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IX.

Ich bin Dein! – Das eine halte
Ich mit beiden Händen fest,
Ich bin Dein, – nun walte, walte,
Weiß ja, daß Du mich nicht läßt.
Mich in Deinen Willen legen
Will ich still und sorgenlos;
O, das ist Dein bester Segen,
Wenn ich ruh' in Deinem Schooß.

Gieb mir Kraft zum Stilleliegen,
Herr, Du brachst mir viel entzwei.
Hilf mir nun mein Herz besiegen,
Nimm es ganz und mach' es neu.
Halte mich in Deinen Händen,
Ruh'nd und streitend, o mein Gott,
Du wirst alles herrlich enden,
Ich bin Dein bis in den Tod!

Der Abend dieses bewegten Tages dämmerte bereits, die Eltern hatten sich in ihr stilles Zimmer zurückgezogen, die Gäste entweder den Heimweg angetreten oder sie ruhten aus von den vielerlei Erregungen des Tages. Lilli saß in ihrem Kämmerchen und weinte; mehr noch als sonst gedachte sie Wallerberg's und ob sie je mit ihm an dem Altar der kleinen Kirche stehen würde, – da gingen Heinrich und Marie Arm in Arm im Garten auf und nieder.

Heinrich war am Tage fröhlich wie immer gewesen, jetzt zeugte sein Gesicht von Anstrengung, einen Schmerz zu überwinden. Ach, dieser Schmerz war Marie längst kein Geheimniß mehr; mit ihrem Liebesblicke, durch die eigene Erfahrung geschärft, hatte sie gesehen, was allen Anderen entgangen war: daß er Margareth gern als sein Weib heimgeführt, daß sie es war, die seine Neigung als Knabe, seine Liebe als Jüngling gewesen war, und die jetzt des Mannes tiefe, innige Zuneigung besaß. Da Marie fühlte, daß ihr Bruder sein Geheimniß mit Niemand theilen wollte, so hatte sie mit zartem, weiblichem Takt es vermieden, ihn ihre Mitwissenschaft ahnen zu lassen. Wohl that es ihr in der Seele weh, den geliebten Bruder leidend zu wissen, aber dennoch bangte sie nicht für ihn. Sie wußte, daß sein Glück nicht von Menschenliebe und Menschenhuld abhängig war, daß er den Anker seiner Hoffnungen nicht in ein irdisches, vergängliches Ding geworfen hatte, – der Grund, auf den er sich gründete, war Christus Jesus, in ihm fand er seine Hoffnung, sein Glück, er hatte auf den Fels gebaut, der unbeweglich steht, wenn alles andere untergeht. Und Heinrich war nicht der Mann, der einer Liebe, welcher Gott seinen Segen versagte, träumerisch oder schmerzvoll resignirt nachgehangen hätte, bei ihm hieß es nicht: »Weil Gott will, so muß ich,« sondern: »Weil Gott will, will ich auch.«

Heute war ein traurig schöner Tag für ihn gewesen, er sah die Geliebte glücklich, und seine innigen Gebete begleiteten sie in ihre neue Heimath. Aber ein Entschluß, der längst in seiner Seele gekeimt, war auch heute gereift: er wollte an Ferdinands Stelle nach Indien gehen.

»Du sollst die Erste sein, die erfährt,« sagte er zu Marie, »was mich lange schon bewegt hat. Sieh hier im Lande ist keine solche Noth um treue Prediger, als unter den Heiden: ich habe jetzt die Missionsgeschichte gründlich studirt. – In Indien kommt auf eine halbe Million Heiden noch nicht ein Missionar, denke nur, 500,000 Menschen haben einen einzigen Prediger! O, Marie, wer das Wort von der Gnade Christi am eigenen Herzen erfahren hat, wer aus tiefster Seele sprechen kann: »Du hast mich erlöset, Herr Du treuer Gott!« dem wird und muß auch das andere Gotteswort vor Augen stehen: »Gott will, daß allen Menschen geholfen werde.« Ob ich nun auch nur einem einzigen Heiden vom Tode zum Leben, von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Lichte helfen kann – das weiß ich nicht. Aber die Früchte und der Segen ist des Herrn Sache, die meine ist, seinem Wort gehorsam zu sein. Mich binden keine nahen Pflichten hier, wohl wird es mir schwer werden, von Euch zu gehen, aber der Herr hat ja seinen Himmel um meinetwillen verlassen, er wird mir und uns Allen die Trennung leicht machen. Ich bin überzeugt, die Eltern werden ein freudiges »Ja« zu meinem Vorhaben sprechen und noch heute will ich ihnen alles sagen.«

