, bis alle kranken Kinder ihr Teil bekommen hatten. So hatten sie's schon seit vielen Jahren gehalten, die armen Kinder freuten sich schon lange vorher »up de Pastorskinner groote Kokeri,« und Letztere empfanden auch hierbei, wie viel seliger Geben ist als Nehmen.

Ja, es war ein wichtiger Tag; aber natürlich – Eier, viele Eier waren zu den Krankenspeisen durchaus nöthig. Deshalb war die Freude groß, als Ferdinand, einen lauten Schrei ausstoßend, aus der Luke des obersten Heubodens rief: »o, ich hab's, ich hab's, ein ganzes Nest, ich glaube, sechszehn oder siebzehn Eier!«

Glühend vor Freude lief Lilli in's Haus, riß die Stubenthür auf und rief den im ernsten Gespräch dort Sitzenden zu: »Denkt Euch, Ferdinand hat auf dem Heuboden ein Nest mit siebzehn Eiern gefunden!«

Die Pastorin wandte sich zu Margareth und erklärte dieser die Ursache von Lillis Freude. Diese lief zur Thür hinaus, aber nur um einen Augenblick später das Köpfchen wieder hereinzustecken und zu sagen: »Mutter, die Kinder sind da, willst Du uns nicht die Kuchen geben?«

Die Pastorin stand auf, Lilli aber blieb noch zögernd stehen; plötzlich eilte sie auf Margareth zu und sagte: »Wir verteilen jetzt den Pfingstkuchen an die armen Kinder! O, komm mit, Du sollst nur mal sehen, wie sie sich freuen.«

Einer so freundlichen Aufforderung konnte Margareth nicht widerstehen; sie trat mit Lilli, welche ihre Hand fest in der ihrigen hielt, auf die Diele. Hier waren ganze Berge kleiner, runder Kuchen aufgehäuft, und die Kinder trugen immer noch mehr herbei. Dann kam eins der armen Kinder nach dem andern herein, jedes empfing seinen Kuchen, oder auch mehrere für die kleinen Geschwister zu Hause, und ein freundliches Wort dazu, jedes gab den kleinen Gebern die Hand und sagte: »Gott lohn' es.« Viele der Kinder brachten Blumensträuße mit, die sie im Walde gepflückt hatten, die Maiblumen standen jetzt in bester Blüthe, und je kleiner die Kuchenberge wurden, desto größer wurden die Blumenberge. Margareth hatte große Freude an den Blumen, sie hatte noch nie Maiblumen gesehen, und Lilli schenkte ihr im größten Liebeseifer alle ihre Sträuße; Heinrich that dasselbe in seiner stillen Weise, während Ferdinand mit einer Art von kavaliermäßiger Verbeugung, die sehr schlecht zu seinen Worten, daß er sich um kein Mädchen kümmere, paßte, ihr alle seine Bouquets überreichte. Marie wollte es auch thun. »Aber sie hat ja schon so viele,« dachte sie und setzte die ihrigen in Gläser, »ich sehe nicht ein, warum sie alles haben soll.« Hernach aber reuete sie diese häßliche Regung und sie trug alle ihre Blumen in das Gemach, wo Margareth schlafen sollte, und ordnete sie dort zierlich.

So verging der erste Tag. Margareth war es leichter um's Herz als seit vielen Tagen. Sie fühlte, daß sie hier eine Heimath und Elternliebe gesunden habe, und mit dem Gedanken an das süße, liebliche Lockenköpfchen Lilli's schlief sie ein. Die Majorin von Heß aber dachte: »Nun, es scheinen ganz gute Leute hier zu sein, – aber augenscheinlich sehr beschränkt. Sie leben eben ganz zufrieden hier, weil sie's nicht besser wissen. Margareth, das reich begabte, schöne Kind wird hier verbauern, fürchte ich, wird beschränkte Ansichten annehmen, – nun, nur gut, daß ich sie dann ein Jahr in Berlin habe, dort wird sie die niedrigen Gesinnungen eines Dorfpfarrhauses bald verlernen.«

