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4.

Für Mariele begann nun ein eigenes Doppelleben; zu Hause war sie das Unbändigste aller Dorfkinder; vor dem Klosterhof aber zog sie ihre Schuhe an und glättete sich die Haare; sie dämpfte sogar ihre Stimme, denn sie empfand mehr und mehr das Schöne, Leise, Zarte, das von diesen weißgekleideten Gestalten ausging, die nie hasteten, nie die Stimme erhoben und Milde zeigten, selbst wenn sie die Kinder strafen mußten.

Aber ihre Eigenart behauptete die Kleine darum doch. Keinem Kinde wäre es je eingefallen, sich den Nonnen anders als mit der größten Ehrerbietung zu nähern; Mariele aber flog Frau Benedikta nie anders als mit dem Jubelruf: »Meine! Meine!« entgegen. Und da half kein Schelten. Wenn Frau Benedikta ihr strengstes Gesicht aufsetzte, das Kind glaubte ihr nicht. Und das Kind hatte recht; das Bild der Kleinen verfolgte sie in ihre Gebete. Oft verglich sie ihre eigene Kindheit mit der Marieles; das enge Stadtheim und die vielen heranwachsenden Mädchen, die sich in den paar Stuben mit dem Bestreben bewegten, den Vater, der sich von seiner anstrengenden Bureauarbeit ausruhte, ja nicht zu stören. Und im Hause, das ewige Gespenst, das sich in jede Freude, in jedes Erlebnis drängte – die Frage: was soll aus uns werden?

So waren sie ausgewachsen, die Schwingen schon gebrochen, bevor diese gelernt, sich zu entfalten.

Und nun Mariele – so urwüchsig, wahrhaftig und bis zum Exzeß mutig! Wenn sie in die Klasse stürmte, was kam da nicht alles mit an Erlebnissen, Abenteuern, Lustigkeit! Die Kinder vergötterten sie und waren wie im Dorf auch in der Schule die Vasallen des Guts-Mariele.

Und doch – Frau Benedikta wußte sehr wohl, weder Sorgfalt, noch Güte und Liebe wurden dem Mariele zu Hause zu teil; nur einen guten Kameraden hatte sie, den Markus, von dem sie allezeit sprach, der ihr die Lust, die Freude und das Glück schenkte, wonach des Kindes Herz verlangte.

Merkwürdig, von diesem Markus sprach Frau Benedikta nie; so viel sie vom Mariele erzählte, des Gespielen erwähnte sie nicht; auch eines Erlebnisses mit der Kleinen erwähnte sie nicht.

Sie stand einmal auf der Treppe des Klosterhofes und sah den Kindern beim Spielen zu; da gewahrte sie ein Kätzchen, das unter der Dachrinne saß und jämmerlich miaute.

»Komm,« lockte die Nonne dem Tierchen, indem sie die Hand nach ihm ausstreckte.

Ihr Ruf wurde mißverstanden, statt des Tierchens eilte Mariele herbei, wie auf Flügeln, mit den Fußspitzen kaum die Erde berührend, hing sich an Frau Benediktas Hals und bedeckte ihr Gesicht mit so stürmischen Küssen, daß die der Zärtlichkeit ungewohnte Nonne fast gar den Atem verlor.

Erschreckt drückte sie das Kind von sich weg.

»Mariele, was fällt dir ein!«

»Ich hab dich halt so lieb,« sagte die Kleine, »dich und den Markus am liebsten auf der Welt!«

Welch eine Glut barg dieses Kinderherz.

Und sie kam bei jeder Gelegenheit zum Vorschein, gleich kräftig im Hassen wie im Lieben.

Da waren zwei größere Mädchen in der dritten Klasse, denen in den Freistunden die Aufsicht über ihre Mitschülerinnen anvertraut war. Sie hießen Pia und Charlotte.

Diesen beiden einen Streich zu spielen war Mariele's größte Wonne. Und sie that es immer wieder, trotz des Verbotes ihrer Lehrerin.

Mußte Frau Benedikta nach solchen Niederlagen nicht der Gedanke kommen, daß sie überhaupt unfähig sei, dies Kind zu leiten? Sonst, wenn ihr dergleichen Zweifel kamen, hatte sie sich bei der Aebtissin Rats geholt, seit einiger Zeit jedoch war das anders; so manche Aeußerung des Kindes war von der hohen Frau mißverstanden worden, und Frau Benedikta hörte auf, vollkommen aufrichtig zu sein. –

So weit hatte sie die Liebe zu diesem Kinde gebracht. –

Und doch – konnte diese, ihre tiefinnerste Sehnsucht, den Liebling glücklich zu sehen, eine Sünde sein?

