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Im Städtchen wurde auf jeder Kaffeevisite und abends am Stammtisch, von Männern und Frauen mit gleichem Interesse, die Strafkolonie bei Heckenbroich besprochen. Viele spazierten zu Fuß hinauf oder nahmen einen Wagen an. Nun bekam man doch einmal einen wirklichen Einblick in das Verbrecherleben: Kerle, Kerle! Was die für Arme hatten, hager und sehnig! Und tätowiert waren sie alle über und über, die Arme, die Brust. Jetzt stach die Maiensonne um die Mittagszeit schon heiß oben auf der ungeschützten Höhe, wenn's in den Nächten auch noch Eis fror, sie trugen die Leinenkittel offen. Welche von ihnen waren weiß und fett, andere mager und haarig wie die Wölfe. Die Damen erschauerten.
Simon Bräuer hatte zu tun, die Neugierigen abzuhalten. Zwar stand ein Pfahl am Zaun mit einem Schild: ›Eintritt verboten‹ – aber wer störte sich hieran? In hellen Sommerkleidern, wie Sommerfalter, kamen die Weiber. Schon wieder kam heute ein Wagen langsam die Venn-Chaussee heraufgekrochen; eine Equipage. Am alten Torfschuppen mußte jedes Fuhrwerk halten. Bräuer fluchte. Er sah, wie seine Kerls die Köpfe von ihrer Arbeit hoben und hinstierten mit ihren grassen, hungrigen Augen.
Ein hellgekleidetes Mädchen lief den anderen vorauf. Bräuer brummte in sich hinein: »Wieder Weiber!« Die sollten ihm wohl vom Halse bleiben. Das Gewehr über die Schulter hängend, ging er den Kommenden entgegen.
»Papa«, sagte gerade Fräulein Schmölder, »hier steht es ja: ›Eintritt verboten‹!«
»Für uns nicht!« Der Fabrikant wollte seine Damen vorangehen lassen – seine Frau war auch neugierig gewesen, die Kolonie zu sehen, und Hedwig brannte auf die Verbrecher – aber breit stellte sich jetzt der Aufseher vor den Zauneingang. Sein Blick war so zurückschreckend, daß Heinrich Schmölder unwillkürlich »Juten Tag!« sagte und an den Hut faßte. »Wir wollen uns das hier mal ansehen!«
»Es ist nicht erlaubt.« Der Aufseher gab den Eintritt nicht frei.
»Ich bin der Fabrikant Schmölder. Sie kennen mich doch?« Dem reichen Mann stieg das Blut in die Stirn: das war denn doch keine Art! »Wenn Sie uns nicht hereinlassen, werde ich mich beschweren beim Landrat!«
»Dat können Sie tun. Dat jeht den Herrn aber jar nix an. Ich hab' nach meiner Instruktion zu handeln.«
»Nun, dann eben bei der zuständigen Behörde!« Heinrich Schmölder wurde heftig, er glaubte hinter sich das spöttische Lächeln seines Vetters zu sehen.
Der Aufseher zuckte die Achseln: »Tun Sie dat. Wenn Sie 'nen Erlaubnisschein vorzeigen, können Sie jederzeit passieren. Sonst nicht!«
»Gib ihm was, gib ihm was«, wisperte Frau Schmölder hinter ihrem Gatten.
Heinrich Schmölder griff in die Tasche. »Na, Sie werden wohl mal ein Auge zudrücken.« Ein verständnisvoller Händedruck – das Dreimarkstück brannte Bräuer zwischen den Fingern. Das bessere Teil in ihm empörte sich, er hätte das Geld fortschleudern mögen: »Was unterstehen Sie sich, bestechen ist nicht« – und er nahm es doch. Der Eintritt war frei. Mit finsterem Gesicht, an der Lippe nagend, schritt der Aufseher vor den Eindringlingen her. Er hätte sie umbringen mögen. Was das Fräulein schwatzte, lachte, dumm fragte!
»Sind Sie ganz allein hier?«
»Ja.«
»Wieviel Gefangene sind denn hier?«
»Vierzig.«
»Sind auch Mörder drunter?«
»Nein.«
»Haben Sie aber nicht doch Angst?«
»Nein.«
Zum Donnerwetter, das Frauenzimmer konnte einen verrückt fragen! Hätte er ihnen doch das Geld vor die Füße geworfen! Ein wütender Zorn gegen sich selber überkam den Mann: er hatte nicht widerstehen können, Trinkgeld genommen – Geld! Geld – er hatte es entbehren müssen die ganze Zeit seiner Jugend. Er hatte auch jetzt noch nicht viel, das Gehalt war nicht groß, und seine Familie wollte doch leben – drei Mark waren immerhin drei Mark. Aber nein, nein, pfui! Ihm ekelte vor sich selber.
»Sehen Sie sich um«, stieß er rauh heraus. Er konnte es nicht mehr ertragen. Ohne ein weiteres Wort sprang er über einen aufgeworfenen Graben und rannte immer weiter vom Bau ab ins Venn hinein.
»Ein greulicher Mensch! Ordentlich unheimlich!« Frau Schmölder raffte ihr Kleid hoch auf und setzte vorsichtig die Füße, sich immerfort ein wenig scheu umsehend. »Was ist denn nun eigentlich zu sehen, Heinrich? Ich sehe hier doch gar nichts Besonderes. Das war wirklich eine komische Idee von dir!«
»'ne Kater-Idee«, sagte Josef Schmölder.