Das Pfingstfest war vorüber, Frau von Heß war abgereist, und allmählig kehrte alles wieder in das Alltagsgeleise des gewöhnlichen Lebens zurück. Margareth fand sich leicht in das deutsche Leben, das doch von dem, welches sie bis jetzt geführt hatte, ganz verschieden war. Sie war ein ungewöhnlich reich begabtes Kind, ein weit über ihre Jahre hinausgehender Verstand, ein treues Gedächtniß hatten ihre Bildung sehr begünstigt. Dazu war sie meist das einzige Kind gewesen, mit dem die liebenden Eltern sich so viel als möglich beschäftigt hatten; aber sie hatten nicht nur ihren Geist, sondern noch viel mehr ihr Herz zu bilden gesucht, sie hatten ihres Missionsdienstes am eigenen Kinde nicht vergessen, und Margareth stand seit ihrem zartesten Alter in einem vertrauten Verkehr mit ihrem himmlischen Vater und sie betete zu Jesu, dem Sohne Gottes, lange, ehe sie erkannt hatte, wer er war, und je älter sie wurde, je lieber wurde ihr Jesus als ihr Heiland und Herr. Dabei nannte sie auch große Geistesgaben ihr eigen; eine reiche Phantasie und ein sehr poetischer Sinn ließen ihr oft die prosaischsten Dinge in einem ganz anderen Licht erscheinen; sie spielte ziemlich gut Klavier, und ihre Stimme war so süß, wenn sie sang, als sei sie eigens geschaffen, um Gott den Herrn zu loben.

In alle diesem lag aber eine große Gefahr für Margareth verborgen. Gerade weil sie hübscher war, mehr Scharfblick und Erfahrung hatte als andere Kinder ihres Alters, war sie meist die Herrin in allen ihren Kreisen. Sie bestimmte, was gespielt werden sollte, sie richtete alles ein, wie sie es wollte, wie es aber gemeiniglich auch am Besten war. So war es in Indien gewesen, wenn sie mit den Kindern der dortigen getauften Eingeborenen gespielt hatte, deren Eltern ja so wie so schon jeden Weißen einen »Herrn« nennen und sich vor der Tochter ihres Padris willig beugten. Hatte doch die alte Wärterin Margarethens sie oft auf irgend eine Erhöhung gestellt, und war dann niedergekniet, um sie anzubeten! – Aber auch im Pfarrhause zu Burgdorf schien es eben so zu werden. Bald war Margareth die Seele aller Spiele: wenn sie nicht dabei war, däuchte es den Knaben langweilig und der kleinen Lilli einsam zu sein; und wenn sie anfing, von ihrem Vaterlande zu erzählen, dann saß auch Marie neben ihr und hörte ihr aufmerksam zu.

»Tragen denn die Kinder in Indien auch Kleider?« fragte Lilli eines Tages.

»Die kleinen Kinder laufen ganz nackt umher,« entgegnete Margareth, »die größeren tragen zwar keine Kleider wie hier, aber sie haben ein großes Stück weißes, baumwollenes Zeug, das wissen sie sich so geschickt umzulegen, daß es ganz wunderhübsch aussieht.«

»Aber bleibt denn der Ueberwurf auch lange rein? Und waschen sie sich selbst recht ordentlich?« fragte Marie.

Margareth lachte. »Ja, wenn man sie selbst in's Wasser steckt, sonst thun sie es nicht. Papa und Mama haben einmal eine ganze Menge kleiner Mädchen, die bei Mama das Stricken lernten, an die Quelle neben unserm Hause geführt, haben jedem ein kleines Stück Seife in die Hand gegeben und ihnen gesagt, sie sollen sich ordentlich waschen, Papa und Mama wollten ein halb Stündchen spazieren gehen und sie auf dem Rückwege wieder abholen. Sie versprachen auch Alle, es zu thun. Als aber die Eltern wieder kamen, da hatten sie sich Asche und Kuhmist auf den Kopf gelegt und sich mit Asche das Gesicht und den ganzen Körper eingerieben; sie sahen schrecklich aus, und die Seife, ja denkt mal, die Seife hatten sie aufgegessen.«

»Wohl bekomm's,« rief Ferdinand, während Marie und Heinrich »pfui, pfui,« sagten, Lilli aber ganz entsetzt das Köpfchen schüttelte.

Margareth fuhr fort: »Nicht nur die Kinder in Indien, sondern auch die großen Leute lieben die Blumen sehr. Sie schmücken sich gern damit und stecken sie überall hin, was oft drollig genug aussieht; aber am liebsten haben sie eine häßliche, gelbe Blume, die sehr schlecht riecht, und von der Papa mir sagt, daß sie auch in Deutschland wächst, ich habe ihren Namen jedoch vergessen.«

»Wachsen denn viele schöne Blumen in Indien?« fragte Lilli.