Frau Benedikta zählte um diese Zeit sechsunddreißig Jahre; sie war immer eine zufriedene, freundliche und milde Frau gewesen, die heftigen Auseinandersetzungen gern aus dem Wege ging und lieber eine Wahrheit verschwieg, als sie andern aufzudringen. An dem Tage, als die kleine Marie hinter dem Gitter des Sprechzimmers mit ihren prüfenden Kinderaugen an Frau Benediktas Zügen hing, an diesem Tage war das Schicksal in das Leben der kleinen friedlichen Nonne eingezogen.

Sie ahnte es nicht, sie empfand es nur mehr und mehr als ein Unrecht, dem lebhaften und eigenartigen Wesen des Kindes Gewalt anzuthun.

Als Mariele seinen ersten Beichtzettel schrieb, in dem zu lesen stand:

»Wir sollen alle Menschen lieben.
Ich kann aber nicht alle lieben.
Erstens die Tant nicht.
Zweitens den Schreiner nicht.
Drittens die Pia nicht.
Viertens die Charlott nicht.
Sonst habe ich sie fast alle lieb.«

versuchte Frau Benedikta die Kleine zum Schreiben eines andern Beichtzettels zu veranlassen, allein Marieles Antwort: »Wenn ich ja die alle lieb hält, thät ich auch nichts Böses,« machte sie verstummen, trotz der inneren Stimme, die ihr sagte, daß diese Wahrheit mehr eine irdische als eine himmlische war.

Der Herr Pfarrer stellte denn auch sein Beichtkind zur Rede, warum es nicht brav, wie sich's gehöre, seine Sünden aufsage, mit der genauen Angabe der Zahl.

»Dann thu ich doch lieber die Sünd nit, wenn ich lang ans Zähle denke soll,« gab ihm die kleine Rebellin zur Antwort.

Aber schließlich rührten die Worte des Geistlichen doch ihr Herz, und sie lief spornstreichs vom Beichtstuhl zur Pia:

»Du, ich bet jetzt alle Tag ein Vaterunser, daß ich dich und die Charlott lieb habe kann,« berichtete sie voll Eifer.

Als sie erfuhr, die Taut sei im Sprechzimmer, eilte sie seelenvergnügt hinauf, um auch ihr zu sagen, daß sie sich alle Mühe geben wolle, sie lieb zu haben.

Frau Berghold hatte in der That wieder einmal, hoch aufgeputzt und mit einem bis an den Rand vollen Herzen, den Weg ins Kloster genommen.

»Das Zusammestecke mit dem gottvergessene Bu,« erklärte sie, »das solle die Lehrerinne ihr verbiete; darum bin ich komme. ›Gute Morge, Frau Berghold,‹ sagt er heut früh, der Markus, ›da hat gestern der Knecht 's Ausgabebüchle beim Kaufmann liege lasse,‹ sagt er und macht ein Gesicht wie die heilig Unschuld in Person. ›Jesses,‹ sag ich, ›kannst du auch emal für mich eine Gefälligkeit habe, wo muß man dann das hinschreibe?‹ ›Bitte,‹ sagt er, ›'s ist gern geschehe.‹ Ich mach mei Büchle auf – ein nagelneus auch noch, grad zwei Seite wäre voll geschriebe – was steht auf der dritte? mei Konterfei, wie ich leib und leb, zum Schreie – du verfluchter – du verflammter Bengel,« verbesserte sie sich, »ich reiß halt, denk ich, ins Kuckucks Name die verschmiert Seit raus, denk ich. – Ja, hopsa, auf der andre bin ich auch, und so fort und so fort, auf jeder Seit bis an's End vom Büchle; in alle Tonarte steh ich da, von hinte, von vorne, von nebe – und wie ich's im Mann zeig, lacht er sich den Buckel voll. Das ist der Lohn für mei Schaffe wie ein Pferd. Wo ist denn da die Allgerechtigkeit, wo kriecht sie denn immer hin, wenn die Bergholde an der Reih ist?«