»Wieso?« Der ohnehin schon Gereizte wurde noch gereizter: da war ja richtig das infame Gesicht, das Josef zuzeiten zu schneiden beliebte. »Hättest du weniger Kater-Ideen in deinem Leben jehabt, wär es besser für dich jewesen und –«
»– und für uns«, ergänzte Josef. Er nahm's heute humoristisch. Der Himmel blaute, das Wetter war herrlich, richtiges Frühlingswetter, und da – sieh da! Er hielt die Hand vor die Augen. Da schimmerte ein ganzes Stück Venn helleuchtend wie Gold. Das waren die gelben Narzissen, die blühten jetzt in üppigstem Flor.
»Ärgere dich nicht, Onkel Josef«, wisperte die Nichte und hing sich an seinen Arm.
»I wo, Hedde!« Er fing leise an zu pfeifen. »Sieh mal an, da, die Narzissen!« Und dann breitete er plötzlich die Arme aus: »Kind, das ist ein Meer von Gold, in dem ich wohl ertrinken möchte. Sonst pfeife ich aufs Gold – es macht hart, egoistisch, ungerecht – aber dieses Gold ist schön, es ist ein Trost fürs Auge, ein Labsal fürs Herz. Und daß diese armen Schlucker das immer so vor Augen haben, ordentlich darin waten können, das ist ein Ausgleich der barmherzigen Natur!«
»Wie poetisch!« spöttelte Heinrich.
Aber Frau Schmölder nickte. Sie war dem Vetter gut, und – lieber Gott, wo so viele aßen, konnte er auch noch mitessen! Ein bißchen verstiegen war er freilich zuweilen.
Josef sah und hörte nicht. »Komm, Hedde, wir wollen Narzissen pflücken. Einen goldenen Strauß!« Er riß die Nichte mit sich fort.
Leichtfüßig liefen die beiden durch das struppige Heidekraut; der Mann schien nicht minder jung, als die Siebzehnjährige, deren Zopf mit einer himmelblauen Schleife, noch kindlich, lang auf den Rücken baumelte.
Heinrich Schmölder war sehr schlechter Laune, und er war doch so guter gewesen, als er heute aus dem »Schwan« zum Mittagessen nach Hause gekommen war und die Fahrt zur Strafkolonie vorgeschlagen hatte. Der Josef verdarb einem eben immer die Stimmung: Mit dem Menschen war ja nicht zu leben. Er machte einen ganz verdreht mit seiner fahrigen Art. Ein Mann wie ein Weib. Ein Mensch, der in seinem Leben nie an seinem Platz gewesen war. Nun ging er aufs Ende der Vierzig los und hatte noch nichts, nichts vor sich gebracht. Aber ehe man den Jungen in der Welt herumflanieren ließ und Dummheiten machen auf den Namen Schmölder, eher wollte man sich denn doch die Pönitenz auferlegen und ihn bei sich behalten, so fatal es auch war, die Bummelei mit anzusehen.
»Gott, Heinrich«, sagte die Frau gutmütig, »er stört dich doch nicht!«
»So – er stört mich nicht? Was du weißt!« Heinrich Schmölder konnte recht grob gegen seine Frau werden, wenn er es auch nicht immer so böse meinte. ›Sie ist ihm zu beschränkt‹, – so hatte die schöne Helene aus dem »Schwan« schon längst herumerzählt.
Frau Schmölder hatte eine gute Art, zu schweigen. Sie war bequem geworden mit den Jahren, behäbig und bequem. Auch heute war es ihr unbequem, noch mehr zu sehen, sie hatte schon genug. »Laß uns gehen«, sagte sie und zupfte ihren Mann am Ärmel.
Er brummte. »Drei Mark herausjeschmissen! Ich dacht, der Kerl würde uns was herumführen, einem die janze Idee der Anlage erklären. Na, ich interessiere mich auch nicht für die Jeschichte hier – is mir janz Wurst, was sie hier machen! Ja, wir jehen jetzt – ruf Hedde – Dummheit mit den Blumen – höchste Zeit!«
Frau Schmölder rief nach der Tochter. Aber erst als der Vater ganz energisch sein »Hedwig, komm sofort!« ins Venn hinausbrüllte, kam sie angeflogen.
Ihre runden Wangen waren dunkelrot, ihre Augen glänzten. Sie war ganz atemlos. Einen großen Strauß hastig abgerissener, in dem Eifer des Pflückens schon halb zerdrückter Narzissen trug sie in der Hand. Und ein Sträußchen hatte sie im Gürtel. »Die hat mir Onkel Josef angesteckt«, sagte sie mit heimlichem Stolz. »Er sagt, das sähe hübsch aus.«
»Dummheit!« Der Vater riß ihr die Blumen aus dem Gürtel und warf sie fort. »Da, siehst du, lauter Flecke von den zerquetschten Stengeln.«
Die Tochter ließ den Mund hängen. Mit den Tränen kämpfend ging sie hinter den Eltern her, tupfte mit dem Taschentuch bald an dem hellen Bandgürtel herum, bald an ihren Augen.
»Wo ist denn eigentlich der Josef?« fragte die Mutter.