Heinrich schwieg, Marie ebenfalls. Gedanke um Gedanke zog durch ihre Seele, sie konnte nicht gleich antworten, ihr Herz war voll Lobens und Dankens. Endlich sagte sie:

»Ich zweifle nicht an der Einwilligung der Eltern. Aber, Heinrich, ich hoffe, Du wirst nicht allein gehen, wenn sie es erlauben, werde ich Dich begleiten.«

»Du, Marie?« und Heinrich sah staunend seine Schwester an.

Ging in diesem Augenblick eine Ahnung durch seine Seele, daß auch sie schon früh dem liebsten irdischen Wunsch entsagen mußte? Ich weiß es nicht, – nie ist mit einem Wort der Schleier, der auf Maries durchkämpften Stunden lag, zwischen den Geschwistern gehoben worden.

»Ja, – kommt Dir das so unerwartet?« fragte Marie lächelnd. »Mir ist der Gedanke seit langer Zeit sehr vertraut, und als Margareth ihren Wunsch aufgeben mußte, da wurde es mir zur Gewißheit, daß ich in ihre Stelle treten würde. Aber ich sprach nie zu Jemand davon, denn ich wußte, daß die Eltern mich nicht so jung allein in die weite Welt gehen lassen würden. Daß ich gehen würde war mir gewiß, das Wann und Wie überließ ich dem Herrn, wohl wissend daß seine Stunde kommen würde.«

»Und wie bist Du zu dem Entschluß gekommen? Auch bei jenem herrlichen Missionsfeste, wie Ferdinand?«

»Er kam nicht plötzlich,« antwortete Marie, »Du weißt, ich bin eben eine langsame Person. Langsam hat mich die Liebe des Herrn besiegt, langsam habe ich mich ihm hingeben können, langsam und schwer ist mir auch die Noth der armen Heiden auf's Herz gefallen. Aber ein Wort, das ich über Indien gehört, hat mich nicht wieder losgelassen und ich habe es nie wieder vergessen können. Es hat sich mir so eingeprägt, daß ich es Dir wiederholen kann. »Wenn es wahr ist,« sagt ein Zeuge Christi, »daß Indien ein Sechstheil der ganzen Menschheit in sich schließt, dann stehe, o Christ, ein wenig stille und sprich zu Dir selbst: Von je sechs neugeborenen Kindern sieht eines dort das Licht der Welt: welchem Schicksal geht es entgegen? Von je sechs Bräuten auf Erden ist eine dort einem Manne verlobt: welche Liebe wird sie von ihm erfahren? Von je sechs Familien aus Erden hat eine dort ihren häuslichen Heerd: was für ein Band der Liebe vereinigt ihren Kreis? Von je sechs Wittwen auf Erden vertrauert eine dort ihre Tage: welche Tröstungen richten sie auf? Von je sechs Waisenkindern auf Erden irrt eines dort umher: welche Rettungsanstalten findet es zu seinem Schutze! Von je sechs verwundeten Gewissen auf Erden zittert eines dort um Frieden: welcher Arzt ist ihm nahe? Von je sechs Menschen, die auf Erden sterben, scheidet einer dort von hinnen: welchem Ufer jenseits steuert die scheidende Seele zu?« O Heinrich, sind das nicht erschütternde Fragen?« schloß Marie mit Thränen im Auge, »und wenn der Herr uns aufträgt, wir sollen sein Evangelium den Armen, Verlorenen bringen, – was haben wir da weiter zu thun als zu sprechen: »Ich bin des Herrn Magd; mache mit mir, was Du willst.«

Heinrich schloß die Schwester in seine Arme. »Und nun komm, laß uns zu den Eltern gehen, ihr Segen wird uns nicht fehlen, ja sie werden sich freuen.«

