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16.

Der Mai war schön, Frau Benedikta saß täglich im Freien.

Wenn sie sich auch zum Chor hätte hinauf tragen lassen, jeder hätte ein Recht gehabt, sie zu fragen, was sie da oben wolle.

Von Arbeiten war bei ihr keine Rede mehr.

Aber die Angst verzehrte sie; sie fürchtete sich zu sprechen, und sie fürchtete sich zu schweigen –

Hatte sie nicht schon einmal Maria zur Freiheit verhelfen wollen?

Und die Arbeit im Chor ging ihrem Ende zu; vielleicht war sie zu Ende mit dem heutigen Tage.

»O Gott,« betete sie aus tiefster Seele, »ist es dein Wille, so gieb mir die Kraft –«

Sie, an die sie dachte, trat in diesem Augenblick aus der kleinen Hinterthüre, die von der Kapelle in den Garten führte.

.

Mit zwei Schritten stand Maria vor Frau Benedikta.

Diese fuhr von ihrem Stuhle auf:

»Mein Kind, was ist mit dir geschehen?«

»Ich bin eine Lügnerin,« stieß Maria hervor, bleich bis in die Lippen, am ganzen Körper bebend, »nicht wahr ist's, daß ich glücklich bin, nicht wahr ist's, daß mir Beten und Gott dienen das Höchste ist – nichts ist wahr von allem, was ich thu und sag – Sehen Sie nicht die Lüge auf meinem Gesicht? Ich kann nicht mehr leben mit dieser Lüge – Ich will wahrhaftig sein,« schrie sie auf, »so wie er – wie der Tag – wie Gott im Himmel – nichts mehr verbergen – nichts mehr heucheln – Ich sehne mich nach Glück –«

Sie war auf die Erde gesunken, und das Gesicht gegen Frau Benediktas Knie drückend, brach sie in leidenschaftliches Weinen aus.

Die kranke Frau hatte die Hände gefaltet, sie dankte Gott.

Das Schwierigste war gethan.

»Steh auf, mein Kind,« sprach sie leise, »zeige, daß du gelernt hast, dich zu bezwingen; du sollst nicht hier sein jetzt –«

»In der Kapelle – die Blumen,« stotterte Maria.

»Versäume nichts.« – – –

Der Weg des Malers ins Kloster führte durch die Ökonomie; sehr oft, wenn er an dem großen Hofthor läutete, öffnete ihm Frau Petronilla selbst.

Auch jetzt, als er zu früher Morgenstunde zu seiner einsamen Arbeit eilen wollte.

Frau Petronilla, die immer ein kräftiges Wörtlein auf den Lippen hatte, war schon lange seine Freundin.

Aber heute sah sie ihn mit einem grimmigen Blick an:

»Wenn's denn sein muß,« murmelte sie, »brr!«

Und damit reichte sie ihm mit abgewandtem Gesicht einen Brief von Frau Benedikta hin.

Er las ihn im Chor; es waren nur wenige Worte.

»Maria ist bereit. Lassen sie der Frau Äbtissin sagen, meine Anwesenheit im Chor sei Ihnen unter irgend einem Vorwand erwünscht.«

Markus las die Worte zwei-, dreimal, und als er aufblickte, hatte er wieder sein klares, entschlossenes Gesicht.

Die sechswöchentliche Arbeit im Chore hatte ihn stärker mitgenommen als all sein Ringen und Kämpfen der letzten Jahre – die Todesangst saß ihm im Herzen; der Gedanke: ›du gehst und sie bleibt‹ – wütete wie ein verzehrendes Feuer in. seinen Adern.

Denn wenn er auch erkannt hatte, daß Maria ihn nicht vergessen, wenn manchmal ein Blick ihm gesagt, im tiefsten Innern dieser ernsten, jungen Nonne schlummert noch ein Rest des alten Mariele – zwischen ihnen lag eine Kluft, die nur eine starke Liebe zu überbrücken vermochte –

Und jetzt war sie bereit.

Sie hatten kein Wort gewechselt, aber ihre Seelen hatten sich gefunden.

