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15.

Über die sturmgepeitschte Fläche rannte das Mädchen. Der Schnee war nicht mehr körnig wie eisiger Sand, er war weichgeworden und ließ sich zusammentreten; aber schwer war trotzdem das Weiterkommen. Erst recht schwer. Bärbs Brust keuchte, sie mußte sich stemmen gegen den starken Wind, der sie umwerfen wollte, und wütend, daß ihm das nicht gelang, an ihren Röcken zerrte, um sie in Fetzen zu zerstückeln. Das Kopftuch riß er ihr herunter, fast schmerzhaft peitschte es ihr den Nacken; die Haarsträhnen schlugen ihr ums Gesicht. Weit war es, sehr weit bis Heckenbroich, aber sie mußte hin. Der Bruder würde dann schon rasch hinunterlaufen zur Stadt, zum Doktor, zum Apotheker – ihr Herr war krank, Jesus Maria!

Aus tränengefüllten Augen schickte Bärb einen flehenden Blick gen Himmel. Die ganze Nacht, nachdem er heimgekehrt war, hatte der Herr im Fieber gelegen, er sprach irre; er erkannte sie nicht. Und heute Nacht war ihm wieder so heiß gewesen, daß sie ihm alle Augenblicke zu trinken geben mußte. Eiskaltes Wasser war noch nicht eiskalt genug. Und er fühlte sich so schwach, so krank, daß er nicht aufstehen konnte.

Jetzt schlief er. Jetzt konnte sie die Zeit benutzen: der Doktor mußte zu ihm kommen. Der Tee, den sie zu kochen verstand, der nutzte dem Herrn nichts. Ob es schlimm mit ihm war? Er hatte sich das Blut verkühlt, das war sicher; ganz matt hatte ihn der Knecht zur Fangeuse gebracht, wie ein Toter lag er auf dem Wagen, kaum, daß er hatte sagen können: »Bärb, da bin ich noch einmal wieder!« Gelächelt hatte er freilich dazu; aber sie mußte weinen, wenn sie an dies Lächeln dachte. Alles hatte sie getan, was sie tun konnte, um ihn zu erwärmen; hatte seine Füße gerieben, ihren warmen Atem in seine Hände gepustet – es hatte alles nichts genutzt. Noch im Bett hatte er mit den Zähnen geklappert, so lange, bis die flammende Hitze kam. Ach, daß sie dem Mann doch Auftrag gegeben hätte, den Doktor heraufzuschicken – aber wer konnte gleich ahnen, daß es so schlimm werden würde mit ihm. Ihr Herr, ihr lieber, guter Herr!

Es war Bärb einen Augenblick, als hätte sie noch nie jemanden so lieb gehabt, nicht einmal Vater und Mutter. Mit Ungestüm warf sie sich dem Wind entgegen. Nein, sie kehrte nicht um, sie mußte durch! Eine Schneegrube kam ihr in die Quere, dort ein aufgewehrter Wall, sie übersprang beides.

Es war ein harter Weg, eine mächtige Anstrengung. Der Schweiß troff ihr vom Leibe, laut keuchend hob und senkte sich ihre Brust, ihre Pulse klopften; es war ihr, als könne sie die Füße nicht mehr heben. Aber sie mußte, sie wollte voran. So war es ihr gewesen, damals – ach, damals zu Echternach! Aber jetzt war keine Musik dabei, keine anfeuernde, lockende, beschwörende Melodie.

Warum ihr nur heute auf diesem Wege Echternach einfiel? Es war doch gar keine Ähnlichkeit zwischen hier und dort.

Eine glühende Röte wie eine Flamme schoß ihr plötzlich übers ganze Gesicht; ihr Blick wurde unsicher, sie senkte den Kopf gleich einer Schuldbewußten und blieb zögernd stehen. Aber nur einen Augenblick, dann bewegten ihre Lippen sich murmelnd, sie bekreuzte sich andächtig: der heilige Willibrord war trotzdem ein mächtiger Fürsprecher für sie im Himmel gewesen. »Heiliger Willibrord, bitt für uns!« Sie fing laut an zu beten.

*

Viele Tage hatte Josef im Fieber gelegen; es war eine böse Erkältung. »Knapp an einer Lungenentzündung vorbei«, sagte der Doktor. Auch den Kreisphysikus schickte Heinrich noch herauf, es sollte dem Vetter nicht an ärztlicher Behandlung fehlen. Er war sehr besorgt, wenn er auch am Krankenbett polterte und wetterte: das kam von solch verrückten Ideen! Er fühlte sich selber auch schuldig dabei: wie hatte er nur zugeben können, daß der Josef mit seiner schwachen Konstitution einen Winter auf der Fangeuse zubrachte! Am liebsten hätte er den Kranken in Decken gepackt und sofort heruntergeschafft. Aber das ging nicht an. Bis zur Fangeuse konnte man nicht mit dem Federwagen fahren, und den Patienten per Karren herunterzubefördern, dem widersetzte sich der Arzt.