»Herrliche,« antwortete Margareth, »ich habe hier noch nirgend so schöne, so große, mit so prächtigen Farben gesehen, obgleich ich glaube, daß ich die kleinen Maiblumen und Vergißmeinnicht, die es hier giebt, doch lieber habe. Es gab aber bei uns herrliche Rosen, mit denen sind ganz große Strecken bepflanzt, weil die Leute daraus Rosenöl machen; dazu brauchen sie viele, denn Papa sagte mir, daß 4000 Pfund Rosen kaum ein halbes Pfund Oel geben. Unser Haus war fast von oben bis unten mit Rosen bewachsen; dann hatten wir eine Blume, die so brennend scharlachroth aussieht, daß man in der Ferne glühende Kohlen zu sehen glaubt, darum heißt sie auch »Waldflamme.« Aber viel schöner ist eine andere, die »das Blatt der Prinzessin« heißt und wunderschöne, weiße Blüthen hat, die sie regelmäßig des Nachmittags um vier Uhr entfaltet, und Morgens vier Uhr wieder schließt. Und die Bäume solltet Ihr sehen, ich glaube, solche hohe giebt es hier nicht! Wie prächtig sind die hohen Kokospalmen mit himmelanstrebenden Stämmen und kleinen Kronen oben; und dann hatten wir ganze Wälder von den Mango-Pflaumenbäumen, die stehen dicht zusammengedrängt mit den breitblättrigen großen Zweigen, so daß kaum ein Sonnenstrahl durchdringen kann, – o, solche Wälder sind wunderschön!«

»Hast Du schon eine deutsche Eiche gesehen?« fragte Heinrich empfindlich.

»Nein, nur auf Bildern, aber ich möchte sie wohl sehen.«

»Nun, wir wollen nächstens in den Wald gehen und dann wirst Du doch sagen müssen, daß die Eiche der König aller Bäume ist. Und auch zu den dunklen Tannen will ich Dich führen, die immer grün sind, – hattet Ihr in Indien auch immer grüne Bäume?«

»Wir hatten in jedem Jahre zwei Erndten,« antwortete Margareth ausweichend, »die erste im April, die andere im November. Vom Oktober bis März ist die sogenannte kalte Zeit, vom März bis Juni ist es furchtbar heiß und vom Juni bis September regnet es unaufhörlich.«

»Aber wann war denn der Winter?« fragte Marie.

»Winter ist dort gar nicht, – die Regenzeit betrachtet man wohl als solchen.«

»Hast Du denn noch nie Schnee gesehen?« fragte Ferdinand.

»Ja, ich habe welchen gesehen. Wir wohnten am Fuße des Himalayah, aber als es auch einmal dort so heiß war, daß wir es gar nicht aushalten konnten, und Alle krank waren, da reiste Papa mit uns in die Berge, und da hat er mir auch Schnee gezeigt.«

»Dann brauchtet Ihr auch wohl keine Oefen in den Stuben?«

»Bewahre, aber Pankahs hatten wir überall.«

»Pankahs? was sind das für Dinger?«

»Das sind große, große Fächer, welche an der Decke der Zimmer befestigt sind, sie werden durch eine Schnur fortwährend bewegt und diese Bewegung bringt frische, kühle Luft in die Stuben, sonst wäre es auch gar nicht auszuhalten.«

»Ja, aber wer besorgte denn das Drehen immerzu?« fragte Marie.

»Nun, das besorgte einer unserer Hindudiener,« antwortete Margareth.

»Einer?« entgegnete Marie ganz bestürzt, »hattet Ihr denn mehrere?«

»Natürlich, ich glaube, wir hatten zwölf Diener und eine Wärterin.«

Die verwunderten Gesichter der Kinder waren ergötzlich anzusehen. »Zwölf Diener.« »Nein, aber!« »So viel hat ja Niemand hier.« »Ich glaube, der König hat nur zwölf!« Das waren die verwunderten Ausrufe, die durch einander ertönten.

»Ja,« sagte Margareth sehr ruhig, sich augenscheinlich an dem Erstaunen der Anderen freuend, »und das sind noch sehr wenige. Einigermaßen vornehme Engländer oder Hindus in Indien halten sechzig, achtzig, ja hundert Diener. Aber zwölf muß man zum wenigsten haben, denn es hängt mit ihrer Religion zusammen, daß ein Diener immer nur ein Geschäft besorgt. Der Wäscher besorgt die Wäsche, der Koch kocht das Essen, der Ausgeher kauft ein, was nöthig ist, der Wasserträger holt Wasser, der Reinmacher macht die Stuben rein, der Wischer wischt alles ab, der Lampenputzer putzt die Lampen, der Pankahdreher zieht den Pankah, – nie würde Einer das Geschäft des Andern übernehmen, und wenn er auch wollte, so dürfte er es nicht; denn seine Religion verbietet es ihm. Aber er thut auch nicht gern viel, setzt sich lieber mit gekreuzten Beinen an die Erde und denkt nach. Mama sagt: die Leute in heißen Ländern können und mögen nie so viel arbeiten, als die in kalten; aber dafür kosten die Ersteren auch viel weniger, ein paar Hände voll Reis, – das ist ihre tägliche Nahrung.«

»Ach, das muß schrecklich langweilig sein, alle Tage Reis essen,« klagte Lilli.