All die Blicke, all die Ohren rings umher, sie hatten nichts gesehen und nichts vernommen von der mächtigen Sprache ihrer heiß erwachten Sehnsucht.

Er arbeitete; sein Werk hier sollte kein unfertiges bleiben; die Hauptaufgabe, die er sich gestellt, blieb noch zu thun. Die beiden Hauptgestalten auf der Pietà und dem Muttergottesbild hatten noch kein Gesicht.

Er arbeitete, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann. Man rief ihn zum Mahle, er hörte es nicht. Er stand da oben auf seinem Gerüst, bis die nächtlichen Schatten den Raum verdüsterten. So trieb er's auch am folgenden Tag.

Was er schaffte, es war seine Liebeswerbung – das Bekenntnis seiner Seele – die Sehnsucht seines Lebens: die heilige Jungfrau trug Marias und der Urgroßmutter Züge –

Der Äbtissin hatte er sagen lassen, sie möchte ihm gestatten, Frau Benediktas Hände für seine Pietà verwerten zu dürfen. Jetzt, um sechs Uhr sollte sie kommen. Wenige Minuten vorher hatte er seinen Pinsel weggelegt. Es flimmerte ihm vor den Augen, daß er sie schließen mußte. Als es pochte, fuhr er auf und eilte zur Thüre. Er war kein müder Mann mehr.

Frau Benedikta schien mit der letzten Kraft ihres Lebens da herauf gekommen zu sein.

Langsam, von Frau Petronilla und Maria unterstützt, schleppte sie sich zur Wand mit der Jungfrau und der Pietà.

.

Und Frau Benedikta brach in Thränen aus:

Ja, das war ihr Kind, das war Maria, wie sie in leuchtender Wahrhaftigkeit ins Leben sah – und so voll der Liebe, so voll der innigsten Zärtlichkeit, preßte sie das Kind ans Herz! Aber es lag noch etwas anderes in ihrem Gesicht als Glück und Liebe und Zärtlichkeit – ein stiller Ernst sah aus den Tiefen ihrer großen Augen – das Ahnen kommender Schmerzen –

Sie fanden in den thränenmüden Augen der Pietà nebenan ihren höchsten Ausdruck – der Pietà mit dem weichen, schmerzensreichen, liebevollen Mund der Frau Benedikta.

Markus aber sah sich verstanden, denn wie entrückt starrten Marias Augen das Bild der Jungfrau an – o sie kannte jeden Zug in diesem Gesicht – und ihre Seele erfaßte zum erstenmal ein Ahnen – das Ahnen des Unerforschlichen – jener dunklen, geheimnisvollen Gewalten von Mensch zu Mensch –

Frau Benediktas leise Stimme brachte sie zu sich selbst.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren,« hörte sie die mütterliche Freundin sagen, »wir müssen uns entschließen – was soll geschehen?«

Und nun sprach Markus:

»Ich bin an der Pforte heute nacht – an der Pforte des Ökonomiegebäudes – die ganze Nacht – ich warte – meine Mutter nimmt uns auf –«

Er sprach fest und bestimmt, seine Augen suchten Maria.

Da fing sie an zu zittern; sie wußte sich nicht zu helfen vor diesem Ansturm wilder Freude, wilden Leides.

»Was soll ich thun?« wandte sie sich an Frau Benedikta.

»Gehen,« sagte diese.

»O du meine Mutter!« schluchzte Maria auf und barg das Antlitz in Frau Benediktas Kleid.

In diesem Augenblick ertönte der Ruf der Klosterglocke zur Maiandacht, und die Frauen richteten sich auf, der Gewohnheit des Gehorchens selbst jetzt getreu.

Die beiden jungen Menschen wechselten noch einen Blick unter der Thüre – einen kurzen Blick, aber er enthielt alle Seligkeit, die ein Menschenherz zu fassen vermag.

Es war spät in der Nacht; Frau Petronilla saß am Lager der sanft schlummernden Frau Benedikta.

Sie hatten noch der Maiandacht beigewohnt; vor ihrer Zelle brach Frau Benedikta zusammen, und Frau Petronilla trug die Freundin auf ihr Lager.

