Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Du ziehst auf öder Straße durch die Wüste –
Staub hinter Dir und vor Dir nichts als Staub,
Staub wirbelt auf von des Kameeles Hufen
Und alles Leben wird des Staubes Raub!
Da plötzlich siehst Du hohe Bäume winken,
Ein leiser Wind bewegt der Palme Kron'!
Oase in der Wüste! O wie lieblich!
Dein Ohr lauscht auf der Quelle süßen Ton.
Jetzt siehst Du schon das klare Wasser rinnen,
O, wie krystallhell, silberweiß und rein!
Rings grüner Rasen lockt Dein mattes Auge
Und ladet freundlich Dich zum Sitzen ein.
Du treibst Dein Thier, die letzte Kraft zu zeigen,
Du sehnest Dich nach Ruh' am Wüstensaum!
Jetzt bist Du nah, – jetzt mußt Du sie erreichen –
O weh! Verschwunden! – War es denn ein Traum?
Fata Morgana nennt man dies Gebilde!
Niemand erreicht's, doch jedem es gefällt.
O wehe dem, der nur nach Schatten jaget! –
Fata Morgana ist die ird'sche Welt! –
Aber drei Jahre vergehen rasch. Aus den Knaben Heinrich und Ferdinand waren zwanzigjährige Jünglinge geworden, die längst Gymnasiasten in der nächsten Stadt waren, nun aber als Studenten nach der Universität gehen wollten. Marie und Margareth waren sechszehn, Lilli vierzehn Jahre alt. Es war Ostern, am nächsten Sonntag sollten die Drei in der kleinen Kirche zu Burgdorf eingesegnet werden. Die Brüder hatten das Osterfest in Burgdorf zugebracht (Ferdinand wenigstens theilweise), nun freuten sie sich, auch dem andern Feste noch beiwohnen zu können, »hernach werden wir doch in alle vier Winde verstreut,« meinte Ferdinand.
Es ist ein schöner Brauch, der am Harz herum noch fest gehalten wird, daß die Kinder am sogenannten weißen, dem Sonntage Quasimodogeniti (als die Wiedergeborenen des Herrn), dem früheren alten Tauftage, der seinen Namen daher haben soll, daß die Täuflinge in weißen Gewändern zur Taufe eilten, confirmirt werden. Es ist eine schöne Sitte, daß sie meist im weißen Kleide, den grünen Myrthenkranz im Haar, vor den Altar treten. Sind sie ja doch Bräute Christi, zu deren jeder Er am Tauftage gesprochen hat: »Ich will mich mit Dir verloben in Ewigkeit,« die nun am Confirmationstage zum Altar treten, zum heiligen Bunde das »Ja« zu sprechen. – Es war eine ernst bewegte Zeit gewesen, die dem Tage vorherging, und als nun die Mutter die drei Mädchen im Brautschmuck in der Kirche sitzen sah, da wallte ihr Herz über, und im heißen Gebet trug sie ihre Kinder hinauf zu Gottes Thron. Für jedes hatte sie ihre Sorgen, an jedem ihre Freuden.
Marie war noch immer nicht hübsch und versprach auch nicht, es zu werden, aber ihr stilles, sanftes Gesicht hatte, wenn Liebe ihr Herz bewegte, einen gar lieblichen Ausdruck.
Der Mutter war nicht bange um sie, sie ahnte wohl, daß sie noch schwere Wege zu wandeln haben würde, aber »sie wird durchkommen,« das stand fest in ihrer Seele, denn Marie kannte ihren Heiland und liebte ihn.
Sie kämpfte treu, wenn auch nicht immer siegreich, den Kampf mit sich selbst; man bemerkte wenig Wachsthum an ihr, es wurde ihr unsäglich schwer, einen Fehler abzulegen, aber der Herr stand ihr zur Seite, und sie wußte, daß er allein ihre Kraft war.
Viel, viel schöner und bedeutender als sie war Margareth. Gleich der schlanken Lilie stand sie neben dem Waldblümchen, ihr schönes Haar war wieder gewachsen und umgab wie ein Rahmen das etwas bleiche Gesicht, in dem die dunkelblauen Augen wie zwei Sterne glänzten. Sie hatte tiefer ihre Sünde erkannt, fester die Gnade des Herrn ergriffen, als die meisten ihres Alters. Ihre Hauptsünde war die Selbstsucht, um so gefährlicher, weil sie nie grob und plump bei ihr hervorbrach, sondern unter den Blumen der Liebe und Güte verborgen lag. Andere Menschen merkten es wenig, wie Margareth bei allen Dingen im tiefsten Grunde sich selbst suchte, aber sie wußte es, und diese Erkenntniß war ihr oft ein bitterer Stachel, ja eine unerträgliche Last geworden, die sie vergebens abzuwälzen sich bemühte. – Sie diente mit ihren reichen Gaben wann und wo sie konnte, und sie wurde dafür gelobt und geliebt. Aber all dies Lob, all diese Liebe wurde ihr zum Ekel, wenn sie erkannte, wie ein geheimer Zug ihres Herzens sich darnach sehnte und eigentlich nur darum Opfer brachte und Anstrengungen machte. O wie bebte dies stolze Herz, als es sich in seiner ganzen Armuth erkannte und einsah, wie es um Menschengunst und Menschenliebe buhle! Gottes Licht schien hell in Margareths Herz und darum erkannte sie klar, daß sie nichts Gutes thun konnte, daß alles was sie that, mit Sünde beschmutzt war. Um dem Ringen nach Menschenliebe zu entgehen, that sie das, was ihr Lob eingebracht hätte, so heimlich, daß Niemand es sah, – aber da war die Sünde wieder und rief ihr zu: »wie gut Du bist! wie ernst Du's meinst!« und sie mußte sich zusammen nehmen, um nicht noch stolz auf ihre Sünden-Erkenntniß und auf ihren Kampf gegen sich selbst zu werden. Gerade weil sie vor Menschenaugen so lieblich und rein dastand, gerade darum machte es ihr bitteren Schmerz, daß sie vor Gottes Augen so ganz anders aussah, daß sie durch und durch selbstbewußt war und eigentlich nichts ohne Absicht thun konnte. Sie hatte im heißen Gebet mit dem Herrn gerungen, sie hatte überwinden wollen, sie war dann fast daran verzweifelt, daß die Gerechtigkeit Jesu ihr eigen sei, da sie keine Stärke zum Ueberwinden in sich fühlte, – vergebens! Aber niemand Fremdes sah diesen Kampf des stolzen Herzens, die Eltern hatten wohl etwas davon gemerkt, den Vater hatte sie um Rath und Hülfe angesprochen, äußerlich war sie das lebhafte Mädchen, das durch seinen Geist Alles belebte und eigentlich die Seele des Hauses war.
Ganz anders war es mit Lilli, »unserm Röschen,« wie die Brüder sie scherzend nannten. Sie war kein bedeutendes Kind; aber sie war von Natur so liebenswürdig, liebte schon von klein auf nur alles Gute und Schöne; Liebe und Freundlichkeit schienen ihr angeboren zu sein. Sie war den Eltern sehr leicht zu erziehen gewesen, hatte wenig Fehler, und ein strafender Blick des Vaters, ein ernstes Wort der Mutter, genügten, sie dieselben ablegen zu lassen. Diesem Kinde gegenüber war es fast schwer zu glauben, daß »das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf.« Ob auch in Lillis Herzen die Sünde schlummerte, ob auch sie durch und durch befleckt war, das sollten erst die Folgen lehren, jetzt sah weder sie, noch Jemand anders Böses an ihr. Aber weil sie noch nie mit bitteren Reuethränen zu Jesu gekommen war, hatte sie ihn auch noch nicht in seiner Schöne erkannt, er war ihr noch kein Heiland geworden. In einem christlichen Familienkreise geboren und erzogen, hatte sie stets christliche Luft eingeathmet; so war auch ihr ganzes Christenthum und ihr Beten mehr Gewohnheit als wirkliches Bedürfniß. Heute war sie tief bewegt, ihre Thränen flossen reichlich, und das »Ja,« das sie dem Herrn gab, war ein kindlich aufrichtiges.