»Ja, die Hindus sind darum auch so klein und mager, weil sie fast nur Reis, aber nie Fleisch essen.«

»Fleisch dürfen sie nicht essen, das weiß ich aus dem Unterricht,« sagte Heinrich, »weil sie glauben, daß, wenn ein Mensch stirbt, und er hat nicht ganz gut gelebt, seine Seele in irgend ein Thier fährt, und wenn das Thier stirbt, so muß die arme Seele wieder in irgend ein anderes Thier wandern, und so muß sie achtzig Millionen Mal geboren werden, zuletzt wieder in einem Menschenleibe, und wenn sie dann als Mensch ganz gut lebt, so geht sie in den Himmel ein und versenkt sich ewig selig in Gott; lebt sie aber in dieser letzten Geburt schlecht, dann kommt sie in die Hölle und leidet ewige Qual. Darum nun darf der Hindu kein Thier tödten, weil er ja sonst irgend einen Menschen dadurch tödten könnte, nicht das kleinste Insekt wagt er zu zertreten, – es könnte ja die Seele seines Vaters dann sein! Ja, so weit geht seine Sorge, nicht wider dies Gebot zu sündigen, daß er oft einen Schleier trägt, damit er beim Einathmen nicht unversehens ein kleines Thier verschluckt.«

»Nun, das gefällt mir von den Hindus,« sagte die kleine Lilli, »ich mag auch gar nicht gern, daß Thiere getödtet werden.«

»Aber Du ißt doch gern gebratene Tauben, und heute Mittag der Kalbsbraten hat Dir auch sehr gut geschmeckt,« bemerkte Heinrich. Lilli erröthete. Marie aber, der noch immer die zwölf Diener im Sinne lagen, fragte Margareth: »Aber warum kochte denn Deine Mama das Essen nicht selbst?«

Diese antwortete: »Das ging nicht. Mama hätte nicht während der Hitze in der Küche sein können, das kann kein Europäer ertragen, dann aber hatte sie ja auch anderes zu thun. Es war doch viel wichtiger, daß sie die armen Kinder, die nichts von Gott wußten, unterrichtete, ihnen vom Herrn Jesu erzählte und sie Nähen und Stricken lehrte, und wenn sie den Frauen Gottes Wort sagte, – denn Papa durfte nie mit den Heiden-Frauen sprechen, – als wenn sie alle Tage so oft nach der Küche hin- und hergelaufen wäre.«

»War denn Euer Haus so groß?«

»Die Küche war nicht im Hause, – die lag ein ganzes Stück entfernt vom Hause wegen der Hitze. Mama aber gab dem Koch täglich alles heraus, was zum Essen gehörte, denn die Diener betrogen und belogen sie so sehr, vorzüglich im Anfang, als wir lauter heidnische hatten.«

Es muß doch ein wunderbares Land sein, dies Indien, dachten die Kinder, alles so ganz anders als in Burgdorf. Marie fand es sehr verkehrt, in Ferdinand regten sich allerlei abenteuerliche Reisegedanken, – Allen aber kam Margareth als etwas ganz Bedeutendes vor, sie hatte schon viel gesehen und erfahren, sie war ihnen eine sehr wichtige Person. Margareth merkte recht gut, wie die Kinder sie bewunderten, sie war immer bereit, ihnen von Indien zu erzählen, denn es war so hübsch, stets aufmerksame Zuhörer zu haben, und ihnen Dinge mitzutheilen, von denen sie noch gar nichts wußten. Sie hatte rasch Aller Herzen gewonnen, und man mußte das schöne, begabte Kind, das noch dazu der Goldschein der Interessantheit umgab, wirklich schnell lieben; es war Margareth diese Liebe als Ersatz für die ferne Elternliebe auch wohl zu gönnen, nur schade – im Sonnenschein des Glückes gedeiht das zarte Pflänzchen der Demuth so selten!