Auch Josef widersetzte sich. Nach Fieberwochen und hochgradiger Erregung war eine sanfte Ruhe über ihn gekommen. Er glaubte sich nie mehr einer Aufwallung fähig. Er fühlte sich jetzt wohl hier, so wohl unter diesen braunen Arbeitshänden, die feiner geworden waren in der Winterrast und weicher in seiner Pflege.

Sie war den ganzen Tag um ihn. Draußen gab es so gut wie nichts zu tun, und es kam viel öfter ein Bote herauf, der ihnen alles brachte, was sie bedurften; dafür sorgte schon Heinrich Schmölder, daß sein Vetter nicht Mangel an irgend etwas hatte.

Der Arzt hatte vorläufig seine Besuche eingestellt. Man würde ja sehen, was mit der Zeit nötig tat, vor der Hand nur nicht aus der Stube heraus. Und Ruhe, geistige und körperliche Ruhe!

Die hatte er. Um sie schwamm das Venn. Sie saßen wie auf einer Insel. Alles das, was vordem gefroren gewesen, war jetzt aufgetaut; all die Moorlöcher und Torfgruben hatten ihr Maul aufgetan und zeigten zwischen schmutzigen Schneerändern ihren schwarzen Schlund. Jetzt war es am unsichersten im Venn, jetzt am allerschlechtesten zu gehen; man wußte nie, ob unterm nachgegebenen Schnee nicht ein Sumpfloch lauerte.

Scharfe Februarsonne hatte um die Mittagsstunde mit spitzer Zunge gestochen und gestöbert; der Schnee war noch nicht ganz fort, aber schon zeigte sich unterm Scharren des Wildes moosiges Grün. Die Tage wurden länger. Mit mißtönendem Schrei segelten Wildvögel über die Fangeuse. Josef hörte sie und rückte sich bequemer in seinem Sessel. Was kümmerte es ihn, was draußen war? Ob Grau und Grausen, um ihn war Friede, und auch Friede in ihm.

In der wohligen Ermattung des Genesenden betrachtete er Bärb: ein liebes Mädchen, ein treues Geschöpf! Aber kein Wunsch war mehr in ihm. Wer dem Tod so nahe ins Auge geschaut hatte wie er, dem blieben solche Wünsche für alle Mal fern. Oft nahm er ihre Hand, wenn sie ihm etwas reichte, in die seine, ohne daß sein Puls darum rascher klopfte; oft ruhte ihr Kopf fast auf seinem Schoß, wenn sie sich tief vor ihm niederbückte, um ihm die Decke an den Füßen einzustopfen. Er fühlte es dann mit Genugtuung: er spürte kein Verlangen mehr. Träumerisch lächelte er wie bei etwas längst Überwundenem.

Nur als Bärb am Sonntag herunterpatschte zur Messe – sie hatte fast mehr Verlangen nach der Kirche als nach den Ihren – fühlte er etwas wie einen eifersüchtigen Stich. Und die Zeit wurde ihm lang, bis sie wiederkehrte.

Dafür wußte sie dann aber auch viel zu erzählen. Oh, unten begann schon der März sich zu rühren, die Hecken zeigten, daß Leben in ihnen war. Die Hühner fingen an zu legen, und von der Maiblum hofften sie, daß sie wieder kalben würde in diesem Jahre. Die Mutter war gesund, die Geschwister waren sehr gewachsen, das Kathrinchen hatte ein Kleid gekriegt von der Frau Bürgermeister, darin sah sie aus – oh, so fein! Der Rock war schon lang, bald wie bei einem erwachsenen Mädchen. Und Bauer Adams hatte sie schon im voraus gedungen; sie würde wieder hüten gehen für ihn, wenn es an der Zeit war. Jetzt ging sie freilich nur aufs Venn, um an den sonnigsten Stellen, bei der Marienley, nach den gelben Blumen zu suchen, die bereits aus dem getauten Schnee zu sprossen anfingen. Die ging sie dann verkaufen herunter nach der Stadt. O ja, das Kathrinchen war fleißig! Wenn die erst in die Fabrik ging und in Akkord arbeitete, die verdiente tüchtig was!

Es durchzuckte Josef. Die Augen schließend, winkte er abwehrend mit der Hand: er mochte nicht von der Fabrik hören. Wie sollte das werden, wenn er nicht mehr hier oben war? Würde Bärb dann auch wieder in die Fabrik gehen müssen?

Sie plauderte, sein verfinstertes Gesicht nicht beachtend, eifrig fort. Auf dem Schießplatz waren auch schon wieder Soldaten eingerückt. Und an der Strafkolonie waren sie auch wieder am Bauen, das Dach war aufgeflogen, sie deckten es neu. Viele waren draußen mit Karren und Schaufeln und Pflug und Egge.

Also wieder das alte Lied?! Josefs Stirn verfinsterte sich immer mehr. Ein rundes Jahr war herum; ein ganzes volles Jahr – schon wollten die gelben Narzissen, die Märzbecher im Venn, wieder anfangen zu blühen – und war man weitergekommen in all dieser Zeit? Es war alles noch beim alten, beim gleichen – Fabrik, Strafkolonie, Truppenübungsplatz. Und es würde auch lange noch so bleiben. Er stieß einen Seufzer aus. Und hatte er denn etwas vor sich gebracht? Nichts, gar nichts; nur vage Wünsche, Hoffnungen, Verbesserungen ins Blaue hinein!