Aber dennoch haftete der Mutter Auge mit banger Sorge auf ihr, ihre Gebete umringten am meisten dies theure Kind: »O Lilli,« dachte sie, »Du wirst noch viel lernen müssen, ehe Du zum Himmelreich eingehen kannst. Vielleicht kommen statt der Blumenwege nun Dornenpfade, – und Du kennst den noch nicht, bei dem auch die Dornen zu Rosen werden. Aber er kennt Dich, er hat Dich je und je geliebet und wird Dich zu sich ziehen aus lauter Güte.«
Bald nach diesem schönen Tage kam die Trennung. Ferdinand ging nach Berlin, dort Naturwissenschaft zu studiren, Heinrich, der sich der Theologie gewidmet hatte, zog ein Tholuck und Müller nach Halle. Auch Margareth sollte das Haus verlassen, doch verzögerte sich ihre Abreise noch bis Ende des Jahres, da der Doktor dringend befürwortete, daß sie während der besseren Jahreszeit die reine Harzluft zur Stärkung ihrer immer noch zarten Gesundheit genießen sollte. Endlich konnte es nicht länger aufgeschoben werden, der Tante Briefe wurden immer dringender; an einem milden Dezembertage stand die Kutsche bereit, sie nach der Bahn zu fahren. Margareth lag in den Armen ihrer zweiten Eltern und konnte sich nicht trennen von ihnen. »Ich bleibe Euer Kind auch in Berlin, nicht wahr?« fragte sie weinend.
»Du bleibst es,« antwortete Pastor Stieg, »und so lange wir leben, hast Du hier ein Vaterhaus und findest hier liebende Elternherzen.« –
Marie und Lilli saßen im Wagen, sie zur Eisenbahn zu begleiten, Nolte knallte mit der Peitsche – und das geliebte Pfarrhaus lag hinter ihr.
»Mir ist nicht bange um sie, sie hat ein starkes Herz und einen festen Willen,« sagte der Vater.
»Es wird in Berlin viel Gefahr und Versuchung sie umgeben, sie wird auch nach Außen schwere Kämpfe haben,« entgegnete die Mutter sinnend, »aber sie ist ja nicht gebunden, in der stolzen Stadt zu bleiben, sie weiß, daß sie hier in den Bergen eine Heimath hat.«
Der Pastor schüttelte den Kopf. »Margareth ist kein Mädchen, das eine Gefahr flieht. Sie wird sie nicht suchen, jedoch wenn sie kommt, so kämpft sie mit ihr auf Leben und Tod. Aber sie wird ihre Augen aufheben zu den Bergen, von welchen ihr Hülfe kommt, ihre Hülfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«
An der öden Eisenbahn war ein zweiter schmerzlicher Abschied. Marie weinte still, Lilli wollte sich nicht trösten lassen. Margareth war zu Muthe, als habe sie Niemand in Burgdorf genug geliebt, sie trat zu den Pferden und streichelte sie leise, sie sah die alte, wackelige Kutsche, in der sie so manche frohe Fahrt gemacht, wehmütig an, – da brauste der Zug heran, die Mädchen umarmten und küßten einander zum letzten Mal – noch ein Augenblick, – und Margareth war schon weit.
Sie schloß die Augen, ließ ihre Vergangenheit still an sich vorübergehen, und zuletzt war nur das Eine ihr gegenwärtig: daß sie doch eine Waise sei und vielleicht für immer bei der kalten Tante bleiben müsse! O wie ganz anders wäre es, wenn nun die Eltern kamen, ihr Kind nach Indien zu holen! Thräne um Thräne drängte sich hervor, aber sie faltete die Hände und sagte leise: »Wer überwindet, der wird es alles ererben.«
Um nun zu sehen, wie Margareths Leben in Berlin sich gestaltet, schalten wir einige Briefe von ihr an ihre Pflegeeltern ein.
Berlin, am 4. Januar 18..
– – – »Es ist mir recht leer und weit hier in dem großen Berlin. Auf dem Potsdamer Bahnhof, wo ich ankam, war ein rechtes Gedränge und mir wurde fast bange unter den vielen fremden Gesichtern, bis ich endlich das meiner Tante erblickte. Sie bewillkommte mich sehr freundlich und brachte mich bald in ihr ganz nahe gelegenes Haus. Das ist sehr elegant eingerichtet, die Zimmer, die Fenster, die Thüren, – alles ist viel höher als in Burgdorf. Aber uns vis-a-vis steht ein anderes Haus, was auch bewohnt ist; da kann man einander gerade in die Fenster sehen und sobald man Licht angezündet hat, muß man rasch die Vorhänge schließen – die Fenster kann man so nicht oft öffnen, weil die vielen vorbeifahrenden Wagen arges Geräusch machen. Da bin ich viel lieber in meinem Hinterstübchen, hier gehen die Fenster auf ein kleines Stückchen Garten hinaus, das allerdings wieder von anderen Gebäuden eingeschlossen ist. Aber es stehen im Sommer doch gewiß Blumen darin, mehrere Akazien und eine Trauerbirke breiten jetzt ihre dürren Zweige aus; ich habe all' den Gewächsen im Garten schon gute Freundschaft versprochen, und wir wechseln gar freundliche Blicke mit einander. Mein Zimmer ist allerliebst eingerichtet, ich muß meiner Tante wirklich dankbar sein, daß sie so liebevoll an mich gedacht hat, – aber ich werde sie nie so lieben können wie Dich, Herzenstante, Dir konnte ich mich so ganz unterordnen, wußte, daß das, was Du mir sagtest, gut war; aber das weiß ich hier nicht, denke nur, ich hörte es neulich eine »Ueberspanntheit« nennen, daß Papa und Mama nach Indien gegangen wären, – es war wohl nicht für mein Ohr bestimmt, aber ich hörte es. Mir ist es, als stände ich hier der Tante fortwährend gegenüber, als wolle man mir mein theuerstes Kleinod, für das meine Eltern starben, meinen Glauben, nehmen. Es ist hier alles ganz anders als in Burgdorf. Am ersten Sonntag war ich um halb neun Uhr fortgegangen zur Kirche. Ich war vorher mehrere Male in der Wohnstube gewesen, aber der Bediente sagte: die gnädige Frau schliefe noch. Sonst wird gegen neun Uhr Kaffee getrunken, Sonntags aber erst später. So ging ich denn in die erste beste Kirche, und als wir da das köstliche Weihnachtslied sangen: »Mit Ernst, ihr Menschenkinder, das Herz in euch bestellt,« da habe ich Berlin und alles ringsum ganz vergessen und nur noch an das heilige Christkind gedacht und es gebeten, Einzug in mein Herz zu halten. Als ich nach Hause kam, entschuldigte sich die Tante, daß sie zu angegriffen wäre, so früh zur Kirche zu gehen, aber ich merkte doch, daß es ihr nicht ganz recht war, daß ich gegangen. Und denke, während all' der Festtage ist aus unserm Hause (ich ausgenommen) Niemand zur Kirche gegangen, nicht einmal die Domestiken, und ich merke wohl, daß letztere sich über mich moquiren und es für sehr »ländlich« halten, daß ich jedes Mal gegangen bin. Zwar nur ein Mal jeden Sonntag, denn Nachmittags hätte ich ja vom Essen aufstehen müssen und das kam mir auch nicht recht vor. Tante, ich sehe es jetzt schon ein wenig ein, wie gut ich es als Kind bei meinen Eltern und dann bei Euch gehabt habe, die Ihr alles gethan habt, um mir das Eine, was Noth ist, zur Hauptsache zu machen! Wie schwer müssen es andere Kinder haben, deren Eltern dies Eine nicht kennen, ja den Kindern noch wehren, daß sie es kennen lernen! Würde ich den Herrn Jesum wohl kennen, wenn ich Tante Heß zur Mutter gehabt hätte, statt meiner süßen Mama? Und doch ist sie so klug, – ich begreife nicht, daß nicht schon die einfache Klugheit ihr sagt, daß es besser ist, sich an etwas Unvergängliches und Ewiges zu halten, als an irdische und vergängliche Dinge. Aber sie weiß wohl nichts von der Seligkeit, die man in Jesu hat, und ich glaube, sie hält auch mein Christenthum nur für etwas Angelerntes und mein Kirchengehen für eine Gewohnheitssache und hofft es mir mit der Zeit abzugewöhnen. O Tante, könnte ich ihr doch durch die That beweisen, daß es mir ein heiliger Ernst ist, fromm zu sein! Aber ich fürchte, mit Worten würde es mir leichter werden, doch die nützen nichts und ich will Deine Ermahnung nicht vergessen, daß ein junges Mädchen in zehn Fällen, da sie ihren Glauben angegriffen meint, neun Mal schweigen kann und nur ein Mal ihn zu vertheidigen braucht.