Mehrere Wochen waren vergangen. Margareth nahm nun ordentlich an allen Unterrichtsstunden der anderen Kinder Teil, nur die englische brauchte sie nicht mehr zu nehmen, da sie diese Sprache eben so gut wie die deutsche sprach. Eine neue Ursache zur Bewunderung! Noch nie hatten die Kinder ein Kind gesehen, das eine fremde Sprache so fertig sprechen konnte; was sie mühsam erlernen mußten und was dann holprig und uneben aus ihrem Munde kam, das floß nur so von Margareths Lippen. Selbst der Vater, – sie konnten es sich nicht verhehlen, – konnte lange nicht so fließend sprechen wie sie. Marie wurde das Lernen besonders schwer, und obgleich Margareth stets bereit war, ihr bei ihren englischen Arbeiten zu helfen, so konnte doch diese es nicht über sich gewinnen, sie mit recht liebevollen Augen anzusehen. Die arme Marie! Sie wollte doch so gern geliebt und bevorzugt werden, und wurde meist übersehen oder gar zurückgesetzt. Von den Eltern zwar konnte sie dies letztere nicht sagen, sie machten keinen Unterschied zwischen ihren Kindern, – doch das wollte Marie ja eben, sie wollte so gern das geliebteste und beste Kind sein. Aber die Brüder und Alle, die im Hause ein- und ausgingen, zogen ihr Lilli ganz augenscheinlich vor. Natürlich, Lilli kam Jedermann stets heiter und fröhlich entgegen, während Marie gesucht sein wollte, und oft durch verdrießliches Wesen abstieß. Allein bis jetzt war es doch nur Lilli gewesen, die ihr vorgezogen wurde, ihre Schwester, die sie herzlich liebte, aber nun kam eine Fremde, die viel hübscher war als sie, die viel mehr wußte und kannte als sie, die durch fröhliches und lebhaftes Wesen alles für sich einnahm, nun war die arme Marie, wie sie meinte, vollständig in die Ecke geschoben und Niemand dachte mehr an sie; – was aber hatte sie denn gethan, was konnte sie dafür, daß sie nicht so hübsch und so klug war und soviel erzählen konnte wie Andere? – Das waren Maries selbstsüchtige Gedanken, mit denen sie sich immer tiefer in ein eingebildetes Leiden hinein dachte.

Bis jetzt hatte Margareth noch nichts gethan, daß Maries lieblose Gefühle gegen sie gerechtfertigt gewesen wären. Sie hatte das aufrichtige Verlangen, gegen Jedermann freundlich und liebreich zu sein; ihre Mama hatte ihr so viel Liebes und Gutes von Pastor Stiegs und deren Kindern erzählt, daß sie schon um deßwillen Alle von vornherein liebte. Aber bald merkte sie, daß sie Marie im Wege war, daß diese ihre Freundlichkeit mit Unfreundlichkeit erwiderte und über jede Kleinigkeit, die Margareth ihr etwa zuwider that, lange Zeit verdrießlich war und zürnte. Sie sah, daß Marie sie um jede Liebkosung ihrer Eltern beneidete und auf irgend ein Recht, das sie als älteste Tochter des Hauses hatte oder zu haben meinte, mit Trotz bestand. Margareth war zu gutmüthig und eigentlich auch zu glücklich, um Gleiches mit Gleichem zu erwidern, sie sah recht wohl, daß Marie nicht ihr, sondern nur sich selbst durch ihr Betragen schadete; so ließ sie sie eben gehen und schloß sich mehr an Lilli und die Knaben an, sie war freundlich und zuvorkommend gegen Marie, konnte es jedoch oft nicht lassen, wenn diese sich große Blößen gab, sie bald auf harmlose, bald auf lieblose Art zu necken, wie es ihr gerade in den Sinn kam, wobei sie die Lacher stets auf ihrer Seite hatte, die arme Marie aber immer bitterer machte. – Hätte diese Scherz mit Scherz, Neckerei mit Neckerei, Lachen mit Lachen erwidert, so wäre alles fröhlich und friedlich abgelaufen, aber das konnte sie nicht, und unglücklicher Weise bot Marie durch ihre schwerere Fassungsgabe Stoff genug zu allerhand nicht bös gemeinten Witzen. Nun beschloß sie, wenn sie denn bei den Geschwistern keine Anerkennung fand, diese bei vernünftigen Personen zu suchen; sie warf sich mit einem Eifer, der weit über ihre Jahre ging, auf Wirthschaftsangelegenheiten; auf diese war überhaupt ihre ganze Neigung gerichtet, und sie war wirklich bald eine ganz perfekte kleine Köchin und rechte Stütze ihrer Mutter. Aber obgleich diese sie zuweilen darum lobte, so fand Marie doch auch bei den Eltern die Anerkennung nicht, die sie suchte, ja sie zog sich oft Tadel zu, wenn sie über allerlei häusliche Dinge, die ihr für jetzt noch nicht befohlen waren, das Lernen in der Schule versäumte.