Und sie freuten sich auch, aber diese Freude war mit Schmerz und mit vielen heißen Thränen vermischt. Als sie sahen, daß es ein lang vorbedachter und wohl überlegter Entschluß ihrer Kinder war, da gaben sie sogleich ihre Einwilligung, aber furchtbar schwer wurde es dem Vater- und Mutterherzen, so plötzlich zwei Kinder zu verlieren. »Aber dennoch, ich möchte Euch nicht halten,« sagte Pastor Stieg, »unser hochgelobter Herr und Heiland ist es wohl werth, für ihn etwas zu opfern. In seiner Kraft gehet aus, in seiner Kraft wollen wir fröhlich hier bleiben. In seiner Kraft werdet ihr überwinden und reiche Beute davon tragen; es ist in Ewigkeit gut, auf den Herrn vertrauen, es ist noch nie einer zu Schanden geworden, der seine Hoffnung auf ihn gesetzt hat. Ja und Amen, Euch geschehe, wie Ihr glaubt.«

Da knieten die Kinder beide nieder vor den Eltern: »O Vater, Mutter, segnet uns!« Und die Eltern legten segnend die Hände auf die Häupter ihrer Kinder, während der Vater, als könne er gar nicht anders, als müsse er Gott sein Wort für seine Kinder vorhalten, die köstlichen Verheißungen über sie sprach: »Du hast gesagt: »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen.« Du hast gesagt: »Wer an mich glaubet, von des Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen.« Du hast gesagt: »Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die Du mir gegeben hast.« Du hast gesagt: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des ewigen Lebens geben.« Du hast gesagt: »Du wirst abwischen alle Thränen von unsern Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein,« wir sagen Amen, Amen, o Du treuer Gott und Herr. Und nun segne und behüte Euch der Herr; er lasse leuchten sein Angesicht über Euch und sei Euch gnädig; er hebe sein Angesicht auf Euch und gebe Euch seinen Frieden.«

Schon vor einer ganzen Weile war Lilli in die Stube getreten, sie begriff die feierliche Scene, welche sich ihren Augen und Ohren darbot, anfangs nicht. Als ihr dann alles gesagt war, da war sie schmerzlich bewegt. Der Gedanke, die geliebten Geschwister zu verlieren, war ihr fast unerträglich, die Kraft, welche ihre Eltern willig das schwere Opfer bringen ließ, wohnte ja nicht in ihr. Sie weinte laut und bat Heinrich und Marie flehentlich, doch zu bleiben, nicht fort zu gehen. Heinrich nahm sie in seine Arme und suchte sie mit sanften Worten zu beschwichtigen, und ihr die Ursache des Fortgehens, den Willen des Herrn, klar zu machen. Aber über Lillis Herz hatte das Wort Gottes jetzt keine Macht. Einem Trunkenen ist schlecht predigen, und wenn ein junges Herz in irdischer Liebe brennt und bangt und sich sehnt nach zukünftigem Glücke, wenn die Seele sich mit Eifer auf die Erfüllung eines lieben Wunsches gespannt hat, – dann kann der Herr bei ihr nicht Raum gewinnen, dann ist nicht die Zeit, wo sie anfangen kann, ihre Seligkeit mit Furcht und Zittern zu schaffen und dem Worte Gottes gehorsam zu werden. So war es jetzt mit der armen Lilli. All ihr Sinnen und Denken ging zu dem Baron von Wallerberg, der noch immer nichts von sich hören ließ; sie war zur Träumerin geworden, welche ob ihrer irdischen Liebe alle ihre Pflichten gegen Gott und gegen Menschen vergaß und vernachlässigte und die Ermahnungen der Eltern fast übel nahm, so daß diese endlich einsahen, daß Gott der Herr wohl mit dem Stabe Wehe an dies für ihn harte Herz würde schlagen müssen, um das lebendige Wasser der wahren Liebe und des rechten Glaubens aus ihm hervor springen zu machen.