»Weihnachten hab' ich mich sehr nach Euch gesehnt, hätte so gern mit Euch unter dem Christbaum gesessen und dem Jesuskindlein Lieder gesungen. Zwar einen Baum hatten wir auch, eine prächtige, grüne Tanne, – ich habe sie ordentlich darauf angesehen, ob sie wohl im Harz gewachsen. Aber dann war Gesellschaft da, zwar nicht viele Leute, mehrere junge Offiziere, und in der Stube flimmerte alles in Glanz und Pracht. Ich habe so viele schöne Geschenke bekommen, meist Kleidungsstücke, ich glaube, der Tante sind meine jetzigen Kleider alle zu schlecht und zu unmodern, selbst mein neues dunkelblaues Thibetkleid hat keine Gnade vor ihren Augen gefunden, und als ich ihr mein weißes Einsegnungskleid und mein schwarzes Abendmahlskleid zeigte, da sagte sie: »wie seltsam! Kind, die kannst Du hier nie in Gesellschaften anziehen!« Aber das will ich auch nicht. Diesen Winter soll ich blos an den Gesellschaften, die hier im Hause sind, Theil nehmen, im nächsten Winter bin ich achtzehn Jahr, da wollen mich Onkel und Tante in die große Welt einführen. Zuweilen ist mir bange davor und dann wieder bin ich ordentlich neugierig, wie's da aussieht. Ich muß oft lachen, wenn ich über die diners, soupers, thés dansants, Bälle, Theater und Concerte, kurz über all die Dinge, die man die Welt nennt, sprechen höre, dann thun sie, als sei es ein nothwendiges Uebel, alle dies mitzumachen und als zwinge sie nur ihre Herzensgüte zu diesem Martyrium. Weißt Du wohl, Tante, wie Du mir einmal sagtest: »meine Welt ist Stube und Küche, Waschhaus und Keller, Kuhstall und Garten, da hab' ich genug zu springen und zu tanzen.« Das fällt mir jetzt so oft ein, – ich glaube, Deine Welt ist größer als die der eleganten Leute Berlins. Doch nun leb' wohl, Du Herzens-Tante, meine Welt ist für jetzt Burgdorf, mein Heim droben, wo meine Eltern sind. Was ist mir denn aber Berlin? Nichts als ein großes Fragezeichen. Die Antwort giebt Dir vielleicht ein ander Mal
Deine treue Margareth.«
Berlin, am 24. Februar 18..
– – »Ferdinand hat Visite bei Onkel und Tante gemacht und ist hernach von ihnen eingeladen worden, hat auch Erlaubniß bekommen, alle Montag Abend, an dem hier Gesellschaftsabend ist, zu kommen, eine Erlaubniß, welche er treulich benutzt. Doch glaube ich nicht, daß Tante sein öfteres Kommen sehr gern sieht, – sie will alles von mir entfernen, was mich an Burgdorf erinnert, sie denkt, wenn ich letzteres erst vergesse, dann werden auch die Dinge, welche ich dort gelernt habe, in den Hintergrund treten. Aber sie irrt sich, schon aus reiner Opposition würde ich es um so fester halten, – doch pfui! das ist vermessen und häßlich, bete Du lieber für mich, daß Gott meine Seele bewahrt und fest in seiner Hand hält. Weißt Du, bis jetzt ist nur noch gar nichts wie Versuchung an mich herangetreten, obwohl ich hier ganz wie eine große Dame behandelt werde, denn Tante sagt, sowohl mein Aussehen wie mein Verstand sei meinen Jahren weit vorausgeeilt. Aber die Leute alle kommen mir so fade und oberflächlich vor, und ich glaube, sie meinen es auch nicht so, wie sie sprechen, ja denke nur, sie belügen einander! Neulich fuhr ich mit der Tante zu einer Morgenvisite und da sagte der Bediente, seine Dame sei nicht zu Hause – und doch hatte ich sie eben am Fenster sitzen sehen! Als ich das aber der Tante sagte, war die gar nicht verwundert darüber, sondern meinte, das müsse man oft so machen, das ginge nicht anders. Ich bin fest überzeugt, sie macht es auch so. Aber seit der Zeit kann ich ihr gar nicht recht glauben, denn nicht wahr, wer einen Menschen belügt, wenn es sein Vortheil erheischt, der wird es mit dem andern auch so machen, wenn der gleiche Fall eintritt? – Der Mensch, der mir von Allen, die ich hier kennen gelernt, am langweiligsten vorkommt und mir am meisten zuwider ist, ist ein junger adliger Assessor. Tante sagt, er habe außerordentliche Kenntnisse und scharfen Verstand, eine glänzende Carriere stehe ihm bevor, er könne es wohl noch bis zum Minister bringen, – nun, dieser Herr von Bruch beschäftigt sich immer sehr viel mit mir, bei Tisch ist er oft mein Nachbar und neulich, als ein wenig getanzt wurde, forderte er mich zum ersten Tanz auf. Ich dankte ihm und sagte, ich könne noch nicht tanzen. Er bezweifelte es und versicherte mich, daß es seiner Meinung nach nichts gebe, was ich nicht könne, – augenscheinlich glaubte er mir nicht. Als ich aber bei meiner Weigerung beharrte, zog er die Handschuhe aus und sagte, daß er nun heute auch nicht tanzen würde. Darauf setzte er sich zu mir, sich mit mir zu unterhalten. Ich weiß nicht, wie wir auf die Bibel zu sprechen kamen, aber er erklärte mir mit einem herablassenden Lächeln, daß kein vernünftiger Mensch im Ernste glauben könne, daß sie nur Wahrheit enthielte.
»Dann bitte ich Sie, mich aus der Klasse der vernünftigen Menschen zu streichen.« entgegnete ich.
»O bitte,« sagte er etwas verwirrt, »diese Ansicht hat ja so etwas kindlich schönes, aber sie ist eben nur ein Uebergangspunkt, ich möchte sagen, das Raupenkleid der Erziehung, aus dem sich dann der herrliche Schmetterling des freien Denkens entwickelt. Die Wissenschaft entfaltet immer siegreicher ihre goldnen Schwingen und ihr gegenüber kann der alte, orthodoxe Bibelglaube nicht mehr aufkommen.«
»Wenn sich die edle Wissenschaft nur nicht die Flügel verbrennt am Feuer des göttlichen Zornes,« sagte ich empört.