»Er sagte, wir sollten nur fortfahren, er käme zu Fuß nach Haus. Ach, es wäre viel netter, er wäre mitgefahren!«
Heinrich Schmölder drehte sich um nach seiner Tochter und warf einen raschen Blick in ihr Gesicht – na, das wäre! Sollte die sich etwa in den alten Sünder vergafft haben? Einem überspannten Backfisch war alles zuzutrauen. Und der Josef hatte immer Glück bei Weibern gehabt, viel zuviel Glück. Hatte nicht selbst Helene neulich gesagt: »Bring doch mal deinen Vetter her, Schmölderchen!« Jawohl, er würde sich schwer hüten! Daß die Helene mit dem zu poussieren anfing, und er den Sekt bezahlen mußte!
»Ich möcht wohl wissen, warum du dich so um ihn kümmerst?« sagte er ärgerlich zu seiner Frau. »Laß ihn kommen oder nicht kommen. Aber der Josef hat immer Eindruck auf dämliche Frauenzimmer jemacht. Aber es steckt nix hinter seinen irjendwo anjelesenen Redensarten; ›alles Mumpitz‹, wie der Berliner sagt!« Dabei beobachtete er scharf seine Tochter; aber aus dem ausdruckslosen jungen Mädchengesicht mit dem blühenden Rund war nichts herauszulesen. »Hier komm neben mich«, sagte er zu ihr, und behielt sie an seiner Seite, bis sie das Stück Venn durchstampft hatten und sicher in ihrer Equipage saßen – ohne Josef.
Josef Schmölder lag weit drinnen im Venn zwischen blühenden Narzissen. Eben war der Aufseher von ihm fortgegangen; sie hatten eine ganze Weile zusammen gesprochen. Der Aufseher war etwas aufgetaut, als Josef ihm auseinandergesetzt hatte, welch vorteilhaften Einfluß es auf die Gemütsverfassung der Sträflinge haben müsse, hier unter freiem Himmel arbeiten zu können. »Den freien Blick kann ihnen doch niemand nehmen, den Blick zum Himmelsblau, den Blick auf die Blumen und die Tannen, den Blick in die Weite, in unbegrenzte Weiten. Die Natur ist die einzige Trösterin und Heilbringerin!«
»O ja, dat Venn is wohl schön«, sagte Simon Bräuer. »Man muß et nur kennen wie ich. Von klein auf!«
»Nun, sehen Sie, ich bin doch nicht hier in der Gegend geboren und finde es auch schön, unendlich stimmungsvoll. Ich bin hier bei meinen Verwandten, unten in der Stadt – Schmölders – die kennen Sie doch wohl?«
»Ich kenn Sie auch. Sie sind der Vetter, der nit jut getan hat!« Simon Bräuer lachte, ein etwas grimmiges Lachen, bei dem er die Oberlippe von den scharfen weißen Eckzähnen hob und den anderen, der faul im Heidekraut lag, mit seinen Falkenaugen anblitzte. »Wären Sie nit der vornehme Herr un hätten wat Besseres vor sich jesehen, wer weiß, Sie jingen vielleicht auch zwischen denen da!« Er nickte nach seinen Kerlen hinüber.
Der war recht geradezu! Josef Schmölder zog das elegante Etui aus rotem Juchten, das ihm Kusine Schmölder zum Namenstag verehrt hatte, aus der Brusttasche und bot dem Mann eine Zigarre an.
Aber da stierte ihm dieser mit einem fast wilden Blick ins Gesicht: »Nee, ich nehm nix mehr an!« Er war davongerannt.
Nun war Josef allein. Mit halbgeschlossenen Augen träumte er. Gleichsam durch einen Schleier sah er fernhin – Schafe, die da weiden – die hellen Kittel auf der Fläche. Und ihr Hüter, der Hirt, stand dabei, so hochaufgerichtet, so lichtumflossen in der unbeschatteten Helligkeit des Venns, daß er größer erschien, als er war; alles überragend. Josef hatte immer das Entschlossene, das Energische bewundert – wie dieser Mann in diese Natur hier paßte! Verschlossen, herb wie sie. Und doch Größe in beiden. Wer doch auch so sein könnte!
Eine haltlose Traurigkeit überkam plötzlich den ins Venngras Hingelagerten. Ihm war es, als müsse er mit beiden Händen in dies karge, zähe Grün fassen und sich daran halten, sich anklammern: Mach mich stark du, lehre mich zu sein wie du, Stürmen zu trotzen und standzuhalten!
Solche Stunden hatte Josef Schmölder oft; sie kamen ihm mitten im Lachen. Dann machte er sich Vorwürfe. Aber ach, er konnte nun und nimmer aus sich heraus, er blieb ein Halber, ein immer Wollender und nie Vollbringender! Hätte er nicht auch Weib und Kind haben können wie Vetter Heinrich, und ein gutes Renommee und viel Geld dazu? Es brauchte ja nicht gerade in Lumpen verdient zu sein. Wenn er jetzt Geld hätte, wie würde er andere glücklich machen! Diese armen Fabrikmädchen! Sie sollten nicht mehr auf den Lumpensäcken ihren Happen verzehren mit schmutzigen Fingern, die Kehle trocken vom gefährlichen Staub. Eine Küche würde er einrichten, sie daraus zu speisen – gutes, warmes, auskömmliches Essen – und einen Raum würde er ihnen bauen, groß und luftig und licht, darin sie sich erfrischen konnten und ausruhen. Wie gut hätten sie's da! Und diese Schafe, die hier weideten, die sollten auch nicht irregehen fürder mehr. Wie ein guter Hirte wollte er sie um sich sammeln und sie nicht fragen: wo bist du gewesen, was hast du getan? Ah, wie vieles ließe sich schaffen, wie vieles gutmachen, was die Gesellschaft verbrochen hatte! Diese Gesellschaft, diese satten Philister, die hier heraufkamen, die armen Kerle anzuglotzen.