Einige Tage nach diesem wichtigen vierten Oktober, da Pastor Stiegs vier ihrer Kinder zum Abschied vom elterlichen Hause segneten, wurde die alte Kutsche aus dem »Kutschschauer« gezogen, die ganze Familie, die noch in Burgdorf weilende Majorin von Heß einbegriffen, bestieg sie, um den jungen Pastor Gendenbergs einen ersten Besuch in ihrer Häuslichkeit zu machen. Margareth hatte schon nach dem altbekannten Wagen ausgesehen, drei Tage war sie erst verheirathet, aber es waren nicht die Anfänge goldener Flitterwochen gewesen. Ihre Schwiegermutter, welche wir ja früher schon ein wenig geschildert haben, hatte es für klug befunden, gleich recht ordentlich gegen ihre Schwiegertochter aufzutreten, ihr sofort die Stellung anzuweisen, welche sie zu ihr einnehmen sollte, – wenn sie es nicht von vorn herein thäte, so würde es hernach zu spät sein, meinte sie. Nun war es merkwürdig, daß sie ihre Schwiegertochter, die doch jedenfalls jetzt Frau und Herrin des Hauses war, als eine Eindringlingin betrachtete, welche sie aus ihren Rechten verdrängen wollte, – aber so wenig als möglich wollte sie sich nehmen lassen, hatte sie sich vorgenommen. Margareth hatte eigentlich noch gar nicht an ihre Rechte, der Mutter ihres Ferdinands gegenüber, gedacht, sie hatte sich nur an ihre Pflichten gegen sie erinnert und sich gelobt, sie zu ehren, zu lieben, sie hoch und werth zu halten. Aber weh hatte es ihr doch gethan, daß die Mutter das Stübchen, das an Ferdinands Studirzimmer stieß, für sich behalten wollte, während es Margareth schien, als käme dieser einzige Raum in der Nähe des Mannes am ersten seinem Weibe zu. Ferdinand wollte ein rasches Wort zu seiner Mutter sprechen, er wußte, daß sie eine von den Naturen war, welche immer mehr fordern, je mehr man ihnen nachgiebt, aber Margareths Bitte ließ ihn diesmal schweigen, ihr schien es unerträglich, gleich Zank im Hause zu haben, doch ein Bangen vor zukünftigen, schweren, friedlosen Tagen kam über sie; »aber sie soll mich nicht überwinden, sondern durch Liebe will ich sie mit Gottes Kraft überwinden,« so betete sie.

Doch fröhlich blickte Margareths Auge, freundliche Worte sprach der Mund, als sie nun die geliebten Ihrigen in ihre Wohnung, in ihr eigenes Heim führen konnte. Einfach war die Stube, in welcher sie alle Platz nahmen. Margareth dachte, daß ein Pfarrer weder Reichthum noch Armuth in seiner Einrichtung zeigen müsse, »schlecht und recht, das behüte mich« (Ps. 25), den Spruch hatte sie sich zur Norm für solche äußeren Dinge gewählt und Ferdinand war ganz ihres Sinnes. Alles im Pfarrhause sollte Unabhängigkeit vom Zeitlichen, Hingabe an das Ewige predigen, so zeugten Möbel, Gardinen, die ganze Einrichtung von gesunder Einfachheit. Aber mit Geschmack war alles geordnet, man fühlte den frommen Sinn der Bewohnerin, es wurde Einem bald wohl und heimisch hier. Der Spiegel fehlte im Zimmer, statt dessen hingen einige wenige gute Bilder an den Wänden: ein Christuskopf von Coreggio, von je eine besondere Liebe Margareths und Heinrichs Hochzeitsgeschenk für sie, Christus am Brunnen mit der Samariterin, der sinkende Petrus, dem der Herr eben die rettende Hand reicht, und über dem Sopha eine schöne Statue: Christus, die durchgrabenen Hände segnend ausbreitend. Unter diesen gesegneten Händen saßen jetzt die lieben Burgdorfer; nach den ersten Begrüßungen wurde Gendenbergs Heinrichs und Maries Entschluß mitgeteilt. Er rief große Freude hervor; während Ferdinand Heinrich kräftig die Hand drückte mit den Worten: »Du wirst dort mehr nützen als ich,« lagen Margareth und Marie einander in den Armen und erstere sagte: »Marie, Du bist viel, viel besser als ich, Dich wird Gott dort reichlich segnen.« Kein Mißton klang in die reinen Freudenakkorde, welche hier heut ertönten; die alte Pastorin Gendenberg schwieg, ihr waren Heinrich und Marie sehr gleichgültig, und die Majorin von Heß rief lebhaft aus: »Kinder, es kommt mir vor, als ob Ihr alle toll wäret! – Ihr habt Euch herzlich lieb und doch freut Ihr Euch, wenn diese da in ihr offenes Verderben rennen und Ihr ihnen Lebewohl auf Nimmer-Wiedersehen sagen müßt. Begreife das, wer kann! Aber ich muß mich beeilen, nach Berlin zurück zu kehren, denn es geht wie eine Ansteckung von Euch aus, – ja zuweilen kommt mir Euer Thun und Treiben schön und erhaben vor, es ist hohe Zeit für mich, dieser Atmosphäre zu entfliehen.«

»Zu spät, zu spät, Tantchen,« rief fröhlich Margareth, »Du bist schon angesteckt. Und wenn Du auch nach Hause reist, wir kommen Dir alle nach, – nicht wahr, Ferdinand, zu der Geschwister Abordnung, reisen wir doch nach Berlin?«

»So Gott will, gewiß,« antwortete dieser.