Nun lag sie mit gefalteten Händen da, angekleidet, mit dem Gesichtsausdruck eines friedlich schlummernden Kindes.

Frau Petronilla betete den Rosenkranz.

»Gegrüßet seist du, Maria, Muttergottes –«

»Da liegt sie nun – es hat sie verzehrt – sie war zu schwach für ihre Bürde. – Hast du denn meine Schultern nicht gesehen, lieber Gott im Himmel? Ich hätt's durchgemacht –«

»Du bist voll der Gnaden,« nahm sie ihr Gebet wieder auf, »der Herr ist mit dir –«

»Aber dein Bild ist da – dein Bild steht da – du wirst mit uns sein, auch wenn deine Seele längst im Himmel ist. – Gelt, halt mir einen Platz frei recht nah bei dir, und bitt für mich, daß ich keinem Siechtum verfall; ein Schlägle wär mir's liebst –«

»Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns arme Sünder –«

»Eine aber weiß ich, die freut dein Bild nicht – die sagt sich nicht gern: ›und doch war die schwache Benedikta die Stärkere‹ – Sie wird thun, als ob sie dich nicht erkenne – brrr! – sie werden alle so thun müssen, und sie werden dich alle erkennen. ›Du hast's ganz recht gemacht,‹ wird die heilige Jungfrau zu dir sagen, ›lieber eine Glückliche draußen als eine Unglückliche im Kloster –‹ Ja, das sagt sie, aber ein bissel Obacht hält sie schon geben dürfen – 's Leben hätt's dich nicht kosten brauchen – Gott verzeih mir meinen Vorwitz –«

»Und bitte für uns arme Sünder jetzt und –«

»Und in der Stunde unseres Todes,« betete Frau Benediktas leise Stimme mit.

»Ich habe gut geschlafen,« setzte sie mit einem heiteren Lächeln hinzu, »und mir ist leicht und frei – In jenem Augenblick, als wir vor dem Bilde standen – da, da hat mich mit einemmal alle Angst verlassen – Gott sei's gedankt!«

Kurz vor Mitternacht tönte die Sterbeglocke durch das Klosterhaus.

In dem breiten Gange, auf den die Zellen der Frauen mündeten, wurde es lebendig; eine nach der anderen erschien, ihr Licht in der Hand; und sie standen und warteten auf die Äbtissin.

Niemand that eine Frage. Eine ältere Nonne und eine Laienschwester waren bettlägerig; der gute Tod war wohl bei einer von diesen eingekehrt.

In demselben Augenblick als die Äbtissin unter ihren Frauen erschien, tauchte Frau Petronillas Gestalt am anderen Ende des Ganges vor der Zelle der Frau Benedikta auf. Aus dieser Zelle fiel ein heller Lichtstrahl über die stumme Frau unter der Thüre.

Da wußten die Nonnen, wessen Zelle der gute Tod betreten hatte.

Der Geistliche war gekommen um der Sterbenden die letzte Ölung angedeihen zu lassen.

Leise, kaum merklich hauchte Frau Benedikta ihren letzten Seufzer aus.

Die Äbtissin kniete auf dem Betstuhl und um sie herum, dicht aneinander gedrängt, knieten die Frauen, vor der Thüre der Zelle die Schwestern und Mägde.

»Ihr Heiligen Gottes,« betete die ehrwürdige Mutter, »kommt ihr zu Hilfe; Engel des Herrn, eilet ihr entgegen; empfanget ihre Seele; bringet sie vor den allerhöchsten Gott.

Herr, sei ihrer Seele gnädig.
Jesus Christus, sei ihr gnädig.
Herr, sei ihr gnädig.
Gieb ihr, Herr, die ewige Ruhe.«

Aber es war nur eine einzige Stimme, die antwortete:

»Und das ewige Licht leuchte ihr.«

Frau Cäcilias Stimme.

Die anderen Frauen vermochten nicht zu sprechen; sie weinten, die Schwestern draußen, die Mägde weinten.