»Mein geehrtes Fräulein,« erwiederte er vornehm lächelnd, »Sie können doch unmöglich die alte Mythe, daß ein persönlicher Gott die Welt geschaffen und erhält, noch glauben? Es ist dies eine ideale, poetische Anschauung, die aber keine Realität hat. Es giebt eine unendliche Urmaterie, – ich möchte sie die Urkraft des Alls nennen, welche in unzählbaren Atomen in dem unendlichen Raum zerstreut ist. Aus dieser Urmaterie hat sich im Verlauf von Millionen und abermal Millionen Jahren langsam und allmählich alles entwickelt, beim Geringeren anfangend und beim Höchsten endend. Aus einem Stückchen Schlamm wurde durch die Einwirkung von Luft und durch die etwaige Berührung mit einem anderen Körper ein Frosch. Dem Frosche am nächsten verwandt sind die Labyrinthodonten, deren handähnliche Fußtapfen man im Sandstein gefunden hat, und die entschieden den Uebergang zwischen diesen Thieren und der höheren Species, den Affen, bilden, und aus dem Affen hat sich dann in einer langen Reihe von Jahren der Mensch entwickelt, erst roh und thierisch, wie wir dies noch heute an den Neu-Holländern sehen, von denen der berühmte Gall glaubte, daß sie nur zwischen Thier und Mensch stehen, – dann von Stufe zu Stufe aufsteigend, bis er auf der jetzigen Höhe der Bildung und Civilisation angekommen ist. – Einem oberflächlichen Denker wird dies nur lächerlich scheinen, aber der wahrhaft großherzige Mensch weist nichts in der Natur von sich, und er athmet höher auf bei der Lehre, daß alles, was lebet, ihm verwandt ist.«
Ich war ganz erstarrt über solchen Frevel. In meinem Leben habe ich noch keinen Menschen gesehen, der auf Christi Namen getauft ist und den lebendigen Gott leugnet. Ich stand rasch auf und sagte: »Ueber Ursprung und Ahnen läßt sich nicht streiten, Herr Assessor, das sind jedes Menschen Privat-Angelegenheiten. Wenn Sie es vorziehen, einen Affen oder einen Frosch, oder ein Stück Schlamm zum Urvater zu haben, immerhin. Ich aber bin stolz darauf, den allmächtigen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde zum Vater zu haben und nach seinem Bilde geschaffen zu sein.«
Damit ließ ich Herrn von Bruch etwas verdutzt stehen. So lange mein Zorn anhielt, war ich mit meinem Betragen und mit der Abfertigung, die der Gottesleugner erhalten, sehr wohl zufrieden; aber hernach machte ich mir doch Vorwürfe, ob ich recht gethan, und ob es für ein junges Mädchen passend ist, so aufzutreten. Es ist aber doch auch ein ernstes Wort, was Christus sagt: »Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.« Aber weißt Du, liebe Tante, was mich am meisten dabei ängstigt: Daß ich es gleich wußte: du hast ihn gut abgefertigt und daß ich Freude empfand, daß mir das rechte Wort für den Menschen eingefallen war, – und zwar freute mich das um meinetwillen, nicht um der Sache willen. »Er wird dich gewiß nicht zu den Dummen zählen,« das war ein Gedanke meiner Eitelkeit, – o, wann werde ich einmal etwas thun, was rein und ohne Flecken ist!
Hernach hat Herr von Bruch diese Scene meiner Tante erzählt, – Ferdinand hat es gehört, – da hat sie gesagt: »Ja, es ist ein gefährliches Mädchen! Witz und Verstand hat sie, nur muß er in die rechten Bahnen geleitet werden. Aber Sie müssen nicht so derb anfangen, das schreckt sie nur zurück; wir müssen sie allmählich von ihren alten Ideen losmachen und sie in die richtigen Regionen zu leiten versuchen.« Ferdinand bittet mich, nur ja alle meine alten Ideen zu behalten, – er kann Herrn von Bruch nicht ausstehen.
Aber Ferdinand liegt mir schwer auf der Seele. Er war in letzterer Zeit so bleich und so mißmuthig, daß ich ihn stets mit den Worten begrüßen mußte: »Was willst Du, Fernando, so trüb' und bleich? Du bringst mir traurige Mähr?«
Nun hat er mir endlich gesagt, was ihn drückt. Sein Studium befriedigt ihn nicht, ich glaube, weil die Naturwissenschaft sich jetzt dem Worte Gottes so gegenüber stellt und es Lügen strafen will, das gerade macht ihn so zwiespältig und ekelt ihn an. Er ist wohl nicht tief genug in sein Studium eingedrungen, da würden sich alle Räthsel befriedigend lösen, aber auf der Oberfläche mag es wohl scheinen, als ob die Wissenschaft sich mit der Bibel nicht vertrüge, noch dazu, wenn ungläubige Lehrer den armen Studenten solche Dinge vordociren, wie neulich Herr von Bruch mir es that. Ferdinand aber hat in Burgdorf seinen Herrn zu lieb gewonnen, um ihn so fahren zu lassen, er möchte sich ihm lieber ganz ergeben und will nun Theologie studieren. Es thut mir so weh, daß er nicht fest bei einer Sache bleibt, und doch freue ich mich dieser Aenderung seines Studiums, denn Ferdinands warmes Herz kann nur von der herrlichen Theologie ausgefüllt werden. Seine Eltern sind, wie immer, mit Allem einverstanden, diesmal noch mehr als sonst, denn sie meinen, ein Theologe fände sein Brod viel leichter als ein Naturforscher. O pfui, – natürlich, wenn man sich's so leicht macht, wie sein Vater, der vor Langeweile sich täglich seine patience legt! Ferdinand wollte in diesen Tagen an Euch schreiben, erfreut ihn bald mit einer Antwort.
Vorgestern habe ich einen hübschen Gang gemacht. Ich bat Tante so lange, bis sie mir erlaubte, mit dem Mädchen nach dem Wochenmarkt zu gehen; sie that es endlich unter der Bedingung, daß ich mir höchstens Blumen nach Hause tragen dürfe. So gingen wir nach dem Gensdarmenmarkt. Das ist ein großer Platz, auf dem ein Schauspielhaus zwischen zwei Kirchen steht: Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitte! Und um diese Gebäude hatten sich nun eine Unzahl Leute, theils in Buden, theils so hingesetzt, welche Allerlei zum Verkauf neben sich zu stehen hatten. Hier waren ganze Reihen mit Fleisch, dort Frauen mit großen Wannen voll Fischen, da wurde Butter, Eier, Käse, hier allerlei Grünes, dort die herrlichsten Blumen verkauft. Man vergaß bei letzteren fast, daß es Mitte Februar war, aber durch die hohen Preise wurde man wieder daran erinnert. Es war ein hübsches belebtes Bild: diese ungeheuren Eßvorräthe und dazwischen die Käuferinnen auswählend, handelnd, kaufend. Ich möchte das einmal an einem Ort beisammen sehn, was Berlin jeden Tag verzehrt! – Aber solcher Markt ist etwas sehr Hübsches, ich hatte noch nie einen gesehen. Als ich so herumschlenderte, kam Ferdinand; da sind wir mit einander gegangen, es war das erste Mal in Berlin, daß ich ihn allein sprechen konnte. Wir haben viel von Burgdorf geschwatzt, und dann hat Ferdinand mir erzählt, daß Herr von Bruch neulich in einem Kreise seiner Freunde gesagt hat, ich solle sein Weib werden und keine Andere; und daß er einen Toast ausgebracht hat auf mich und sein Glas Wein mit den Worten: »Mein muß sie werden!« ausgetrunken hat. Sage einmal, Tante, wie findest Du das? Wie kann ein Mann ein Mädchen, das er achtet, so behandeln? Oder wie kann er es, wenn er es nicht achtet, zum Weibe begehren?