Josef war aufgesprungen, die Faust schüttelte er in die Luft. So eng wie ihre Gassen waren sie, so verbaut in ihren Gefühlen wie ihre verschnörkelten Häuser. Da war Kusine Schmölder, eine herzensgute Frau, aber – nur ihr Haus, ihre Familie. Und das Mädel? Nun, Hedde war allerliebst. Jugend, und sei sie noch so nach der Schablone, ist immer reizend. Aber sie würde ja nur allzubald den Sohn des Konkurrenten aus Aachen heiraten und genau so werden, wie ihre Mutter jetzt war; oder vielleicht den Oberleutnant aus dem Lager, den Adjutanten von Scheffler, von dem sie ihm schon mehrmals mit tiefem Erröten erzählt hatte. Nun, was ging's ihn an!
Er mußte lachen. Aber das spöttische Lachen schwand rasch von seinem Gesicht. Er sah auf einmal wieder alt aus und müde und traurig, als er jetzt das Antlitz nach jener Seite kehrte, wo die Sonne groß und leuchtend überm Vennrand hing und das Kreuz auf der Marienley, dem einsamen Felsen mitten im Heidemeer, in einen Glorienschein hüllte.
Langsam, fast widerwillig das Auge losreißend, das doch die Fülle des Lichtes nicht ertragen konnte und zu tränen begann, schickte er sich zur Heimkehr an. Wieviel Uhr es wohl sein mochte? Nun, Feierabend noch nicht. Noch immer irrten die Schafe durchs Heidemeer, und der Hirt trieb sie vor sich her. So früh gab's keine Rast für die Arbeiter auf dem Venn.
Es war ein Feuer angezündet, langsam schwelend fraß die Flamme Wurzeln und Gestrüpp; ein schwerer Rauch kroch über den Moorboden und stieg an gegen die Sonne. Das war ein Kampf wie der Kampf der Finsternis gegen das Licht. Aber der schwarze Rauch war der Stärkere, er verschlang das Licht.
Pfui, wie der stank! Unangenehm berührt, rümpfte Josef Schmölder die Nase. Und dann schauerte er zusammen: hu, kalt war das mit einemmal, nun die Sonne verschwunden war und die Nebel über dem Vennrücken lagerten! Nur um das Kreuz der Marienley war es noch hell, als habe sich alles Licht des scheidenden Tages darum versammelt. Schwarz hob sich die Kreuzesform vom Goldgrund ab. Ob die Blicke jener Elenden sich jetzt wohl auch dorthin richteten? Ob sie das Kreuz wie einen Trost, wie eine Verheißung sahen, oder ob es ihnen drohend erschien, grausig und blutig, eine Mahnung an das eigene Geschick? Sie alle waren ans Kreuz geschlagen. Wer im Leben wäre das nicht!
Mit einem Seufzer schickte sich Josef Schmölder nun zum Gehen an.
Dicht kam er an einem Paar der armen Teufel vorüber. Er grüßte sie aus einer leidvollen Stimmung heraus mit einem weichen: »Guten Abend!«
Die blassen, verschwitzten Gesichter starrten ihn einen Augenblick an. Dann wandten sich die Sträflinge wieder ihrer Arbeit zu; kein Gegengruß, kein Zug der stumpfen Gesichter verriet, daß sie das »Guten Abend« verstanden hatten.
Wie wenig Freundlichkeit mußten sie erfahren haben! Ein ungeheures Mitleid schwellte Josef die Seele. Da hörte er ein Lachen hinter sich; rasch blickte er sich um. Sie standen und gafften ihm nach. Zwei häßliche, rohe, gemeine Gesichter. Josef fühlte wohl, dieses Lachen galt ihm. Sie lachten über den Herrn, der mit hellen Hosen, mit braunen Schuhen, mit steifem Hut hier oben herumspazierte. Er schämte sich plötzlich seiner Kleidung – die waren halbnackt, er ging wie ein Stutzer.
Mit hastigen Schritten lief er weiter. Übrigens, denen hätte er nicht begegnen mögen ganz allein im stillen Wald oder noch weiter draußen auf dem Venn! Hätten sie da nicht ein gewisses Anrecht gehabt, zu sagen: ›Her mit dem Rock, den Stiefeln, mit dem Hut?!‹ Nackt wie sie, war auch er auf die Welt gekommen – alle gleich – das Schicksal hatte nur gespielt, hatte den einen besser angezogen, den anderen mit Lumpen behangen.
Josef fühlte, wenn jetzt so einer gekommen wäre, er hätte sich ausgezogen bis aufs Hemd, ihm alles gegeben. Aber es war doch gut, daß keiner kam. Gut auch, daß er jetzt harte Straße unter seinen Sohlen fühlte. Er wischte den Schweiß von der Stirn. Ah, jetzt ging sich's gemächlich bergab! Friedlich klang die Abendglocke, und über die Hecken stiegen kerzengerade zarte Rauchsäulchen in den silbrigen Äther. Die harte Vennchaussee war zur gepflasterten Dorfstraße geworden. Hinter den Hecken brüllte das Vieh, und Melkeimer klapperten, und Stalltüren knarrten.