Er fragte nach Leykuhlen. Was machte der Bürgermeister, warum war der während seiner Krankheit denn gar nicht einmal zu ihm heraufgekommen?

»Oh, uns Burjermeester läßt Euch villmals jrüßen«, sagte Bärb rasch, rot werdend ob ihrer Vergeßlichkeit. »Die Leut sagen, de kömmt nu nach Berlin. De wird sehr jroß un hat vill zu sagen!«

So – sehr groß – viel zu sagen! Josef lächelte in sich hinein, die Bärb war gar so wichtig. Und dann wurde sein Gesicht wieder ernst: wäre es denn gut, wenn der soviel zu sagen hätte, wie die Leute meinten? Wer weiß! Josef zuckte die Achseln. Er ärgerte sich über sich selber. War er denn so nüchtern geworden, daß er nichts mehr von dem Begeisterungsrausch wiederfinden konnte, der ihm vormals Kopf und Herz warm gemacht hatte? ›Verbohrt‹, ›zu bigott‹ – so sagte der Landrat. War denn Leykuhlen wirklich zu bigott?

Er hatte früher nie darüber nachgedacht. –

*

Das Hindämmern hatte aufgehört, von Tag zu Tag hoben sich des Genesenden Kräfte. Und jetzt kamen auch die Langeweile und die Ungeduld. Nicht heraus zu können, wenn für Stunden scheue Sonnenstrahlen auf den Wiesenplan fielen, nicht wandern zu können, wenigstens bis unter die Tannen! Aber bei jedem Tritt vors Haus sank man ein bis an die Knöchel, der Boden war wie ein vollgesogener Schwamm.

Josef suchte sich durch Lesen die Zeit zu vertreiben. Sophie schickte die Zeitungen treulich herauf, obgleich sie jetzt gerade so vieles zu bedenken hatte; die Hochzeit kam immer näher. Sie sollte nun doch schon am ersten Mai sein. Je weiter die Jahreszeit vorrückte, desto mehr Militär kam herauf, und desto weniger Zeit blieb dem Bräutigam für eine schöne Hochzeitsreise.

Der Fabrikant sah griesgrämig aus; selbst bei Lenchen heiterte sich sein Gesicht nicht so auf wie früher. Sie gab sich auch nicht mehr viel Mühe mit ihm; spitzbübisch lachte sie hinter ihm drein. Und dann ließ sie ihre Augen umherschweifen; je völliger sie wurde, und je weiter sie von den Zwanzigen abkam, desto mehr bevorzugte sie die ganz jungen.

Ob Josef die Hochzeit mitmachen würde? Frau Sophie zählte bestimmt darauf, und auch, daß er ihr mit seinem Geschmack bei den Arrangements helfen würde. Er würde sicher auch einen reizenden Toast ausbringen, er verstand ja so schön zu sprechen. Aber Heinrich rechnete nicht darauf. Selbstverständlich war Josef dann von der Fangeuse herunter, aber der Arzt hatte ihm im Vertrauen gesagt, daß gerade in der Übergangszeit ein südlicheres Klima für den Patienten nötig sei. Sollte er haben, sollte er selbstverständlich haben! Donnerwetter, daß er sich da oben auch so einen Knacks holen mußte!

Der Arzt brachte die Riviera in Vorschlag.

Aber als Heinrich zu Josef von Reiseplänen sprach, lachte ihm dieser ins Gesicht: »Nein, ich bleibe hier. Ich denke gar nicht daran, fortzugehen. Kann sein, daß ich mal ein bißchen zu euch herunterkomme, wenn Hedde erst weg ist und ihr allein seid. Aber vor der Hand mache ich keine Pläne.«

Josef wollte keine Pläne machen. Er wollte nicht denken, wie es weiter werden sollte, es gar nicht wissen; und doch besaß er nicht die Macht, Gedanken ganz abzuweisen, die ihm jetzt häufiger kamen. Der Sommer würde ja vielleicht wieder leidlich angenehm sein – aber noch so ein Winter hier oben? Huh, nein! Ein Frösteln überlief den Rekonvaleszenten, der noch schwach in seinem Stuhle saß, das blasse Gesicht sehnsüchtig nach dem Fenster gewendet, das man noch nicht öffnen durfte. Es war noch zu rauh. An der Hecke zeigte sich noch keine schwellende Knospe, noch kein Trieb. Oh, es war zum Verzweifeln, wie lange der Frühling hier ausstand!

Unwillkürlich irrten Josefs Gedanken umher, bis sie Sonne und Wärme fanden. An der Riviera mußte es jetzt herrlich sein, gerade die rechte Zeit, der ganze südliche Frühling war da mit seiner üppigen Fülle.

Josefs lebhafte Phantasie rief den blauen Himmel herbei, das blaue Meer, die Gärten mit ihren Blüten, den ganzen Wohlgeruch der Orangenhaine – wie schön, wie schön! er schrak zusammen, als Bärb eintrat. Was wollte sie?

Verwundert sah sie ihn an: nun, bei ihm bleiben, wie immer da auf der Bank unterm Fenster sitzen und stricken. Oder sollte sie lieber wieder gehen?