»Wir auch,« sagte Pastor Stieg, »das möchte ich mir nicht nehmen lassen.«

»Und dann quartieren wir uns Alle bei Dir ein, Tante,« sagte Margareth, »die ganze verderbte Atmosphäre logirt dann in Deinem Hause!«

»Und soll mir herzlich willkommen sein,« entgegnete diese, »ob ich gleich doch wünschte, daß Euch ein andrer Zweck zu mir geführt haben möchte.«

Für heute aber schien Frau von Heß sich noch recht wohl in dieser schlechten Luft zu fühlen. Mit großer Freude führte Margareth ihre Gäste im Hause umher, – wohl hätte sie hier und da gern etwas anders eingerichtet, wie es ihr hübscher und praktischer erschien, aber sie fürchtete ihre Schwiegermutter damit zu verletzen und ließ es. Und doch war es Allen, als sähe es ganz anders aus als früher, nur geringe Aenderungen hatte sie sich erlaubt, wenige neue Sachen waren hinzugekommen, aber es trug alles einen ganz neuen Stempel, – Marie sah wieder bewundernd zu Margareth auf, sie meinte, Niemand habe so wie sie die Gabe, mit geringen Mitteln alles um sich herum zu verschönern und es Jedermann heimisch und traulich zu machen. Mit Befriedigung bemerkte sie, daß eine Punschbowle mit vielen Gläsern, welche stets auf einem Tisch in der Stube gestanden, verschwunden war und an deren Stelle ein weißes Marmorkreuz mit der Inschrift:

Der am Kreuz ist meine Liebe,
Meine Lieb' ist Jesus Christ!

stand, an dessem Fuße die schön gebundene Bibel, welche der Vater den jungen Eheleuten am Altar überreicht hatte, lag. Der Garten am Hause war sehr groß, aber geschmacklos war die Einrichtung desselben, Gemüse- und Blumenbeete durcheinander, der Rasen an vielen Stellen von brauner Erde durchfurcht, – er machte dem Auge keinen angenehmen Eindruck. Lilli vergaß sich, ein »o, wie häßlich!« auszurufen, die Mutter sah sie strafend an, aber Margareth sagte fröhlich: »o, wie schön! wirst Du sagen, wenn Du nur erst das herrliche Obst geschmeckt hast, was da im Garten wächst. Und eine Weinlaube habe ich auch wie Ihr, aber viel, viel mehr Trauben sind daran als an Eurer!«

»Dank Dir,« sagte Heinrich, »Marie versichert, Du hättest zum Abschiede wenigstens die Hälfte unserer Trauben aufgegessen.«

»Dafür revangiren wir uns heute,« bemerkte Pastor Stieg in der fröhlichsten Stimmung.

Die Pfarre in Steinfeld war nicht sehr schön gelegen, überhaupt lag das ganze Dorf, wie schon sein Name sagte, im freien Felde. Die Berge und der Burgdorfer Wald fehlten, es gehörte etwas Phantasie dazu, die Umgebung schön zu finden. Margareth schien diese Phantasie zu besitzen, was ihre Gäste nicht von selbst schön fanden, das lobte sie, pries es ihnen an, und wußte so viele Vorzüge daran zu finden, daß man von der Vortrefflichkeit des Gegenstandes überzeugt werden mußte. Ferdinand war ganz erstaunt, Dinge, die er kahl und häßlich gefunden, zeigten heute so schöne Seiten, daß sie ihm ganz anders als sonst vorkamen. Selbst der große Misthaufen auf dem Hofe, den man von den meisten Fenstern des Hauses sehen konnte, beleidigte sein Auge und seine Nase nicht mehr, seit der Knecht auf Margareths Bitte, ihn hübsch glatt gemacht und rings herum sauber gefegt hatte und seit sie bemerkt, wie gesund die Ausdünstung desselben sei.