Vorhin, als sie in der Equipage durchgerasselt waren, hatte Josef den Zauber des stillen Dorfes nicht so empfunden wie jetzt. Leykuhlen war wahrhaftig ein beneidenswerter Mensch, daß er hier residieren konnte! Warum er den eigentlich noch nicht aufgesucht hatte?
Seit jenem lichten Vorfrühlingstag, an dem sie sich begegnet waren auf dem Fußpfad oberhalb der Fabrik, glaubte Josef schon alle Tage den Wunsch zu diesem Besuch gehabt zu haben, aber es war nie dazu gekommen. Jetzt könnte er wirklich einmal bei Leykuhlen vorsprechen. Aber wo lag dessen Haus? Er schaute sich um. Da hörte er Kinderstimmen.
Ein kleines Mädchen kam hinter einer schlecht gehaltenen Hecke hervor; die Füßchen der Kleinen traten leicht und lautlos, obgleich sie einen Jungen auf dem Arm schleppte, dessen dicker Kopf größer war als der ihre.
Der Junge greinte, als der Fremde auf sie zutrat. »Kinder, wo wohnt denn der Bürgermeister?«
»Still, bis still, Doresche«, flüsterte die Kleine und drückte den dicken Kopf des Jungen mit der Zärtlichkeit einer Mutter an ihren Hals. Dann hob sie die Augen zu dem Herrn.
Josef war ganz überrascht von dem Blick dieser sanften schwarzen Augen. Wo hatte er solch ähnliche nur schon einmal gesehen? »Nun, Kleine?« sagte er freundlich und klopfte ihr das blasse Bäckchen.
Die Kleine wurde rot. »Bis still, Doresche, bis still!!«
Und dann sagte sie leise, wie zur Entschuldigung: »Der Bruder ist nit an Fremde jewöhnt. Und er ist immer krank!« Sie mühte sich, hochdeutsch zu sprechen.
Was für ein schönes Kind, feingliedrig und zart, nicht so wie die Kinder aus anderen Dörfern! Josef betrachtete sie mit Interesse. Auch der Junge war nicht häßlich trotz seines dicken Kopfes; er wäre hübsch gewesen, wäre ihm nicht der Speichel über die hängende Unterlippe geflossen und hätten seine Augen nicht so glanz- und verständnislos geblickt. »Was fehlt denn deinem Brüderchen?« fragte er. Der Junge war wohl blöde? Er mußte dem zarten Kinde eine fast unerträgliche Last sein. »Ich will dir den Jungen tragen. Wo willst du denn hin?«
Aber die Kleine schüttelte den Kopf. »Der Dores jeht nicht bei fremde Leute. Ich will Euch zeigen, wo Ihr jehen müßt. Der Dores ist mir nit zu schwer!« Sie schritt leichtfüßig vor ihm her.
Josef hielt sich dicht hinter ihr. Unverzagt schritt sie aus; ihr Köpfchen mit dem hellen Kattuntüchelchen, unter dem sie das Haar verborgen trug, schmiegte sich bald links, bald rechts an den dicken Kopf. Wie eine Klette hing ihr der Junge am Halse; sie schleppte sich redlich. Ihn dauerte die Kleine. »Sage mir nur, wo es ist, ich finde mich schon hin!«
»Ich jeh auch dahin«, sagte sie verschämt, und ein leicht schelmisches Lächeln erhellte ihr ernsthaftes Gesichtchen.
Er war ganz entzückt. Wenn sie nur mehr sprechen möchte! Sie hatten wohl noch einen weiten Weg, das Dorf war ja endlos lang? Aber es gelang ihm nicht, viel aus ihr herauszubekommen; nur, daß der Dores, wie er noch ganz klein gewesen war, schon die Krämpfe bekommen hatte, und daß er nun schon sieben Jahre war, aber noch immer nicht in die Schule gehen konnte. Auch daß der Vater schon einmal und die Mutter schon zweimal bitten gegangen waren nach Mariawald.
»Betest du auch für ihn?« fragte er.
»Ja!« Sie nickte wichtig. »Ich jeh alle Sonntag zur Maria im Stein nach der Ley. Aber –« sie seufzte auf, und ihr Hochdeutsch vergessend, sagte sie tief errötend: »Et notzt nühst!«
Er lachte auf; das klang so komisch. Komisch und rührend zugleich. Er wollte sie streicheln, aber sein Lachen hatte sie scheu gemacht; nun sprach sie auch nicht mehr. Eiliger als zuvor lief sie wieder vor ihm her, bis sie die hohe Hecke gegenüber der Kirche erreicht hatten, die schönste Hecke in ganz Heckenbroich. Da drehte sie sich um und nickte bedeutsam, und verschwand dann so rasch hinter der Hecke, daß er nicht einmal Zeit hatte, ihr die Groschen, die er ihr geben wollte, ins Händchen zu drücken.
Er stand vor Bürgermeister Leykuhlens Haustür. Das angelehnte Gatter aufstoßend, trat er in den Flur, der dunkel war wie in allen Häusern. Aber nun öffnete sich eine Tür im Hintergrund, im schmalen Lichtstreif stand eine schlankgewachsene Frau.