Und die Äbtissin sah diese Thränen, hörte das unterdrückte, schmerzliche Schluchzen ihrer Frauen, die sich nicht zu fassen vermochten über den Verlust dieser geliebten Schwester, die wie eine Verklärte auf ihrem Lager ruhte.

Und die hohe Frau betete ihre Litanei zu Ende, nur von Frau Cäcilias Stimme unterstützt. Und indem sie betete, mußte sie ihrer eigenen vermeinten Todesstunde gedenken, und all der thränenlosen Augen, die damals ihrem letzten Kampfe entgegen gesehen hatten.

Eines aber hatte diese, von allen am meisten geliebte Frau Benedikta doch nicht erreicht – in dem Kampfe um Maria blieb sie – die Äbtissin, die Siegerin –

»Frau Theresia,« mahnte sie, nachdem sie sich erhoben und die anderen Frauen mit ihr, »Frau Theresia, folgen Sie uns –«

Frau Petronilla trat vor:

»Erlauben Sie uns beiden, zu wachen; es wäre gewiß im Sinne der Entschlafenen.«

Der Äbtissin kam diese Bitte ungelegen; Maria rührte sich nicht, auch nicht auf der Vorgesetzten Gebot. – Und doch – in diesem Augenblick sich anders als mild zeigen – die Äbtissin wagte es nicht –

Von ihren Frauen umgeben, verließ sie, einen strafenden Blick auf die regungslose Maria werfend, das Totenzimmer.

Und tiefste Stille sank über das Klosterhaus.

Jetzt erst wagte Maria zu weinen, jetzt erst gab sie sich rückhaltlos der Gewalt ihres Schmerzes hin; sie redete mit dem stillen Gesicht, sie bedeckte es mit Küssen; sie fand kein Ende zu danken, zu klagen und wieder zu danken.

Frau Petronilla betete ihren Rosenkranz; das half ihr immer, wenn sie der Fassung bedurfte.

Denn sie mußte handeln, sie durfte den Kopf nicht verlieren; Frau Benediktas Werk mußte zu Ende geführt werden.

Also erhob sie sich und nahm Frau Benediktas Mantel von der Thüre.

»Nun gehen Sie in Gottesnamen zu dem, der Ihrer wartet,« sprach sie mit rauher Stimme, nahm Maria Skapulier und Schleier ab und hing ihr den Mantel um.

Sie waren schon an der Thüre.

Das junge Geschöpf wandte sich noch einmal um:

»Mutter – meine Mutter –«

Frau Petronilla zog die Widerstrebende mit sich fort.

Im Freien erhob Maria plötzlich das Haupt; es war, als ob der frische Luftzug, der durch ihre kurzen Locken fuhr, ihr mit eins ein neues, ein lebensfrohes Bewußtsein zuführe.

Sie atmete tief, sie schritt mächtig aus.

Frau Petronilla keuchte zürnend hinter ihr her:

Wie sie eilte – hatte sie schon vergessen, was hinter ihr lag – den Preis für ihre kommende Freiheit?

Sie standen vor der Mauer, die die Ökonomiegebäude umschloß.

Frau Petronilla griff nach dem Schlüsselbund an ihrer Seite und öffnete das Thor.

Im nächsten Augenblick lagen sich Markus und Maria in den Armen. Sie konnten nicht sprechen, sie konnten nicht denken – sie hielten sich nur fest wie zwei, die sich in Todesangst nacheinander gesehnt.

Und schwer und wuchtig fiel die Klosterpforte hinter ihnen ins Schloß.

Da schrie Maria auf:

»Frau Petronilla – o Frau Petronilla!«

Es war zu spät; die Pforte öffnete sich nicht mehr.

Und Maria preßte ihr Gesicht dagegen und weinte bitterlich.

»Bist du denn nicht glücklich?« fragte Markus, »warum weinst du?«

»Weil ich habe glücklich sein können,« gab sie zur Antwort, »Markus – da drinnen, – die meine Mutter war, ist tot –«

Er nahm sie leise bei der Hand und zeigte zum Berg hinauf, hinter dem das erste Frührot den Himmel golden färbte.

Und so schritten sie miteinander dem neuen Tag entgegen.

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