Es war schon spät Abends, als die Gäste fröhlich und vergnügt sich zur Heimfahrt anschickten. Tante Heß wollte morgen nach Hause reisen: »Auf Wiedersehen in Berlin,« sagte Margareth, »wir kommen Alle und dann wird Dein Haus zum rechten Missionshause. Grüße nur Herrn von Bruch von mir, und sag' ihm, ich habe neulich sein Stammschloß entdeckt, einen abscheulichen Teich hier in der Nähe, und seine Ur- Ur- Ur- Urahnen quackten Abend für Abend mir auf sehr unmelodische Weise ein Lied vor. Ich lasse ihn fragen, ob er gar nichts zu ihrer Entwickelung thun kann, ich wünsche so sehr, sie bald als civilisirte Menschen mit gesunden Sprachorganen aus ihrer nassen Residenz hervorgehen zu sehen.« –

Der Abreise von Heinrich und Marie stand nichts im Wege; die Missions-Gesellschaft, der sie sich zum Dienst angeboten, hatte die für Ferdinand bestimmte Stelle noch nicht wieder besetzen können, – es giebt unter den deutschen Kandidaten und Pastoren nur wenige, die ein gemüthliches, ruhiges Leben hier mit den Mühseligkeiten und Strapazen eines Missionsposten draußen vertauschen mögen, und doch bedarf Indien zu seiner Evangelisirung so dringend tüchtiger, durchgebildeter Theologen. Es wurde daher gewünscht, daß die Geschwister so bald als möglich abreisen und auf dem kürzesten Wege über Triest und Alexandrien nach dem Orte ihrer Bestimmung eilen möchten. Auf den vierten November war ihre Abordnung und Einsegnung festgesetzt, und am Nachmittag dieses Tages finden wir sie und all die lieben Freunde aus Burgdorf in einer kleinen Kirche in Berlin wieder. Wohl brauste draußen der kalte Novemberwind und früh brach der Abend des kurzen Tages an. Aber drinnen in den Herzen war es warm und licht. Heinrich und Marie waren froh bewegt, Ferdinand und Margareth war zu Muthe, als ob Jemand eine große Schuld für sie bezahlte, die Eltern waren, wenn nicht fröhlich, doch wenigstens ruhig und sehr getrost; bei Lilli war sogar auf kurze Zeit das Bild des Geliebten in den Hintergrund getreten, während die Majorin von Heß seltsam bewegt dasaß; zum ersten Mal seit langer, langer Zeit trat ihr der Glaube als eine lebendige That entgegen; »es muß doch etwas Gewaltiges um diesen Glauben sein, für den diese so viel opfern können! Sollte er am Ende doch mehr sein, als eine absolute Idee, eine sittliche Weltordnung, eine Urmaterie, als die allgemeine Urkraft des Alls?« Sie gestand sich, daß man wohl eine liebende Person lieben und für sie etwas drangeben könne, aber noch nie hatte der Gedanke an eine allgemeine Weltseele, an eine Urkraft, ihr Herz warm machen oder sie zu einer Hingabe bewegen können! Aber diese Burgdorfer alle sprachen von diesem »Jesus,« als sei er eine wirklich lebende Person in ihrer nächsten Nähe – was war es mit ihm? Sie konnte jetzt unmöglich noch von Schwärmerei sagen, denn die alten Pastor Stiegs, waren so nüchtern, so ruhig und doch merkte man ihnen an, daß die Triebfeder ihres Lebens, all ihres Handelns, eine außer ihnen liegende, himmlische war! Und Margareth? War es am Ende doch nicht Schwärmerei und Eigensinn gewesen, als sie in jenem Winter in Berlin die Vergnügungen der Welt nicht mitmachen wollte? Hatte sie ihr Glück mit Füßen getreten, als sie sich von jenem Herrn von Bruch wandte, der seitdem trotz seiner gelehrten Weltanschauung doch ein frivoler Weltmann geworden war, dessen Leben Frau von Heß schon oft zu frei und fessellos gefunden? Von Unglück und resignirtem Entsagen war aber auf Margareths friedlichem Antlitz und in den klaren Augen nichts zu lesen. Hatte am Ende gar ihre eigene Schwester Agnes doch nicht toll und thöricht gehandelt, ja vielleicht etwas besseres ergriffen, als sie selbst je besessen? Solche Gedanken bewegten Frau von Heß, und so andächtig wie noch nie folgte sie dem Gesang und lauschte dann den Worten der Predigt, welche in eingehender schlichter Weise die Frage behandelte: »Warum treiben wir Mission?« und die Antwort gab: »Weil wir müssen – denn Jesus hat's uns befohlen, und weil wir nicht anders können – denn er hat uns geliebet bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze, und nun dringet uns seine Liebe.« – Nach der Predigt wurde den Scheidenden vom Altar aus der Reisepaß in dem Befehl des Herrn: »Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker« und der Reisestab mit den Worten: »Siehe, ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende,« gegeben. Dann wurden Heinrich und Marie gesegnet im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, nachdem sie vorher mit einem festen »Ja« sich seinem Dienste gelobt hatten. Nur klein war die Versammlung, welche die Scheidenden mit ihrem Gebet begleitete, aber ein Wehen des heiligen Geistes war in der Kirche zu spüren und auf den Gesichtern der Festgenossen zu sehen. Beschreiben läßt sich ein solches Fest nicht, und wollte man Wort für Wort aufschreiben, was da gesungen und gesprochen worden, – man hätte doch nur ein dürres Spalier hingestellt, die Liebe allein kann es mit grünem Laub bestecken. Als Marie aus der Kirche kam, reichte sie den Eltern ruhig die Hand und sagte:

»Der Herr ist mein Hirte, Hallelujah!
Mir wird nichts mangeln, Amen!«

»In Ewigkeit nichts,« antwortete der Vater.

Einige wenige Tage waren den Reisenden noch vergönnt im Kreise der Ihrigen zuzubringen, und doch wünschte Pastor Stieg fast, daß sie noch verkürzt würden, denn diese Zeit war aufreibend für seine Frau, der Schmerz der Trennung wollte sie oft übermannen, und Alle fühlten, daß ihr besser sein würde, wenn erst der Abschied überstanden. Aber welche Fülle von Liebe wurde in diesen Tagen sichtbar, Niemand dachte mehr an sich selbst, Jeder sann, wie er den andern noch Liebes thun könnte, bald, ehe es zu spät wäre. Um keinen Preis hätte man einander ein kaltes oder unfreundliches Wort gesagt, jeder suchte den Wunsch des Andern aus dem Auge zu lesen und beeilte sich, ihn zu erfüllen, – man wußte ja, daß man nicht lange mehr beisammen war. O, und wissen wir denn, die wir nicht nach Indien gehen, wissen wir denn, wie lange wir hier noch mit einander auf dem Wege sind, wie bald wir vielleicht in ein noch viel ferneres Land gehen werden, aus dem es kein Wiederkommen giebt? Und wie betragen wir uns gegen die, von denen jede Stunde uns auf ewig trennen kann? Wenn uns gesagt würde: der und der wird in einem Jahre sterben, – wie würden wir die Zeit benutzen, ihm Liebes und nichts Leides zu thun, wie würden wir uns hüten, ihm weh zu thun oder ihn zu kränken, – nun aber, wer sagt Dir denn, daß der, dem Du heute schnöde und lieblos begegnest, morgen noch unter den Lebenden weilt? Darum:

O lieb', so lang Du lieben kannst,
O lieb', so lang Du lieben magst,
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!

Endlich war der Tag der Abreise gekommen. Auf dem Bahnhofe sah es aus wie gewöhnlich, Schaffner gingen auf und ab, Leute liefen hin und her, Gepäck wurde besorgt, die Lokomotive dampfte und zischte, es war alles wie sonst und doch wie ganz anders! Die Mutter konnte ihre Kinder gar nicht aus den Armen lassen: »ich sehe Euch nicht wieder,« sagte sie.

» Christen sagen einander nie Lebewohl auf Nimmer-Wiedersehen, sie sehen einander nie zum letzten Male,« antwortete der Vater.

Da pfiff die Lokomotive. War der Pfiff heute viel gellender als sonst? Warum schnitt er denn Allen so durch Mark und Bein? Noch ein letzter Händedruck – ein Kuß – und schon lag eine weite Strecke zwischen denen, die so eng verbunden.

Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm Dein Küchlein ein.
Will Satan sie verschlingen,
So laß die Englein singen:
Sie sollen unverletzet sein.

Lassen wir die Reisenden mit diesem letzten Gebet dem fernen Süden zueilen und begleiten wir unsere Lieben nach Burgdorf und Steinfeld zurück.

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