Er nahm den Hut ab: das war wohl die Frau Bürgermeister, das Mariechen? Er glaubte sie nie früher gesehen zu haben.
Sie aber kannte ihn. Freundlich reichte sie ihm die Hand: »Mein Mann is noch nit zurück. Aber die Sitzung muß jleich aus sein. Bitte, treten Sie so lang ein, Herr Schmölder!«
Sie führte ihn in die Stube und bot ihm einen Sitz auf dem Ledertuchsofa an, über das sie zuvor rasch mit der Schürze wischte. Das wäre nicht nötig gewesen; es war so sauber in der Stube, trotz des Dämmerlichtes blinkten Stühle und Tisch und Schrank und Kommode wie neupoliert. Bunte Tassen und Väschen standen auf der Kommodendecke. Vor der kleinen Statue der Muttergottes über der Stubentür brannte hinter rotem Glas das ewige Lämpchen. Am Spiegel steckten geweihte Palmzweige.
Der aus der freien Luft Gekommene sah sich um: so sauber, so wohlgeordnet, es roch nach frischem Wasser und ein wenig nach gutem Heu. Ein angenehmer Geruch, und doch beklemmte ihn etwas. Es überkam ihn wie eine leichte Verlegenheit: was sollte er mit dieser Frau nun reden?
Da sagte sie schon: »Sie werden sich wundern, Herr Schmölder, dat ich Sie jleich jekannt hab. Der Bärtes hat mir auch neulich von Ihnen erzählt. Ich hab als oft daran jedacht, wat Sie zum Bärtes von unsern Fabrikmädchens jesagt haben.«
Er sah sie verwundert an, da lächelte sie. »Wissen Sie, Herr Schmölder, in unsrer Stille fällt so'n Wort wie 'n Stein in den Brunnen. Man hört dat weit und noch lang hernach. Et is schön von Ihnen, Herr Schmölder, dat Sie Intress' für unsre Leut haben!« Sie reichte ihm die Hand. »Sie würden sich 'ne Jotteslohn verdienen, wenn Sie Ihrem Vetter sagten, er soll den Mädchens mittags mehr Zeit jeben, dat sie in die Stadt reinjehen könnten, da haben doch ihrer viele Bekannte oder Verwandte, wo sie en warme Supp kriegen!«
Eine nette und ganz verständige Frau! Josef setzte an, ihr seine Pläne, die ihm jetzt auf einmal wieder so lebendig wurden, als hätte er sie erst gestern ausgeheckt, mitzuteilen, als ein Kraspeln draußen auf dem Flur hörbar wurde. Und jetzt ein Singen, zart und fein.
»Aha, dat Kathrinche mit 'm Doresche. Huesgens Kinder – arme Leut!« Die Frau sprang auf.
Draußen erklang noch zaghaft, aber doch schon ein wenig stärker:
»O Maria, sei gegrüßt,
Die du voller Gnade bist!
Sei gegrüßt, du schönste Zier,
Gott, der Herr, ist selbst mit dir.
Du bist hochgebenedeit – –«
Der Gesang verstummte jäh, Frau Leykuhlen hatte die Tür geöffnet. »He, wo steckt ihr dann?«
Das Kathrinchen war erschrocken in den dunkelsten Winkel entwichen. Es traute sich nicht vor, weil der fremde Herr es so anlachte. Erst auf ein zweites Geheiß kam es heran mit gesenktem Kopf, immer den Dores auf dem Arm, und hielt stumm der Frau Bürgermeister den blechernen Henkeltopf hin, darin es alle Mittag und Abend eine Suppe für die Mutter holte.
»Du singst ja so hübsch«, sagte Josef.
»O ja, dat Kathrinche kann schön singen«, sagte die Frau und strich der Kleinen eine dunkle Haarsträhne unters Kopftüchelchen. »Setz doch den schweren Jung hin, trag den nit immer, Kind!« Und als die Kleine zögernd flüsterte: »Da kriescht he!« nahm sie kurz entschlossen den Jungen selber auf den Arm. »Bis still, Dores, laß dat Kathrinche dem Hähr jet singe! Sing ens, Kind, sing ens, Kathrinche, wat du Christdag jesungen hast in der Schul!«
Das Kathrinchen stellte sich in Positur, es wagte nicht zu widerstreben. Es faltete die Hände, ergeben-demütig.
Ah, das wurde einmal eine, die ihr Kreuz trug ohne Murren! Eine Rührung überkam den Junggesellen.
Nun öffnete das Mädchen sein Mündchen; in die dunklen Augen unterm Kopftüchelchen kam ein hellerer Strahl, es schlug sie weit auf:
»O du liebes Jesukind,
Laß dich vielmals grüßen,
Alle Kinder, die hier sind,
Fallen dir zu Füßen.
All um deine Liebe bitten,
Die so viel für uns gelitten.
Schenk uns deine Liebe!«
Die kindliche Stimme stieg hell und klar in die Höhe. Josef nickte wohlgefällig: hübsch musikalisch, sicher und rein!
»O ja, die kann es jut«, sagte die Frau, und dann hielt sie dem Dores den Mund zu: »Bis doch still, Jung!« Der Dores wollte durchaus mitbrummen.
»O du liebes Jesukind,
In der Kripp' im Stalle
Wehte gar so kalt der Wind,
Littst du für uns alle.