Sie schneuzte sich, und die Propstin, die nichts mehr hörte und ihr Gebrechen durch das Einsträuen frommer Sprüchlein zu bemänteln suchte, meinte, als sie die Frau in Thränen sah:

»Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er.«

»Auf so e Lieb bin ich nit versesse,« ereiferte sich Frau Berghold, und als in diesem Augenblick Mariele zur Thür hereingeschossen kam, wies sie auf das Kind:

»Predige Sie lieber an des Mädel hin; ich sag nit, 's soll im Stall helfe oder Feldarbeit thun – ich verlang nur, was recht ist. Aber im Mariele sein Mutter ist eine Fortiosin auf dem Fortepianino gewese, und das steht in der Wohnstub, und da soll's hinsitze und e bißle dudle–«

»Aber liebe Frau Berghold,« wendete Frau Benedikta ein, »das muß man lernen –«

»Das ist ein Irrtum,« unterbrach sie die Tant, »der Markus kann's auch, ›du alte Kukummer, du zottiger Bär,‹ spielt er, und damit meint er mich. – Ich sag Ihne, wenn Sie's dem Mariele nit verbiete thun, noch länger mit dem Bu rum zu streiche, mit dem Strolch, der gewiß noch lügt und stiehlt –«

Dunkelrot vor Wut stand das Mariele vor ihr:

»Wart du, wann ich wieder aus der Gnad Gottes bin –« machte kehrt und lief spornstreichs, als ob es brenne, nach Hause.

Markus, jetzt ein lang aufgeschossener Bursch, dürr wie ein Stecken, brachte Marieles Empörung lang nicht das Interesse entgegen, das sie erwartete.

Noch vor kurzem, wie hatte er sie da geschüttelt, wie wild hatten seine Augen drein geschaut, als sie ihm mitteilte, sie wolle Klosterfrau werden. – Jetzt mit einemmal rührte ihn nichts mehr; wenn sie sprach, schaute er an ihr vorbei, so ganz eigen, in die Ferne, und als sie in ihn drang: »Hast du einen Kummer, Markus?« gab er zur Antwort: »Ja, daß die Zeit rum geht!«

Jeder im Dorf konnte jetzt thun, was er wollte, Markus hatte keine Strafgelüste mehr. Dagegen war kein Haus, keine Wand, kein blankes Fleckchen am Weg mehr sicher vor seinen Zeichnungen, und bald war kein Mensch im Dorf, dessen Konterfei nicht plötzlich da oder dort erschienen und belacht worden wäre.

Vater Klein bekam vor Kummer über den Sohn graue Haare, und die arme Mutter Klein fiel zusammen wie ein Häufchen Elend.

Markus mußte den ganzen Tag an der Hobelbank stehen, und schließlich ließ ihn der Vater nicht mehr zum Haus hinaus.

Und eines Tages kam Mariele wie eine Verzweifelte in die Schule gelaufen; sie hatte zwei Tage gefehlt; nun erschien ihr Gesicht an der Klassenthüre, blaß, verweint, die Haare zerzaust.

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Frau Benedikta eilte auf den Gang hinaus, und Mariele teilte ihr unter ersticktem Schluchzen mit:

»Der Markus ist fort; er hat die fertigen Sarg seines Vaters alle mit bunten Blumen bemalt, da hat seine Mutter gesagt: ›jetzt schlagt er dich tot‹ – und morgens war der Markus fort. Ich hab ihn gesucht – ich war im Wald und weit draußen über Feld – ach Gott, er kommt gewiß nimmer heim – ›Mariele‹, hat er noch vor ein paar Tagen gesagt, ›schau, wenn die Mutter nit wär und du – ich wär schon lang auf und davon – ich hab in einem Buch von einem großen Maler gelesen und so einer muß ich werden – wenn ich morgens aufwach, möcht ich alles zusamme schlage, weil wieder ein Tag 'rum ist und ich als noch hoble muß.‹«

Mariele schlang beide Arme um Frau Benediktas Hals:

»Jetzt hab ich niemand mehr als dich – gelt, du läufst mir nit auch davon?«

»Wenn nur du mir nicht davon läufst,« meinte Frau Benedikta, »und wieder mein frohes Mariele wirst.«

Die Kleine seufzte. »Das weiß ich noch nit, aber Mutter Klein hat mir ein Hundle geschenkt, das heißt Ami und ist so lustig.«

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