So hatten aber die Dinge schon vor Margareths Ankunft gestanden, durch ihr Hiersein wurden sie nur verstärkt und zum Ausbruch getrieben. Die Eltern kannten ihre Kinder wohl, jetzt war ja auch Margareth ihr ihnen anvertrautes Kind, und sie beobachteten sie Alle mit sorgenden und liebenden Augen. Der Vater mischte sich selten ein, er wirkte mehr indirekt durch seinen Unterricht und Umgang auf sie, er wußte, daß seine Frau am besten geeignet war, die Kinder auf ihre Fehler aufmerksam zu machen und sie ihnen besiegen zu helfen. Die Pastorin sah mit Schmerz, wie Margareth und Marie zu einander standen, wie Letztere sich unaufhörlich an der Ersteren wund rieb, wie sie sich allmählich aus dem Wege gingen und einander fremder wurden. Aber Pastor Stiegs machten es nicht, wie manche Eltern es in ähnlichen Fällen thun: sie trennen diejenigen Personen, die nicht gut mit einander auskommen können, und erreichen dadurch wirklich ihr Ziel, nämlich Ruhe und Frieden zu haben. Ob diese Eltern ihren Kindern auf dem ganzen Lebenswege alles Störende, alles, was sie reizt, was ihnen Neid oder Unbequemlichkeit verursacht, werden wegräumen können? Ich bezweifle es. Und wenn sie es könnten, was hätten sie damit gewonnen? Sie hätten, um hier einigen unangenehmen Stunden zu entgehen, die Seelen ihrer Kinder hingegeben. Kein häßliches Gesicht kann die Macht der Eitelkeit, keine Armuth die Sucht nach Reichthum, keine Demüthigung den Stolz aus unserm Herzen bannen, – von innen heraus müssen die bösen Feinde überwunden werden, und dies tägliche Streiten und dies tägliche in der Macht Christi sich selbst Ueberwinden, – das ist ja das verordnete Tagewerk des Christen; wehe Dem, der diese seine Arbeit nicht thun will, der sie von sich abschüttelt, – der Herr des Weinbergs kann ihm am Abend seinen Lohn nicht geben, wenn er nicht treu war in der Arbeit, die ihm befohlen.

Eines Nachmittags saßen die drei Mädchen wie gewöhnlich mit ihrer Handarbeit um die Mutter herum auf der großen »Diele,« die im Sommer Versammlungszimmer der ganzen Familie war. Marie, die ihre Hände in der Küche so fleißig rühren konnte, ließ sie oft in den Schooß sinken, wenn sie die Näherei halten sollten. Lilli waren die Handarbeiten auch etwas langweilig, doch wußte sie, ihre »Zahl« mußte gemacht werden; so meinte sie, wäre es besser, so rasch als möglich damit fertig zu werden. Margareth hingegen arbeitete emsig, ihr war es ein Vergnügen, und sie unterhielt die Andern mit allerlei Erzählungen, so daß Lilli erklärte: »es ist nicht mehr halb so schrecklich zu nähen, seit Du hier bist, wie früher.«

»Marie, was sitzest Du wieder in Gedanken?« mahnte die Mutter, als sie wieder und wieder sah, daß Marie die Nadel in der Hand hielt, ohne sie zu gebrauchen.

»Liebe Tante,« sagte Margareth rasch, »ich glaube, Marie sitzt nie in Gedanken, denn sie hat gar keine.«

»Schäme Dich, Margareth,« sagte die Mutter streng und sie so unwillig wie noch nie ansehend, »wie kannst Du so lieblos sein? Kannst Du in andrer Leute Herz sehen?«

Margareth erröthete und senkte die Augen. Aber mehr als alles schmerzte die Mutter, als sie sah, wie bei ihren letzten Worten eine Freude über Marie's Gesicht zuckte.

Jetzt kamen die Knaben und sagten, daß es vier Uhr, also Vesperzeit sei. Die Mutter stand aus, rahmte fünf »Setten« dicker Milch ab, und dann bekam jedes der Kinder ein Stück Brod und eine solche »Sette« der schönen kühlen Milch. Jeder suchte sich einen schattigen Platz auf dem Hofe, wo er sich mit seiner Mahlzeit niederließ, oft hart bedroht von den Hühnern, welche wohl wußten, daß der Rest der Milch ihnen gehöre. Hatten die Kinder ihren Hunger gestillt, dann setzten sie die steinernen Näpfe mitten auf den Hof, riefen: Tuck, Tuck, und herbei flog die ganze Schaar, den Schnabel tief in die Milch steckend und dann mit einem fröhlichen Blick nach Oben die angenehme Kost hinunter schlürfend.