Aber jetzt sollst warm du liegen,
Jetzt soll unser Herz dich wiegen.
Komm in unsre Herzen!«
»Du brauchst dat janze Liedche nit zu singe«, sagte die Bürgermeisterin; sie konnte den Dores kaum bändigen, eigensinnig stieß er immer ihre Hand weg von seinem Mund und trat ihr mit den welken Beinen gegen den Leib. Schon fing er an, falsch in den Gesang hineinzukrähen.
Aber Kathrinchen, stärker und heller als zuvor, die Augen unverwandt emporgerichtet, sang die Schlußstrophe:
»O du süßes Jesukind,
Höre unser Flehen:
Laß die Kinder, die hier sind,
In den Himmel gehen,
Daß sie mit den Engeln droben
Dich und deine Mutter loben.
Jesum und Maria!«
Josef Schmölder sagte kein Wort, er hatte gelauscht mit geneigtem Kopf. »Laß die Kinder, die hier sind, in den Himmel gehen« – das hatte ihn tief gerührt. Er fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen; unter einem Scherz suchte er seine Stimmung zu verbergen. Musikalisch, wie er war, pfiff er die Melodie des eben gehörten Liedes nach, und dann sagte er: »Ich denke, es gibt keinen Singvogel im Venn? Da hätten wir ja doch einen!« Er versuchte, die zurückweichende Kleine in die Wange zu kneifen.
Aber die Bürgermeisterin blieb ernst. »Der heilige Schutzengel behüte dich!« sagte sie und legte dem Kind die Hand auf den Kopf. »So, Kathrinche, nu komm, nu kriegste die Supp. Entschuldigen Sie 'ne Augenblick!«
Sie ging mit den Kindern in die Küche. Als sie nach kurzer Zeit wiederkam, fand sie ihren Gast zum Aufbruch gerüstet; er hatte den Hut aufgesetzt und den Spazierstock wieder zur Hand genommen.
»Wollen Sie nit auf meinen Mann warten?«
»Nein, Frau Bürgermeister« – er warf einen raschen Blick durchs Fenster – »es wird mir sonst zu dunkel. Ich komme wieder, ich komme bald wieder, grüßen Sie den Bärtes einstweilen vielmals!« Er drückte ihr die Hand.
Und nun war er draußen. Es war ihm auf einmal eng geworden in der dämmerigen Stube. Nun das kleine Mädchen mit den tiefdunklen Augen fort war, fehlte ihm der poetische Anreiz. Eine nette Frau, das Mariechen, nett, sauber, aber nüchtern wie ihre wohlgeordnete Stube mit dem vielen heiligen Krimskrams drin. Huesgen, – Huesgen, wo hatte er doch den Namen schon einmal gehört?
Es war schon spät. Unten in der Stadt war es sicher schon ganz dunkel, hier oben war noch alles von silbrigem Grau umzittert. Doch da – unwillkürlich hatte er sich nach der Richtung umgedreht, aus der er vorhin gekommen war – wie wunderbar! Da brannte es. Als sei das Venn ein Meer von Glanz und Farbe, das den Sonnenball in sich geschluckt hat. Der Horizont, der seinen Scheitel begrenzte, glühte tiefrot. Wie Flammen leckten feurige Zungen in den bleiernen Nachthimmel hinauf. Ein Glanz kam von dort her, eine Farbenpracht, daß jetzt die Dorfstraße mit ihrem Grau von Steinen und Staub zum rosigen Band wurde, und die weiße Wand der kahlen Kirche wie ein Spiegel den Vennglanz auffing und widerstrahlte.
Vom Blut des Abends getränkt, erschien alles verklärt. Frommen Pilgern gleich zogen Männer und Frauen des Weges. Das waren die müden Arbeiter und Arbeiterinnen, die jetzt nach Hause kamen aus Schmölders Fabrik. Die Tür der Kirche stand weit geöffnet, die Männer zogen die Hüte; von den Weibern aber wäre keines vorübergegangen. An ihren Strümpfen unablässig strickend, waren sie bergan gestiegen, nun ruhten die rasselnden Nadeln, dafür wurden die Rosenkränze aus den Taschen gezogen. Müde, hungrige Gesichter neigten sich über gefaltete Hände. Es war schon spät, dunkel war's auch schon in der Kirche, die Mägen knurrten, aber ein paar Ave oder ein Vaterunser mußten hier doch noch gebetet werden.
Des Huesgen-Jörres Bärb war als Letzte in die Kirche getreten. Langsamer als die anderen war sie bergan gegangen; die Füße waren ihr dick. Sie hatte die ganze letzte Nacht zu waschen gehabt, beim ersten Sonnenstrahl schon hatte sie aufgehängt; und dann, ohne das Bett zu berühren, das sie mit dem Kathrinchen und dem zweijährigen Drückchen teilte, war sie zur Fabrik hinuntergegangen, als der Tau noch gefroren die Gräser bereifte. Brennend hatten ihre Augen nach Schlaf verlangt den ganzen Tag. Während die anderen Mittagszeit machten, ihr Brot verzehrten und von ihren Liebsten sich was erzählten, hatte sie sich zwischen den Lumpensäcken lang hingestreckt. Sie mochte nicht essen, und von einem Liebsten zu erzählen hatte sie auch nichts.