»Setz dich schon«, sagte er unwirsch. Aber gleich darauf fand er sich unfreundlich und undankbar. Ob sie's wohl empfand, daß er nicht mehr so zu ihr war wie früher?

Sie saß und strickte, ohne eine Miene zu verziehen. Aber er sah einen Seufzer, der ihre Brust hob. Warum seufzte sie? Ihr ruhiges Gesicht reizte ihn. Das war nicht Ruhe, das war Verschlossenheit.

Was sich wohl hinter dieser Mädchenstirn schon alles abgespielt haben mochte – hatte sich überhaupt etwas abgespielt? Er fing an, sie zu beobachten. Und plötzlich fiel ihm Echternach ein. Warum, hätte er nicht sagen können; er folgte einer jähen Eingebung. Sie war damals, ganz gegen ihre Art, so aufgeregt, als von Echternach die Rede gewesen war! Was hatte Leykuhlen doch gesagt? Josef konnte sich der Szene nicht mehr genau erinnern. Und warum hatte sie so heftig geweint damals im dunklen Flur? Hatten Erinnerungen sie überkommen? Jedenfalls dieses Echternach – es mußte ein großer Tag in ihrem Leben gewesen sein!

Er langweilte sich und wollte unterhalten sein. Ganz unvermittelt fragte er: »Wie war das eigentlich in Echternach? Erzähle! Ich weiß wohl, du hast gesprungen, aber du hast doch auch noch –«

»Ich –?« Sie unterbrach ihn mit einem hastigen Auffahren. Sie war blutrot geworden.

Was hatte sie denn, warum erschrak sie so?

Sie starrte ihn an mit erschrockenen Augen. Eine ängstliche Verwunderung war in ihnen, fast ein Entsetzen.

Nun erschrak auch er. Sein Herz fing auf einmal an heftig zu klopfen. Ihr Erschrecken machte ihn argwöhnisch.

Er faßte sie scharf ins Auge: da war etwas nicht richtig! Das wurde ihm auf einmal klar. Und plötzlich stand das lebhaft vor ihm, was er so oft hatte erzählen hören von allerlei Unfug, von Schlimmerem noch, von all dem, was sich so ereignet im Lauf einer Wallfahrt. Er hatte nie daran geglaubt, und nun wollte es ihm auf einmal doch glaublich dünken. Wo so viele zusammenlaufen, wo so viele junge Leute zusammen sind, Burschen und Mädchen – ledig, ohne Aufsicht, weit von Hause, ihrem Alltagsleben entrückt, vom Beten exaltiert, vom Springen erhitzt, vom hastigen Trunk berauscht, berauscht von dem Glauben an Wunder und von dem Gefühl, gesegnet zu sein, berauscht von der Jugendkraft, die den heilbringenden Sprung beendet hat – was konnte da nicht alles geschehen?! Wieder sah er Bärb an.

Sie stand am Tisch wie eine arme Sünderin, den Kopf gesenkt; jetzt blaß, dann wieder glühend rot. Das Strickzeug lag am Boden, sie wagte nicht, es aufzuraffen; schlaff ließ sie die Arme herunterhängen.

Da sagte er nicht mehr: erzähle! Er wollte gar nichts hören, nein, gar nichts wissen. Was ging es ihn an, was sie da etwa getrieben hatte! Aber als sie hinausgegangen war, hinausgeschlichen, ohne daran zu denken, daß ihr Strickzeug mit verwirrtem Faden am Boden liegengeblieben war, da rannte seine Neugier hinter ihr her. Die plagte ihn förmlich den ganzen Tag.

In der Nacht konnte er nicht schlafen. Was war er doch für ein dummer Kerl, ein Esel, daß er mit ihr umgegangen war so schonend, so rücksichtsvoll, so behütend – wie ein Vater! Er lachte sich selber nun aus. Sie würde auch nicht anders als andere sein. Sie erschien nur äußerlich so unberührt, so jungfräulich rein.

Er war ihr nicht böse – wie konnte man ihr darum wohl böse sein?

Seine Phantasie malte sich alle möglichen Situationen aus. Nun glaubte er auf einmal zu wissen, was in dem tiefen Dunkel ihrer Augen lauerte. Es überkam ihn ein Mitleid mit ihr und zugleich ein heftiges Verlangen; sie erschien ihm wieder reizvoll, so reizvoll wie früher, vielleicht reizvoller noch. Aber jetzt wehrte er sich kaum mehr gegen diesen Reiz. – –

Es regnete den ganzen Tag in nicht endenwollenden dichten Strömen. Es war, als käme eine Sintflut. Schwarz hingen die Wolken über der Fangeuse, das Dach fast erdrückend mit ihrer Schwere.

Er saß einsam. Es wollte ihn bedünken, als traue sich Bärb nicht herein zu ihm. Da rief er sie. Und sie kam, wie immer, gehorsam, mit dem alten freundlichen Gesicht; und doch glaubte er zu bemerken, daß sie seinen Blick mied, daß sie in einer gewissen Scheu auf ihrem Platz saß. Es war ihr alter Sitz, dieselbe Bank, aber sie, die darauf saß, war nicht dieselbe mehr. Unruhig atmete sie, auf ihren Wangen kam und ging das Rot. Das Licht der Lampe fiel voll auf sie, er sah jeden Zug in ihrem Gesicht. Aus dem Halbdunkel der Ecke, den Kopf aufgestützt, belauerte er sie hinter der vorgehaltenen Hand.