Nun kannst Du Dir denken, wie die Menschen hier sind, – Ferdinand und ich haben herzlich über sie gelacht, wenn es recht wäre, würde ich sie alle verachten, – aber ihr Thun und Treiben ist wenigstens lächerlich und verächtlich. Wie erscheint mir Papas und Mamas Leben dagegen so reich, so herrlich! Aber jetzt höre ich hier von Heiden und Mission kein Wort reden; Tante Heß hat mir neulich nach der Geschichte mit Herrn von Bruch gesagt, daß es gar nicht passend sei, in einer guten Gesellschaft von Gott zu reden, und daß Religionsgespräche aus jedem gebildeten Kreise verbannt wären, weil da stets einige Differenzen obwalteten. Nun, ich will gewiß nicht davon anfangen, aber es ist so natürlich, irdische Dinge auf die himmlischen zu beziehen, daß es oft unversehens kommt.
Ich möchte gern im Sommer auf ein paar Tage nach Burgdorf kommen, aber die Tante will es nicht; dagegen ist bestimmt, daß wir dann mehrere Monate nach dem kleinen Bad Wittekind bei Halle ziehen. Nun Wittekind – das ist wenigstens eine schöne Erinnerung.
Behüt Euch Gott, meine Herzens-Tante, und bete für mich, daß ich dem Herrn Jesu treu bleibe, innerlich und äußerlich.
Deine Margareth.«
Wittekind, am 12. August 18..
– – – »Es ist hier wunderschön, wir sind nun bald fünf Wochen hier, und ich hoffe, wir werden noch recht lange bleiben. Stelle Dir ein ziemlich langes, liebliches Thal vor, in welchem, ebenso wie an den unteren Abhängen der es umgebenden Berge, lauter kleine Schweizerhäuschen zerstreut liegen, – so hast Du das bis jetzt noch fast unbekannte Bad Wittekind. Der eine Berg welcher es begrenzt, ist ziemlich hoch, mit vielen Terrassen und Anlagen geziert, und von seinem Gipfel hat man eine herrliche Aussicht; der gegenüber liegende ist bedeutend niedriger und der dunkle romantische Kurgarten zieht sich bis zu seiner Spitze hinauf. Wo der endet, nimmt das hübsche Dorf Giebichenstein seinen Anfang die Saale fließt majestätisch vorbei, man sieht ihr an, daß viele stolze Burgen sich in ihr gespiegelt haben und sehnsüchtig blickt sie nach der bekannten Giebichensteiner Ruine hinauf, deren Fuß sie einst bespülte. Ein hübscher Weg führt theils an niedlichen, theils an sehr schönen Landhäusern und Villen vorüber nach der etwa eine halbe Stunde entfernten Stadt Halle. Sieh, Tante, diesen Weg bin ich auch gegangen und habe da etwas Köstliches gefunden, – aber ich will Dir ordentlich erzählen.
Es war eines Montags gegen Abend, als mein Spaziergang mich bis an die Thore von Halle geführt hatte, da begann es in einer kleinen, dicht am Thore gelegenen Kirche zu läuten. Mich zog es näher und immer näher, bald stand ich vor dem Kirchhof, der das kleine, weiße Kirchlein wie mit grünen Liebesarmen umschloß. An dem Kirchhofsthor war eine einfache schwarze Tafel angebracht mit der Inschrift: »Thut mir auf das Thor der Gerechtigkeit; ich will hinein.« Wer hätte einer solchen Einladung widerstehen können? Ich folgte den Leuten, welche jetzt, da die Glocken verstummt waren, nur einzeln noch eilig dem Kirchlein zuschritten. Ich trat ein, und es wurde mir in diesem Gotteshause so wohl, – es mußten wohl viele Gebete an diesen Wänden kleben, sonst hätte nicht solcher Frieden von ihnen ausströmen können. Still setzte ich mich in eine Ecke und sang so recht von Herzen das Lied: »Wach auf, du Geist der ersten Zeugen,« mit; dann betrat ein Pastor die Kanzel, eine hohe, kräftige Gestalt, – aus seinen einleitenden Worten entnahm ich sogleich, daß die Gemeinde zu einer Missionsstunde hier versammelt war. Er sprach über die Worte: »Jesus von Nazareth, der Juden König.« Sein Thema war eigentlich die Frage: Dieser Jesus, – ist er auch Dein König? Willst Du ihm treu und gehorsam dienen mit allen Kräften Leibes und der Seele? Liebe Tante, ich kann Dir nichts weiter davon erzählen, aber glaube mir, mit dieser Predigt beginnt ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Ich kann nun in mancher Beziehung sagen: »das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.« Aber mißversteh' mich ja nicht, als ob ich etwa meinte, in mir wäre nun die alte Sünde abgethan und alles neu geworden. – In der Kirche war es dunkel geworden, die Altarlichter wurden angezündet, ich konnte nichts sehen als das große Crucifix auf dem Altar und ich hörte nichts, als die Stimme des Predigers, der wieder und wieder fragte: »Dieser Jesus, ist er auch Dein König?« Als ich aus der Kirche trat, war es mir, als seien Jahre vergangen, seit ich hinein getreten, die ganze Welt sah anders aus.
Seit der Zeit bin ich jeden Sonntag zu dieser Kirche gewallfahrtet, ich habe dort köstliche Predigten gehört. Wenn ich an jene Stunden zurückdenke, muß ich immer wieder mit dem Psalmisten ausrufen: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er Dir Gutes gethan hat.« – Auch Heinrich besucht diese Kirche sehr häufig, ich glaube, er ist innerlich sehr gewachsen. Aber still ist er, schrecklich still, mir ist, als müßten er und Ferdinand bei einander sein, um sich zu ergänzen.
Heinrich ist auch mit mir nach den großen Franke'schen Stiftungen gewesen, – o Tante, alle diese Gebäude, die jetzt mehrere Straßen bilden, hat der Glaube erbaut!
Ja, der Glaube ist wirklich die eine alles überwindende Macht. Wenn man eintritt, steht im Portal des einen Hauses geschrieben:
Fremdling, was Du erblickst,
Hat Glaube und Liebe vollendet.
Ehre des Stiftenden Geist,
Glaubend und liebend wie er.
Jedes Fenster in diesen Gebäuden schien mir zuzurufen: »O, daß Du könntest glauben!« Jede Thür die Inschrift zu tragen: »Alles ist möglich dem, der da glaubt.« – Und an der Stirn des Hauptgebäudes erblickt man zwischen zwei auffahrenden Adlern in Goldschrift die herrlichen Worte: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie die Adler.« Tante, vor diesen Bau möchte ich mich stellen, wenn ich muthlos und ungeduldig bin, wenn ich mein Eigenes suche und selber thun will, wo ich nur stille zu sein und zu warten habe; diese Inschrift möchte ich wieder und wieder lesen, bis sie tief in mein Herz gedrungen wäre und ich sie gelernt hätte!
Liebe Tante, man sagt von Halle, es wäre so viel Kohlendunst da, aber mir ist, als hätte ich noch nie so reine Himmelsluft geathmet; Wittekind liegt im Thale, und doch bin ich auf einem hohen Berge und alles liegt tief unter mir und kommt mir so klein vor. – Ich bin hier viel, viel älter geworden, aber ich bin sehr glücklich.
Berlin, am 10. November 18..
»Meine liebe Tante!