Die junge Bärb hatte noch keinen Schatz. Was erzählten sich die anderen nicht alles in diesen langen Stunden, die man zusammenhockte bei der Arbeit, zu der man nicht Herz und Gedanken, kaum Sinne brauchte, nur die Finger – Jesus, was alles! Erst leise kichernd und dann vor Lachen fast berstend, hörten die Mädchen zu, was die Agnes von der Madam aus dem »Schwan« heute für Stückchen erzählte. Bärb hörte es auch und wandte die Augen ab. Ein glühendes Rot der Scham und des Schrecks färbte ihr bleiches Gesicht: was, der Herr hier, der Herr Schmölder selber, ging auch zu der Madam? Das war nicht fein! Und doch durchrieselte es sie von Kopf bis zu den Füßen mit einem seltsam heißen, unruhigen Fluten. Mit zitternden Händen mechanisch ihre Arbeit tuend, blickte sie starr, und ihre Lippen, die sie sich blutrot gebissen hatte, zuckten wie von verhaltenem Weinen. Gut, daß eine dann mit der Litanei angehoben hatte:
»Heiliges Herz Mariä,
Herz Mariä, ohne Sünde empfangen –«
und sie dann alle murmelnd einzufallen hatten:
»Bitte für uns!«
– – – – – – –
Mit einem Seufzer sah Bärb von ihrem Rosenkranz auf – die Kirche war leer. Den Rock herunterstreifend, den sie zum Knien vorn aufgeschlagen hatte, tunkte sie die Finger in den Weihwasserkessel an der Tür und trat dann hinaus.
Draußen war alles Rot erloschen; nur ein gelblicher Streifen über der purpurnen Finsternis des Vennrückens kündete, daß es noch nicht tiefe Nacht war. Sonst war es dunkel. Fast wäre die verspätete Beterin in ihrer Eile gegen eine Männergestalt gerannt, die auf den Kirchstufen stand, unbeweglich, den Kopf zum Venn hingewendet. Sie prallte zurück. »Hoppla!« hatte der Mann gesagt und eine Bewegung gemacht, als wolle er sie auffangen. Sie bekam einen großen Schreck.
Josef Schmölder war es. Er, der so rasch hatte heimgehen wollen, hatte sich erst überm Anblick des Sonnenuntergangs verzögert, und dann hatte er sich nicht losreißen mögen von den leisen Stimmen der Nacht, denen zu lauschen er hier auf den Kirchenstufen stehengeblieben war.
Josef war nicht minder erschrocken als das Mädchen, das gegen ihn anlief. Zwei schwarze Augen blickten ihn an – er sah sie ganz deutlich in einem plötzlichen Mondstrahl – und nun schob der Mond völlig das Nachtgewölk beiseite, das ihn bis jetzt verdeckt hatte, kalt und klar stand er mit einemmal über dem Kirchhof, die einzelragenden Bäume mit ihren wehenden Schöpfen kitzelten ihm das rundliche Gesicht.
Josef blickte in ein verlegenes, ihn scheu anlächelndes Mädchenantlitz: war das nicht das Mädchen, für dessen Mutter er damals den Doktor heraufgeholt hatte?
Auch Bärb erkannte den Herrn wieder, dessen sie so oft im Gebet gedacht hatte. Wie oft hatte sie danach verlangt, ihm sagen zu können: »Unser Herrjott jeb Euch den Lohn!« Ihre Schüchternheit überwindend, streckte sie ihm die Hand hin. Und dann wurde sie rot über die eigene Kühnheit und wußte nicht mehr, wie loskommen. Sie hielt noch immer des Herrn Hand gefaßt, ihre Augen, zutraulich und doch scheu, guckten auf zu ihm mit einer gewissen Andacht: ach, wäre der damals nicht hinuntergelaufen so geschwind und hätte den Doktor heraufgeschickt, wer weiß, die Mutter wäre damals sicher gestorben!
Josef lächelte; nun wußte er auf einmal, an wen des Kathrinchens Augen ihn erinnert hatten. »Du«, sagte er und hielt die arbeitsharte Hand fest, »sag mal, hast du eine Schwester, die Kathrinchen heißt?«
»Ja!« Das Mädchen lächelte, Grübchen vertieften sich in Wangen und Kinn.
»Und einen Bruder, den Dores?«
Da wurde das hübsche Mädchengesicht trüb.
Josef klopfte ihr die Wange: »Na, dann weiß ich Bescheid. Und deine Mutter ist noch immer schwach, der Dores ist auch noch immer nicht besser, und du und das Kathrinchen, ihr habt eure liebe Not!«
Fast entsetzt, mit offenem Mund, starrte Bärb ihn an: woher wußte der Herr denn das alles? Wußte er am Ende auch, daß sie heimlich oft, sehr oft, seiner gedacht hatte und immer gewünscht, sie möchte ihn noch einmal wiedersehen? Sie stotterte, sie stammelte etwas Unverständliches. Dann aber riß sie ihre Hand aus der seinen mit einem hastigen: »Adjüs!«
Mit hartem Geklapper ihrer Nägelschuh trabte sie davon. Ganz außer Atem und aufgeregt hemmte sie ihren Lauf erst, als sie schon ein weites Stück von der Kirche entfernt war. Nun wagte sie es, sich noch einmal umzudrehen. Aber kahl und weiß schimmerten die leeren Kirchenstufen im kalten Mondlicht.