Sie seufzte zitterig. Er seufzte auch. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

Draußen goß der Regen, es tobte der Frühlingssturm und rüttelte am einsamen Haus trotz der Hecke. Das war ein Blasen des losgelassenen Westes über den Wiesenplan, ein Orgeln des Sturmes in den Tannen. Die gleiche Musik wie dazumal, als die Hirsche schrien. Josef mußte daran zurückdenken. Und er verspürte auch die gleiche Unruhe wie dazumal, dasselbe Kreisen des Blutes, dasselbe Treiben – aber wozu sich jetzt noch wehren gegen den Trieb? Wenn er jetzt die Arme ausbreitete, wenn er jetzt so auf sie zuginge?! Sie würde ihm nicht entweichen, er brauchte sie nur zu nehmen, sie würde – – –

Da – sie erschraken beide heftig. Josef setzte sich hastig nieder auf seinen Stuhl, von dem er sich schon halb erhoben hatte.

»Et klopft«, flüsterte die zitternde Bärb.

Draußen am vorgelegten Laden tastete was. Jemand versuchte, ihn zu öffnen. Und dann tappten Schritte an der Wand entlang zur Haustür.

Nun hörte man wieder nichts, der Wind tat zu gewaltig; er heulte, als wollte er die ächzenden Tannen ausraufen und mit dem Haus zusammen auf einen Haufen schleudern.

Aber jetzt rüttelte es an der verschlossenen Tür, eine Stimme wurde hörbar: »Macht mir doch auf! Jesus Maria Josef!« Es klang, als ob ein Hund winselte.

Josef war aufgesprungen, er ging zur Tür, aber Bärb drängte sich an ihn: nein, allein ließ sie ihn nicht gehen, wer weiß, wer es war, der da Einlaß begehrte! Sie zitterte.

Er zitterte auch; aber nicht aus Furcht, er fühlte des Mädchens Körper an sich. Ohne zu fragen, wer Einlaß begehrte, schloß er die Tür auf, und hätte sie doch gern gleich wieder geschlossen. Denn kaum öffnete sie sich spaltbreit, so drängte sich auch schon einer herein und schlug die Tür wieder zu, als seien Verfolger draußen, und warf wild rollende Blicke um sich im nur spärlich beleuchteten Flur.

Ein Strolch, ein Vagabund, eine scheußliche Fratze – der Rotkopf aus der Strafkolonie!

Sie erkannten sich beide. Unwillkürlich war Josef einen Schritt zurückgewichen: das war kein angenehmer Besuch.

Aber über des Blassen verelendetes Gesicht ging ein Grinsen. »Herr«, sagte er heiser – es sollte bittend klingen, aber es war zugleich etwas Drohendes darin – »Sie werden mich nit verraten. Ich – ich bin davonjelaufen. Ich hab – ich wollt –«

Das Weitere verlor sich in einem von röchelndem Husten erstickten Gemurmel. Der Mensch ächzte; er schnappte nach Luft. »Ich bin so jerannt – die janze Nacht schon – den Tag hab ich in der Schonung jelegen – ich kann die Jrenz nit finden. Er is hinter mir. Aber nit wieder zurück – ach, Herr, sein Se so jut, nit wieder zurück!« Von Schauern gerüttelt, sich windend wie in einem Krampf, packte er Josefs Rock.

»Kommen Sie doch herein«, sagte Josef und drängte die entsetzte Bärb von sich ab. »Geh in die Küche, mach Kaffee warm!« Und dann ließ er den zerlumpten Kerl vor sich her in die Stube treten.

Der zitternde Mensch sank auf die Bank hin. Er war völlig erschöpft; er war kaum imstande, den Kaffee zu trinken, den Bärb mit scheuen Blicken hereintrug. In kleinen Schlucken nur brachte er ihn herunter. Vierundzwanzig Stunden hatte er nichts genossen; es gab noch nichts, noch gar nichts im Venn, nicht Beeren, nicht Vogeleier. Und das schmutzige Wasser der Lachen war ihm wie Eis in den Magen geronnen, es hatte ihm Übelkeit und Leibschneiden gemacht.

»Warum sind Sie denn weggelaufen? Überhaupt jetzt?!«

Keine Antwort. Ein scheu-lauernder Blick nur streifte Josef bei dieser Frage.

»Sie schienen mir diesen Winter doch ganz zufrieden. Das sagte auch der Aufseher. Warum denn nun auf einmal nicht mehr?«

»Et wird Frühling«, stieß rauh der Sträfling hervor. Und dann hustete er, so entsetzlich, daß es den anderen durchschauerte, stützte beide Arme auf den Tisch, den Kopf zwischen die Hände und sagte kein Wort mehr.