Es ist so schlimm, daß, wenn man auf einem Berge steht, man auch wieder herunter muß, – und dann kommt einem die Ebene eintönig und beschränkt vor, nachdem man oben eine so weite Aussicht hatte und in der reinen Luft tief aufathmete. Wir sind nun längst wieder in Berlin, – allein ich fürchte mich vor dem Winter, wie noch nie. Was aber auch da alles mit mir geschehen soll! Tante will mich gern verloben, damit ich an diese Welt, an ihre Welt, gebunden bin. Höre nur in flüchtigen Umrissen das Programm, das für die nächsten Monate gestellt ist: Wir besuchen sehr häufig das Opernhaus, natürlich nur, wenn gute klassische Werke gegeben werden, zu meiner Ausbildung. Wir werden viele Bälle und Gesellschaften mitmachen, damit ich mich vollständig gut benehmen lerne; »Du hast zwar einen angeborenen Takt,« sagt Tante, »aber den rechten gesellschaftlichen Ton bringt nur die Uebung.« Dann sind wir in eine Gesellschaft eingetreten, welche sich das »Vergnügen« zu ihrer Lebensaufgabe gestellt hat, und welche sich monatlich zweimal versammeln wird, um lebende Bilder zu stellen, zu tanzen, Theater zu spielen u. dgl. m. Zur Eröffnung dieser »harmlosen Vergnügungen« sollte ich ein Programm dichten oder irgend eine kleine Aufführung zusammen stellen. Aber Tante, beim besten Willen, ich konnte nicht. Das, was ich ihnen hätte sagen mögen, würde gar unangenehm in ihre Ohren geklungen sein. Es ist schon öfter die Aufforderung an mich herangetreten, dies und jenes Fest mit »meiner Poesie zu verherrlichen.« Tante Heß hat mehreres von mir gelesen und findet es sehr schön; nun möchte sie gern auch in dieser Art Ehre mit ihrer Nichte einlegen, so hatte sie oft für mich Versprechungen gegeben, die ich nicht erfüllen konnte, und das hat sie etwas gereizt. Ach, liebe Tante, ich hätte es ja gern gethan, aber Du weißt nicht, wie es hier hergeht. Jedes Wort, das ich geschrieben, würde so viel gelobt und besprochen werden, bis ich mit Ekel mein unschuldiges Wort nicht wieder erkannt hätte; und das von Leuten, die zu mir sagen: »Entzückend! Unvergleichlich! Diese Verse, – welche Musik, welche Schönheit, welche Weisheit! Apollo haben sie zum Vater, Venus zur Mutter, und Minerva hat ihr reiches Füllhorn über sie ausgeschüttet!« und hinterm Rücken sich amüsiren, daß das »eingebildete Närrchen« es für pure Wahrheit nimmt, während ihre Schmiererei die nächste Verwandtschaft mit Stiefelschmiere hat. O, ich weiß, unsere jetzigen jungen Herren in den weißen Glacehandschuhen sind nicht allzu zart und gewählt in ihren Ausdrücken, wenn sie unter sich sind. Habe ich eine Gabe, wie alle sagen, in dieser Art, so will ich sie gern benutzen, wo und wie ich jemand eine Freude machen kann; ich will kleine Schauspiele schreiben, will sie auch mit aufführen, wenn es in der Art geschieht, wie damals an Deinem Geburtstag und wenn die Proben dazu im Kuhstall gehalten werden. Aber nur nicht in dieser Umgebung, welche trotz ihrer hohen Bildung keinen Sinn für wirklich Hohes hat. – Neulich fuhr ich auch mit zum Opernhause; zuerst war ich wie betäubt von dem Glanze der Lichter und Toiletten, von der Musik und dem gewaltigen Gebäude, in dem ich mich befand. Aber bald konnte ich gar nicht mehr auf das Stück hören, ich sah nur die armen, armen Mädchen, welche da auf der Bühne sangen und tanzten, deren Herz vielleicht blutete und weinte, während das Auge lachte, die vielleicht eine arme, kranke Mutter zu Hause hatten; sah die noch viel ärmeren Mädchen, welche darin ihren Ruhm, ihre Ehre, ihre Befriedigung suchten, von einer Menge Menschen beklatscht und herausgerufen zu werden, und da konnte ich nicht anders, ich mußte immerfort weinen. Tante war sehr befriedigt davon, denn sie glaubte, das Stück habe mich so ergriffen, – aber als ich ihr den Grund sagte, da hat sie sich wohl verächtlich abgewandt, – o, wenn sie mich doch in dieser Art endlich aufgeben wollte! Ich bin so elend und verlassen jetzt in diesen Gesellschaften; Ferdinand ist nun in Tübingen, zwar möchte ich ihn hier gar nicht sehen, er könnte sich nicht wohl fühlen, aber doch war er mir immer wie eine Glocke aus der Heimath. O, bete für mich, daß ich nicht mein Vaterhaus droben vergesse; diese Kleiderpracht hier und alles, was drum und dran hängt, ist eine wirklich satanische Macht, man wird unwillkürlich dazu gebracht, sich mehr damit zu beschäftigen, als recht ist. Ja, wenn es die paar Stunden des Ausgehens allein wären, aber die tagelangen Vorbereitungen zu einer größeren Gesellschaft, dieses Auswahlen und Anprobiren zerstreut so sehr, ich glaube, wenn ich noch länger hier bin, so wird mir Schneider und Putzmacherin auch lieber und nöthiger als der Pastor. Bete, bete für
Deine treue Margareth.«
Berlin, am 15. Januar 18..
»Mein lieber Onkel!
Heute komme ich zu Dir in großer Noth, um mir Deinen Rath, Deine Hülfe zu erbitten. Wenn ich Dir nur alles ordentlich werde sagen können, was mir fehlt und was mich quält, – könnte ich neben Dir sitzen in Deiner lieben, grünen Stube, wo Du so oft gute Worte zu mir gesprochen hast, dann würde ich es Dir besser erzählen können. Du weißt wohl aus den Briefen, die ich an die Tante schreibe, daß ich diesem Winter in einem Strom von Vergnügungen leben soll, und eigentlich auch lebe. Nun möchte ich gern von Dir wissen: angenommen, es schadet alles dies meiner Seele nichts, darf ich es mitmachen, da Onkel und Tante Heß es hier dringend wünschen? Sie wissen, wie ungern ich es thue, aber sie denken, es ist so mein Bestes und wollen mich deshalb dazu zwingen. Und daß dies eben aus und meist in Liebe geschieht, das entwaffnet mich. Dann aber hat auch die sogenannte Welt eine furchtbare Macht, auch über ein Herz, das Gott dem Herrn gehören will. Ich habe ihrer vorher gelacht, ich habe gedacht: »Dir kann sie nichts anhaben, sie ist Dir viel, viel zu klein;« o Onkel, ich habe sie zwar noch kleiner, aber doch ganz anders gefunden, als ich mir gedacht habe! Im vorigen Winter trat ich keck auf und es machte mir oft Spaß, anders zu sein, als diese hier. Aber jetzt wird mir so bange, dieser Glanz, diese Schmeicheleien gewinnen Macht über mich, und während ich sie verachte, freue ich mich ihrer. Du würdest Deine starke Margareth nicht wieder erkennen, es steht jetzt erbärmlich mit ihr. Ich fliehe noch immer alle derartigen Vergnügungen, sie befriedigen mich nicht, aber dennoch habe ich meine stillen Stunden nicht mehr so lieb wie früher, und wenn ich allein bin, so bin ich zerstreut, die Gedanken gehen hierhin und dorthin, zuweilen tritt die Versuchung an mich heran: »Du nimmst es zu streng, sollte Gott diese an und für sich doch unschuldigen Dinge verboten haben?« und das schrecklichste ist, dann kommt der Pharisäer hinterher und sagt: »Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie die Andern. Ich könnte dort glänzen, aber meine strenge Religiosität hält mich ab,« o herzlieber Onkel, das ist das fürchterlichste. Nichts haben, als bodenlosen Hochmuth, und sich doch besser dünken, als andere Leute, die es nur eben nicht anders wissen, weil ihnen das nicht gesagt ist, was treue Eltern und Lehrer mich gelehrt haben.
Und in dem Augenblicke, wo ich mich dann so in meiner ganzen Blöße sehe, da denke ich: »was habe ich für ein Recht, noch besser scheinen zu wollen als Andere, ich will nur alles mitmachen, denn ich bin innerlich schlechter als sie.«
Dann kommt Onkel und Tante und wünschen und befehlen, ich soll kommen, – ich gehe mit, – zerstreue mich wieder, werde wieder gefeiert, – o, daß ich das doch nicht bemerkte! – und dann geht die Herzensangst von Neuem an, und ich stehe wieder vor der Frage: »Thust Du Sünde, überhaupt zu gehen oder nicht?« Antworte mir doch darauf, mein Onkel.