Aber warum wollte denn Margarethe heute ihr Vesper nicht schmecken? Warum fiel hie und da eine Thräne in ihre Milch? O sie war wieder so häßlich gewesen; – wenn ihre süße Mama das gehört hätte, wie würde es sie gekränkt haben! Sie suchte Marie allein zu treffen, und es gelang ihr. »Liebe Marie, denke nicht mehr daran, daß ich so lieblos war, bitte, bitte.«

»Du hast ja gesagt, ich kann überhaupt nicht denken,« entgegnete diese, unwillig forteilend.

Es war ein unerquickliches Beisammensein, als sie wieder Alle auf der Diele mit ihrer Arbeit saßen. Die Mutter war ganz ernst und sprach gar nicht, Lilli sah höchst unglücklich von Einem zum Andern, Margareth schien fortwährend mit Thränen zu kämpfen und Marie nähte mit einer solcher Energie, daß sie kein Auge von der Arbeit verwandte. Sie hatte die Mutter am Fenster gesehen, als sie Margareth so schnöde geantwortet, es war kein Zweifel, diese hatte ihre Worte gehört und nun schlug ihr das Gewissen.

Als endlich die Arbeitszeit vorbei war, ging die Mutter in ihre Stube. Margareth steckte schüchtern den Kopf zur Thüre hinein. »Darf ich kommen, liebe Tante?« fragte sie.

»Du darfst stets zu mir kommen, mein Kind,« war die Antwort. Ermuthigt durch den freundlichen Ton, trat Margareth näher. Sie eilte gleich auf die Pastorin zu, umschlang sie mit ihren Armen und sagte bittend: »O liebe Tante, vergieb mir doch nur wieder mein böses Wesen; es thut mir wirklich sehr leid.«

»Ja, Margareth, Du mußt aber auch ernstlich gegen Dich kämpfen. Läßt Du Deiner Neigung zum Spotten den Zügel schießen, so nimmt sie alle Liebe mit fort, – und das willst Du doch nicht?«

»O nein, gewiß nicht! Aber sage mir nur, wie ich es machen muß, um es nicht wieder zu thun?«

»Ich glaube das beste Mittel besteht darin,« sagte die Pastorin, »daß Du nicht mehr an Dich, sondern recht viel an andere denkst. Du weißt, ich habe gegen eine unschuldige Neckerei nichts, – aber sie muß Niemand weh thun. Da denke also stets, ehe Du Deinen Mund öffnest: wird das dem Andern lieb oder leid sein? Tritt der letztere Fall ein, dann schweige, hier ist die Grenze. Ein an und für sich ganz harmloses Wort ist nicht mehr harmlos, sobald man voraussehen könnte, daß es Jemand beleidigen würde, und, liebe Margareth, Deine heutige Bemerkung war nicht nur nicht harmlos, sondern auch unwahr.«

»Ja, Tante, ich habe das eingesehen, sobald Du mich so böse ansahst. Aber wenn ich mir auch noch so fest vornehme, es nicht wieder zu thun, so thue ich es doch. Was soll ich denn anfangen, wenn ich wieder so häßlich bin?«

»Dann sollst Du wieder zu mir kommen, mein Kind,« sagte die Pastorin, indem sie Margareths Stirn küßte, »dann wollen wir uns wieder unser Leid klagen und einander helfen.«

Margareth sah sie an, – ja wirklich, die Pastorin hatte Aehnlichkeit mit ihrer Mama. »Tante,« rief sie fröhlich und aller Traurigkeit vergessend, »Du bist wirklich wie meine Mama!«

»Wirklich?« sagte die Pastorin lächelnd, – »nun geh' aber auch hin und mache Dich mit Marie gut Freund.«

Einen Augenblick zögerte Margareth. Sie hatte der Tante von ihrem mißgeglückten Friedensversuche erzählen wollen, – aber sie überlegte, daß das Marie nicht lieb sein würde, und so schwieg sie.

Am Abend war Marie erst nach Margareth und Lilli zu Bett gegangen. Als die Mutter später in's Schlafzimmer kam, fand sie diese Letzteren schlafend, Jene aber wachend. Sie setzte sich an ihr Bett, Marie fing an zu weinen'. »O Mama, ich glaubte, Du wolltest gar nichts mehr von mir wissen.«

»Und warum glaubst Du das, mein Kind?«

»Weil ich so schlecht bin,« schluchzte Marie.