Bärb flüsterte hinter der Tür mit ihrem Herrn: ach nein, nein, den nicht hier behalten! Da wollte sie lieber jetzt bei Nacht ganz allein übers Venn bis hin zur Strafkolonie rennen und den Aufseher holen. Mochte der ihn in Ketten legen! Aber Josef sagte kurz: »Er bleibt hier, ich bin kein Verräter. Siehst du denn nicht, daß der arme Teufel dazu noch krank ist?«

Krank schien der Rotkopf in der Tat, wie Fieber glühte es ihm aus den Augen; dabei schüttelte ihn immerwährend der Frost, seine Borsten standen gesträubt.

Josef kannte das: ah, diese Frostschauer waren schrecklich, die man sich im Venn holte! Mit einer Geschäftigkeit, die er sich selber nicht zugetraut hätte, bereitete er dem Frierenden ein Lager in der Küche. Bärb entschloß sich nun doch, eine Schütte Stroh aus dem Holzstall herbeizuschaffen, und eine überflüssige Decke fand sich auch noch. Ein paar Strümpfe und eine alte Hose gab Josef her; um den halbnackten Menschen schlotterten nur noch Fetzen, das dichte Gestrüpp der Schonung hatte ihm alles vom Leibe gerissen. Seine Holzschuhe hatte er gleich in der ersten halben Stunde verloren, er war in Strümpfen gelaufen durch den Morast. Eine triefende Spur bezeichnete seinen Tritt und Stand, es war von ihm abgeflossen wie ein schlammiger Bach.

Nein, diesen Hilfesuchenden konnte man nicht hinausstoßen. Der kam jetzt nicht mehr weit, nicht bis zum Grenzbach; schon an den Tannen sank der um! Josef glaubte nie etwas Jammervolleres gesehen zu haben.

Er empfand keine Furcht, als er die Küchentür hinter dem Sträfling geschlossen hatte und sich nun allein in der Stube befand. Bärb hatte er sich hinlegen heißen, er hörte, wie sie ihre Kammertür verriegelte und verschloß – zum erstenmal. Nun hätte das nicht mehr nötig getan! Bärb konnte so ruhig schlafen wie unter ihres Vaters Dach. Der elende Mensch würde ihr nichts anhaben – und er?! Er hörte sie sich werfen und zitternd seufzen; sie fand keinen Schlaf. Aber das erregte ihn jetzt nicht mehr.

Er ging zu seinem Sessel und ließ sich da nieder. Das Feuer war im Verglimmen, schon wurde es kalt in der Stube; er warf neuen Torf auf und stocherte im Ofenloch, bis die Glut sich wieder entfachte. So würde er sitzen und wachen die ganze Nacht, dem Knacken und Knistern im Ofen lauschend, bis alles ausgebrannt war, tot und leer, bis im Morgengrauen der Sturm sich legte und es ruhig über den Tannen ward.

Josef stützte den Kopf, er war ihm schwer, und er fühlte ein Beben in den Knien. Das war doch noch über seine Kraft gegangen. Aber er dachte jetzt nicht mehr wie so oft über sich nach, er dachte an den Elenden in der Küche. Was sollte er mit dem armen Kerl anfangen?

Allerlei phantastische Pläne tauchten in Josef auf. Wenn er ihn morgen nun bis zur belgischen Grenze führte, ihm Geld gab, daß er sich drüben weiter forthelfen konnte? Ach, der war viel zu kaputt, der kam ja nicht weiter. Und er selber war auch noch nicht stark genug, sich durch die Wildnis des Grenztals durchzuarbeiten. Er kannte auch den Weg gar nicht. Bärb würde sich schon zurechtfinden, sie hatte den Instinkt der Vennbewohner, aber konnte er sie allein mit dem Sträfling schicken. Der Kerl hatte ein Gebiß wie ein Wolf und grünlich unstete Raubtieraugen.

Josef lauschte nach der Küche hinüber; er ging noch einmal auf den Flur und legte sein Ohr an die Küchentür: drinnen alles still. Nein, jetzt ein Stöhnen, und dann ein Husten, so hohl und rauh, daß es dumpf zwischen den Wänden hallte.

Zwei-, dreimal noch in dieser Nacht lauschte Josef so an der Küchentür. Immer noch drinnen ein Stöhnen. Endlich ein Schnarchen, rasselnd und raspelnd wie eine Säge, die durch widerstrebendes Material sich schwer durcharbeitet.

Mit einem Gefühl der Erleichterung taumelte Josef in die Stube zurück. Auch er war todmüde. Frostschauer rüttelten ihn beim erlöschenden Feuer, aber seine erregten Nerven ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Endlich mußte er doch eingeschlafen sein. Träumte er noch oder war er schon wach? Hörte er nicht Simon Bräuers Stimme?

»Hela, holla, aufjemacht!« Mit kräftiger Faust wurde gegen die Tür gepocht. Das dröhnte durch Haus wie ein Donnerschlag. Josef fuhr auf, so rasch es seine im Sitzen steif gewordenen Glieder zuließen.