Neulich war ich auf einem Ball. Ich hatte in Büchern gelesen, daß die Damen wie holde Blumen dort wandelten. Ich habe doch sonst eine lebhafte Phantasie, aber ich sah hier nur geschmückte Frauen und Mädchen, welche einander darauf ansahen, wer am reichsten, am geschmackvollsten gekleidet war. Dann, als die Musik ertönte, eilten die Herren auf uns zu, o, wie entwürdigend, sich von einem Jeden, von dem man nur den Namen weiß, wählen und umfassen lassen zu müssen! Und plötzlich, als wir tanzten, trat die Erinnerung an ein Götzenfest vor meine Seele: die geputzten Herren und Damen verwandelten sich in lauter Hindus, die Töne der Musik in ihr Heulen, und ich sah meinen Papa neben mir stehen, wie er damals, auf die erregte Menge deutend, zu mir sagte: »Sieh, Margareth, die armen Leute wissen alle noch nichts vom Herrn Jesu.« Und wie ich rings um mich sich alles drehen sah, kam es mir wie Wahnsinn vor. Da hörte ich eine Stimme sagen, es war die eines jungen Mädchens, das eben von einer wilden Galoppade ruhte: »O, ich kann mir keinen schöneren Tod denken, als so mitten im höchsten Vergnügen, im rauschenden Tanze schmerzlos zu sterben.« Ich erschrak, mir war's als müßte Gottes Blitz sie augenblicklich treffen, – o, seine Geduld ist unsere Seligkeit! Und im nächsten Augenblick sah ich mich in der kleinen Kirche, wo ich eingesegnet bin, vor dem Altar knieen und hörte Dich mit ernster Stimme den Spruch sagen, den Du mir für's Leben mitgegeben: »Ich will mich mit Dir verloben in Ewigkeit. Ich will mich mit Dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit.« Lieber Onkel, wenn nun Christus mich sucht, wird er zufrieden sein, mich auf einem Balle zu finden?
Es war ein schrecklicher Abend, dieser Ballabend, und doch ein seliger, denn ich konnte einmal wieder so recht aus tiefer Noth beten, und dann schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist. Aber nun sage mir das Eine: darf ich, soll ich mitmachen, was Onkel und Tante wünschen, oder ist es mir erlaubt, mich ihnen zu widersetzen? Ich möchte einer Versuchung nicht durch Uebertretung des vierten Gebots aus dem Wege gehen! – Ich weiß nicht, ob Du mich ganz verstehen wirst, der Brief ist so confus, und Herz und Kopf auch. Wie war ich im Sommer in Wittekind so glücklich, – doch vergebens habe ich die Zeit dort dennoch nicht gelebt. Gott wird ja auch diesen Winter vorüber gehen lassen, – trage mich mit Deinem Gebet und mit Deinem Rath mit hindurch.
Burgdorf, den 18. Januar 18..
»Das ist Recht, meine liebe Margareth, daß Du Dich nach Hülfe umsiehst, da sie Dir nöthig ist. Ich antworte Dir auch gleich, da ich mir denken kann, wie sehnsüchtig Du auf meinen Brief wartest. Und ich muß Dir nur gestehen, daß ich längst im Voraus wußte, daß Du in diesen eigenthümlichen Nöthen, in die unser Gott Dich geführt hat, in Verlegenheit kommen und nach einem Sterne ausschauen würdest, der Dir in der Finsterniß leuchte; aber, obgleich Dir mein väterlicher Rath nicht fehlen soll, weise ich Dich doch vor Allem auf das Wort Gottes hin, von dem nicht vergebens geschrieben steht, daß es »eine Leuchte unserer Füße und ein Licht auf unsern Wegen« ist. Nicht wahr, meine Tochter, es ist so, wie ich Dir vor dem Abschiede sagte: »die Welt sieht in der Nähe doch ein wenig anders aus, als aus der Ferne.« Wenn man so still auf dem Lande dahin lebt, wie Du mehrere Jahre mit uns gethan hast, und das Haus hat seinen Morgen- und Abendsegen, die Arbeit will gethan sein, weil sie einem kommt, wie dem Mühlrade das Wasser, die Natur mit ihren unschuldigen Reizen, wie die Kunst mit ihren ungefährlichsten Seiten gewähren Erquickung, man lebt unter gleichgesinnten und gleichgestimmten Seelen, – ja, dann stellt man sich das Leben, welches anders gestaltet ist, entweder nicht richtig vor, oder beurtheilt es nicht recht, wenn man nun in dasselbe hinein gezogen wird. Darum meine zuerst ja nicht, daß es allein ein weltliches Leben sei, wenn man in's Theater geht oder zu allerlei Aufführungen, oder zu Geheimraths, wo nach dem Thee noch getanzt wird, – ach nein! die Welt versteckt sich auch in tausend andere Gewänder, und wenn ich Dir von den vielen gesellschaftlichen Vergnügungen schweigen will, so erinnere ich Dich doch nur an weltliche Lektüre, die Dir in die Hand gegeben wird, an den Ton von Gesprächen, denen Du zuhören, ja, an denen Du Theil nehmen mußt. Da gilt es überall, wie der heilige Apostel sagt: »Stellet euch nicht dieser Welt gleich.« Und es wird die Ausgabe einer christlichen Jungfrau sein, in allen Lagen sich ein geschärftes Gewissen zu erbitten und klare Augen zum Erkennen was zur Welt gehört und wie sie sich dazu zu stellen hat.
Das Letzte ist aber nicht so leicht zu sagen, wie Du Dir vielleicht denkst. Du merkst jetzt, daß es nicht immer so geht, wie man es sich als das einfachste vorstellt. Also z. B. Onkel und Tante sind eingeladen und Du mit, Ihr sollt zu einem Familienball kommen. Ich weiß, Dir ist das Tanzen zuwider und wenn Du an die armen Heiden in Indien denkst, die mit ihrem heillosen Getanze Deinen Eltern tausend Herzweh bereitet haben, so treten Dir die Thränen in die Augen und Dir vergeht die Lust, auch nur einen Versuch zu machen. Was ist nun zu thun? Einfach um Erlaubniß bitten, zu Hause zu bleiben? Meinetwegen. Wie nun aber, wenn die Tante sagt: »Ach, Du närrisches Mädchen, Du sollst nicht allein zu Hause bleiben und Deinen überspannten Ideen nachhängen. Komm nur mit, Du wirst schon Geschmack und Freude an dem unschuldigen Vergnügen finden, und was würden Die und Die sagen, wenn Du nicht mitkämest?« Ja, da wird nichts anderes übrig bleiben, Du wirst mitgehen müssen. Das Gerathenste ist natürlich, alle Mal danach zu streben, so oft als möglich von allen Dingen zurück zu bleiben, gegen die unser Herz eingenommen ist, sobald wir sie nur nennen hören. Aber wem wird es immer so leicht gemacht, wie jenem jungen Mädchen, das ich kannte? Das war eben erst eingesegnet und stand in der ersten Liebe zum Heilande. Der Vater aber, der in weltlichen Dingen freier dachte, als gut ist, sagte eines Tages bei Tische: »Höre, Hedwig, Du könntest heute Abend mit in's Theater kommen, die Räuber von Schiller werden gegeben.« Da stürzten Hedwig die Thränen aus den Augen und der Vater sagte: »Nun, wenn Du nicht willst, so bleiben wir ruhig zu Hause.« – Das schreibe ich Dir nicht, um Dir die Waffe des Weinens zu empfehlen. Aber so bist Du auch nicht, liebes Kind, und ich wollte Dich nur glücklich preisen, wenn es Dir auch einmal mit einem einfachen Worte oder einer aufrichtigen Geberde gelänge, Dich von der Theilnahme an Dingen zu befreien, die Deiner Seele zuwider sind.