»Wenn Du auch ein böses, unartiges Kind bist,« entgegnete die Mutter, »so bist und bleibst Du doch mein liebes Kind. Aber ich fürchte, Du glaubst es selbst nicht, was Du eben sagtest; daß Du nämlich schlecht bist. Ich fürchte im Gegentheil, daß Du Dich für sehr vortrefflich und gut hältst. Denn, wenn Du das nicht thätest, so würdest Du nicht verlangen, daß wir Dich Deinen Geschwistern und Denen, die wir an Kindesstatt in's Haus genommen haben, vorziehen sollten.«

»Nein, nicht vorziehen,« erwiderte Marie, »aber wenn Ihr nur eben so gut und freundlich mit mir wäret, als rnit ihnen.«

»Liebe Marie, besinne Dich einmal recht, ob Vater oder ich je mit Dir anders gewesen sind als mit den Geschwistern? Bist Du aber böse, zänkisch, verdrießlich, neidisch und abstoßend, so ist es wohl natürlich, daß wir Dich um solches Betragen hart anlassen müssen, – Gott weiß, daß es uns dann weher thut als Dir.«

»O Mama, – und die Andern! Necken und höhnen sie mich nicht immerfort, und sie spielen stundenlang ohne mich und kümmern sich gar nicht um mich.«

»Das ist Deine Schuld, Marie, einzig Deine Schuld. Gingest Du fröhlich auf ihre Scherze und Spiele ein, so würden sie Dich nicht vernachlässigen. Aber es ist unleidlich, so ein verdrießliches Wesen, wie Du jetzt meist bist, um sich zu haben. Ich höre doch auch, daß die Andern sich unter einander necken und foppen, aber da wird's in Fröhlichkeit ausgenommen oder wiedergegeben und Niemand macht etwas daraus.«

Marie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Früher bin ich nie so schlecht gewesen, – aber diese Margareth, seit sie im Haufe ist, – o, ich kann sie gar nicht lieb haben!«

»Und warum nicht?« fragte die Mutter.

Ja, das war eine schwere Frage; Marie hatte keine Antwort darauf. Sie konnte nichts Böses von Margareth sagen, es wäre eine Lüge gewesen. Sie konnte sie nicht der Unfreundlichkeit, der Ungefälligkeit zeihen. Aber sie konnte es auch nicht über sich gewinnen, ein offenes Bekenntnis ihres Neides abzulegen, – so schwieg sie ganz.

»Ich will Dir etwas sagen, Marie, nun höre mir recht zu. In Deiner Seele sitzt ein großer, schwarzer, Wurm, der heißt: Selbstliebe. Statt diesen Wurm zu tödten in Dir, fütterst Du ihn gar fleißig mit Einbildungen von eigener Vortrefflichkeit, mit Gedanken von Deinem Gutsein und mit Klagen, wie Du doch zurückgesetzt wirst. Schon ist der böse Wurm so groß geworden, daß er fast Dein ganzes Herz, erfüllt; Liebe, Freude, Friede, Freundlichkeit, Gefälligkeit und wie alle die schönen Tugenden heißen, welche das Herz eines christlichen Kindes zieren, die haben keinen Platz mehr in dem Deinen, der böse Wurm hat sie schon fortgedrängt. Neid, Hochmut und Empfindlichkeit sind an die Stelle von Liebe und Demuth getreten, – o Marie, wenn Du den Wurm noch ferner wachsen läßt, so wird er Dir Leib und Seele verderben zur Hölle.«

»Was soll ich aber machen?« schluchzte Marie.

»Erstens und vor allen Dingen Gott bitten, daß er Dir hilft, daß er Dir ein neues reines Herz schenken möge. Dann, mit seiner Hülfe, gerade das thun, was Dir am schwersten scheint. Die am meisten lieben, die Dir die wenigste Liebe einflößt, Deine Empfindlichkeit besiegen, Deinem Hange zur Verdrießlichkeit und zum Murren nicht nachgeben, gern vergeben, wenn Du Dich beleidigt glaubst oder es wirklich bist, – o Marie, das scheint Dir vielleicht schwer, aber wenn Du's nur versuchen wolltest, Du selbst würdest dann am glücklichsten sein.«

Marie weinte heftiger. Die Mutter wollte nichts mehr zu ihr sagen, still nahm sie das Wort Gottes zur Hand und las ihr die herrlichen Worte vor: »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da suchet der findet; und wer da anklopfet, dem wird aufgethan.« Dann küßte sie ihr Kind, und bald lag im Pfarrhause alles im tiefen Schlafe.

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