Er stürzte auf den Flur – die Küchentür lag weit in den Angeln zurück, beim Herd die zerwühlte Strohschütte, die hastig abgeworfene Decke. Ein Zugwind fuhr wie ein Messer durchs offenstehende Küchenfensterchen, klappte mit der Tür und winselte im Raum. Die Küche war leer. Der Sträfling fort. Durchs Fensterchen, nach der Rückseite zu entwichen. Josef glaubte noch ein Rascheln im dürren Laub der Hecke zu hören und ein Brechen im Astwerk – oder tat's der Wind, der sich neu wieder aufmachte? –

Simon Bräuer suchte den ihm seit vorgestern abend abhanden gekommenen Sträfling. Er fluchte. Da war es noch schönes Wetter gewesen, die Kerls hatten alle ruhig auf dem Venn gearbeitet, der vermaledeite Halunke auch; er war dessen so sicher gewesen, er hatte ihn ruhig sich entfernen lassen, ein wenig abseits gehen von den anderen.

»Ich denk, der muß mal austreten. Ich seh ihn hinter den Busch jehen, den Schweinigel. Er kömmt lang nit wieder. Wo bleibt er? Ich ruf, ich schrei. Zum Donnerwetter noch mal, legt sich dat faule Luder hin und läßt sich die Sonn auf den Buckel scheinen?! Ich steig hinter den Busch – kein Rotfuchs da. Zum Kuckuck – wo? Ich kuck mich rasch um. Da kommt die kleine Huesgen aus den Tannen hinter der Ley heraus, sie singt und sucht von den gelben Blumen. ›Haste 'nen Kerl jesehn?‹ Da nickt sie und winkt mit dem Kopf nach 'm offnen Venn. Und ich seh ihn noch laufen. Aber der war zu weit fort, eh ich schießen konnt. Und in der Nacht war nix mehr zu machen. Aber ich krieg ihn doch!« Simon Bräuer schickte noch einen greulichen Fluch nach.

»Seit jestern hab ich die Spur – in der Schonung hat der Lauskerl jelegen – über die Jrenz is er noch nit. Dem werden die Kaldaunen schon so zusammenjeschnurrt sein, dat er froh is wieder unterzukriechen bei Wasser und Brot!«

So viele Worte hintereinander hatte Josef noch nie von dem Aufseher zu hören bekommen. Der Mann war erregt, man sah's an seinen blitzartig umherfahrenden scharfen Blicken und an einem Zucken der Muskeln im sonst so eisernen Gesicht. Er schien ganz allein zu sein. Es wunderte Josef, keinen Gendarmen bei ihm zu sehen. »Sind Sie denn allein?« fragte er zögernd. Ah, vielleicht war es dann doch noch möglich, daß der arme Teufel entwischte!

»Janz allein!« Bräuer lachte auf. »Denken Sie vielleicht, ich bin bang? Wenn ihn einer kriegt, krieg ich ihn. Und ich werd mich doch nit so blamieren!«

Die Zähne zusammenbeißend, knurrte er böse. Und dann, die Blicke umherschießen lassend, schrie er plötzlich auf: »Wer hat denn hier jenächtigt? Wat is denn dat?«

Vergebens hatte Josef versucht, ihm den Blick in die Küche zu versperren. Der viel größere Mann guckte ihm über die Schulter weg.

Mit mächtigem Satz war der Aufseher in der Küche, mit einem zweiten bei der Lagerstatt, mit einem dritten beim Fenster – ein Blick genügte ihm: da hing ja noch ein Fetzen, das Gefüge der Hecke zeigte deutlich den Durchbruch! »So«, sagte er eiskalt und maß den Erschrockenen mit durchbohrendem Blick, »Sie haben ihm Unterschlupf jejeben, diese Nacht, Sie –«

Josef wollte ihn unterbrechen, etwas sagen von ›krank‹, von ›entsetzlichem Zustand, dem er sein Mitleid nicht habe versagen können‹, aber Bräuer schnitt ihm die Rede ab: »Ich versteh, versteh, Sie sind ein Mensch – aber ich bin ein Aufseher. Kommen Sie mal mit! Nach wozu is er dann?«

Er nötigte Josef vors Haus. Sie standen draußen auf dem Wiesenplan, aber nach welcher Richtung der Flüchtling gelaufen war, davon hatte Josef keine Ahnung. Wahrscheinlich dem Grenzbach zu.

Der Aufseher lief wie ein flüchtiger Hirsch, er machte weite Sätze. Josef hatte ihm längst nicht mehr zu folgen vermocht, obgleich auch ihn die Aufregung vorwärts trieb und seine Kräfte verdoppelte.

Es war eine wilde Jagd über den Wiesenplan, zwischen den Tannen durch, durch Gestrüpp und Geröll, über gestürzte Baumstämme, durch vermoorte Wasserläufe, immer abwärts zum Grenzbach.

Da war ja Blut! Eine rote Lache auf schwarzem Grund! Josef stutze plötzlich: war hier ein Wild getroffen worden?

Ein Grausen überkam ihn, er rief nach dem Aufseher; der war nicht mehr zu sehen. Keine Antwort wurde ihm. Er rannte wieder weiter und sah sich scheu dabei um: wo hetzte jetzt der Unglückliche hin, ohne Schuhe, nur in Strümpfen, und ohne Rock? Wo würde ihn der Aufseher fassen? Wenn der Entsprungene jetzt hier, bei ihm, durchs Gebüsch bräche, er würde ihn nicht festhalten.