Treten aber die Fälle ein, wo Du Dich gegen das vierte Gebot versündigen würdest, wenn Du Dich zurückziehen wolltest – denn Deine lieben Verwandten vertreten doch jetzt, so lange Du bei ihnen bist, Elternstelle an Dir, – so gehe getrost mit, wohin Du geführt wirst, denke an das Wort: Du darfst überall hingehen, wo Du Deinen Heiland um Mitkommen bitten kannst und bittest; und Jesus wird nicht schelten, Dich an weltlichen Orten zu sehen, wenn Du ihn selbst vorher aufrichtigen Herzens um seine Gegenwart gebeten hast.
Doch glaube ich, zu den alleraugenfälligsten, weltlichen Lustbarkeiten werden die Deinen Dich auch nicht zwingen, wenn Du Dich ihnen gegenüber offen ausgesprochen hast. Ich rechne dahin den Besuch eines Maskenballes und das Theater- und Opernlaufen, weil man sich damit an den armen Schauspielern, Sängern und Sängerinnen versündigt, die durch ihren Beruf verhindert werden, fromme Christen zu sein. Sonst kann ich Dir im Einzelnen keine genauen Vorschriften geben, sondern muß Dich darauf verweisen, Dir von unserm Gott und Heiland es zu erbitten, wie Du Dich in jedem Falle verhalten sollst. »Bei Gott sind alle Dinge möglich!« hat davon ein erfahrener Seelsorger geschrieben, »der die drei Männer im Feuer und Daniel in der Löwengrube bewahrt hat, kann eine Jungfrau, welche der Welt nicht fröhnen will, vor Ansteckung mitten in verpesteten Räumen bewahren. Der Noah durch die Wasser, welche aller Welt zum Untergange gereichten, auf die Höhen des Ararat tragen ließ, kann auch heute noch bedrängte Seelen über die Ströme der Sünde hin retten und hat es oft gethan.« – Das glaube fest, liebe Margareth, und Du wirst nicht zu Schanden werden. Ueberhaupt ringe danach, daß Dein Herz stark werde, allen Versuchungen zu widerstehen. Namentlich versäume es nie, Dir Dein Inneres von unserm Gott reinigen zu lassen, wenn irgend etwas von Lust an dem weltlichen Wesen in Dich hineingedrungen sein sollte. Ihr armen Leute in Berlin, Ihr werdet ja schon, wenn Ihr nur auf der Straße geht oder fahrt, durch alles, was Ihr sehet und höret, um den Frieden der Seele gebracht, der Euch in Euren Häusern und in Euren Kirchen geschenkt wird! Ich kann mir denken, wie Dir armen Kinde da manchmal zu Muthe sein mag, und nun gar noch so viele Berührungen mit der Welt im geselligen Leben! Und das schlimmste von allem: Dein eigenes Herz, das in Hochmuth und Stolz Dir den schwersten Kampf macht. Da fragst Du wohl: Warum so viele Versuchungen von innen und außen? Warum, mein Kind, warum? Darum, daß Du auf dem Wege bist und nicht in der Heimath; darum, daß Du Deine Schwachheit, Deine Bosheit erkennen lernest; daß Du nicht im Dunkel bleibest, über Dich selbst und über die verborgenen Tiefen Deines Herzens, daß Du an's Licht kommst, gestraft, gebessert werdest; daß Du die Welt und ihren Fürsten als Deine Feinde erkennst; darum, daß Du geübt werdest in der Waffenrüstung Deines Jesus, der auch einst stritt, so lange er auf Erden war, damit Du einst Deinem Jesus auch ähnlich werdest in seiner Erhöhung und Herrlichkeit. Du bist darum im heißen Streit hier auf Erden, auf daß Du nicht zufrieden seiest mit der Erde und nicht unzufrieden, wenn Du einst von ihr abgerufen wirst; damit Du nicht liebest, was hier unten ist, sondern nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit trachtest. Aber sei nur zufrieden, kämpfe treu, wer überwindet, der wird es alles ererben.
Liebe Tochter, Du weißt, daß wir täglich hier für Dich beten, und wir haben die gute Zuversicht, daß Gott der Herr, der sich Dir offenbart und bezeugt hat, Dich nicht lassen kann, sondern Dich sicher durch dieses böse Leben bis in die goldenen Gassen der noch weit herrlicheren Stadt hindurch bringen wird, wo es keine Welt, weder in noch um uns, mehr zu überwinden giebt.
Eia, wären wir da!
Dein treuer Seelsorger und Onkel
W. Stieg.«
Berlin, am 25. Juli 18..
– – »Endlich, endlich werde ich Euch wiedersehen, o wie froh bin ich! Es sind in nicht zu langer Zeit zwei Jahre, daß ich nicht in Dein treues Auge geblickt habe, Du liebe, liebe Herzenstante! Und Ferdinand und Heinrich kommen auch, dann hast Du ja Dein ganzes Häuflein wieder beisammen. Wenn wir Dir nur nicht den Kopf recht warm machen werden! Es heißt ja wohl: kleine Kinder, kleine Sorgen; große Kinder große Sorgen? – Denke nur, Tante Heß hat mir auf unbestimmte Zeit und noch etwas länger Urlaub gegeben. Ich glaube, sie ist der fruchtlosen Bemühungen müde und hat es aufgegeben, ein Weltkind aus mir zu machen, vielleicht macht sie gar keine Schwierigkeiten, wenn ich nun wieder ganz zu Euch ziehen möchte, denn sie kann in ihren Kreisen doch nicht mit mir glänzen, die vorige Saison hat es ihr zu deutlich gezeigt. »Ja,« hat Herr von Bruch seufzend gesagt, »und das Schlimmste ist, daß bloßer Eigensinn daran Schuld ist, sie will nicht. O wenn sie wollte, sie könnte la reine des bals et des coeurs sein!« Nun, jedenfalls ist das etwas viel gesagt, und Herr von Bruch spricht da sehr subjective Empfindungen aus, aber es schmerzt mich doch, daß sie nicht ein edleres Motiv erkennen, sondern nur Eigensinn in meinem Betragen sehen, – o Gott, vielleicht ist das meine Schuld!
Gestern sagte die Tante zu mir: »Mein Kind, ich kann Dir nicht verhehlen, daß ich mich sehr in Dir getäuscht habe.«
Mir traten Thränen in's Auge. Ich möchte alle das Gute, das sie mir gethan, nicht mit Undank vergelten, und mein Gewissen sagte mir, daß ich unbeschadet meines Christenthums, in vielen Dingen ganz, ganz anders hätte handeln müssen. Tante fuhr fort:
»Es ist zwar etwas meine Schuld, warum habe ich mir wieder Illusionen gemacht? Die Erfahrungen mit meiner Schwester, Deiner Mutter, hätten es mir vorher sagen können. Ich öffnete ihr mein Haus, aber sie zog es vor, zu jener Pastorin Stieg zu gehen, einen Missionar zu heiraten, aus lauter Exaltation und Schwärmerei. Nun, sie hat ein elendes Leben geführt, und ist eines elenden Todes gestorben, – die Arme.«
Diese Worte trockneten die Thränen in meinem Auge; wenn jemand mich böse machen will, so darf er nur ein Wort gegen meine süße Mama sagen. Im Innersten empört, sagte ich: »ich bin stolz daraus, wenn ich meiner Mama irgendwie ähnlich bin. Ich wünsche mir kein anderes Leben, als sie es geführt, und begehre keines anderen Todes zu sterben, wie sie.«
Liebe Tante, war das häßlich geredet? Aber in dem Augenblick konnte ich wirklich nicht anders.
Doch nun genug des Schreibens. Gott schenke uns ein fröhliches Wiedersehen und gesegnetes Beisammensein.
Deine treue Margareth.«