Josef wußte nicht, was er wünschen sollte. Gewiß war der Rotkopf der beste Bruder nicht – eine Galgenphysiognomie – aber hatte er, Josef Schmölder, er denn das Recht, auf ihn herabzusehen? Der war ein Verbrecher, – weiß Gott, was der schon alles hinter sich haben mochte – aber er, Josef Schmölder, hatte er nicht auch eine Schlechtigkeit begehen wollen? Wäre nicht der Flüchtling dazwischen gekommen – oh! Es war Josef, als sei er dem armen Kerl Dank schuldig.

Nach Atem ringend, stand er einen Augenblick unschlüssig. Da wurde ihm schon Antwort auf sein grübelndes Denken. Ein Schuß krachte plötzlich schreckhaft laut durch die Stille des Venns, lang nachrollend in einem furchtbaren Echo.

Josef schrie auf: oh, diese Menschenjagd! Hatte er ihn getroffen – erschossen?!

Gellend schrie Josef nach dem Aufseher. Er rannte umher, bald zur Rechten, bald zur Linken. Wo waren sie? Wo war der Verfolger, wo der Erschossene?

»Holla!« Des Aufsehers starke Stimme wies ihn zurecht.

Da stand Bräuer unten im Grund, stark, aufrecht; um ihn vermodertes Holz, wildes Gestrüpp, Sumpf, Felsgeröll, Steine, vom schmelzenden Wildwasser rund gewaschen, und dazwischen noch übriggebliebener schmutziger Schnee.

Der Flüchtling lag am Boden.

»Bräuer, um Gottes willen, Bräuer!«

»Beruhigen Sie sich!« Der Aufseher zog die Mundwinkel herab in einem spöttisch-verächtlichen Lächeln. »Dat war nur 'ne Schreckschuß. Wo werd ich denn! Dem is nix jeschehn!« Er bückte den Kopf ein wenig zu dem am Boden Liegenden herunter und gab ihm einen Rippenstoß mit dem Fuß: »Steh auf, mein Sohn! So, du verfluchtes Aas, nu heißt et, wieder heimjehn. Haste dich drücken wollen? Wart du! Marsch!« Mit der verkehrten Hand wischte er sich die Tropfen von der Stirn. Das hatte doch Schweiß gekostet.

Aber der Sträfling stand nicht auf; er lag mit keuchender Brust platt auf dem Rücken, sein Mund war offen, blutiger Schaum kam ihm über die Lippen, mit einer seltsamen Glasigkeit stierten seine Augen zum Himmel.

»Willste wohl? Marsch, vorwärts, zu...rrück!« Der Aufseher riß ihn auf.

Aber kaum stand der schlotternde Mensch auf den Füßen, so fiel er auch schon wieder nieder und umklammerte des Aufsehers Knie. Er röchelte: »Barmherzigkeit, nit dahin – haben Se Barmherzigkeit, nur nit dahin!« Er streckte den zitternden Finger in der Richtung der Strafkolonie. »Nit zurück – überall hin – nur nit dahin!«

»Ja wohl, arbeiten möchste nit, da heißt et jearbeitet. Faules Luder! Mach keine Fisematenten, du hast mich jenug vexiert. Voran!« Der starke Mann riß den Schwachen wieder auf und stieß ihn vor sich her.

Aber mit ungeahnter Kraft widersetzte sich der Rotkopf. Er warf sich wieder lang hin und schlug die Hände wie Krallen ins nasse Moor. »Ich will nit, ich will nit«, heulte er. Es klang wie das Brüllen eines Tieres. Und ins Brüllen hinein fielen menschliche Worte. »Ich drück ihr sonst doch noch den Hals zu – ich muß – kann nit anders – dat Mädchen – Barmherzigkeit – ach, dat kleine Dingelchen – se is schon wieder auf dem Venn – sucht Blumen – dann hütet se – Frühjahr, Sommer, – überall, überall – Herr Aufseher, überall – über–all – über–a– – –!«

Die Worte waren nicht mehr verständlich, sie gingen unter in Schluchzen und Ächzen und Husten und Heulen.

Die Stirn krausend stand der Aufseher. Er war blaß geworden.

»Was sagt er?« flüsterte Josef. »Ich sagte es Ihnen ja, er ist krank. Er spricht im Fieber!«

»Der spricht nit im Fieber!« Finster starrte der Mann auf den im Moose. Und dann schlug ihm eine jähe Röte ins Gesicht. Er nickte nachdenklich, schwer mit dem Kopf. »So is et«, sagte er langsam und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Und dann beugte er sich tief zu dem am Boden Liegenden herunter und klopfte ihm auf den Rücken: »So, nu komm, Rotfuchs, du mußt jetzt aufstehn. Aber ich versprech dir, ich schick dich nach Aachen zurück; da siehste kein Fraumensch. Und so lang bis du wegkömmst, schließ ich dich in't Kaschöttchen ein – da biste sicher!«

Da stand der Sträfling gehorsam auf. Sie nahmen ihn zwischen sich, aber sie mußten ihn führen. Er konnte nicht mehr allein gehen.


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