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Die langangedrohte Kommission war ins Dorf gekommen, hinter jede Hecke schnüffelte sie. Der Kreisphysikus war bei den Herren, er geleitete den Wasserbauinspektor und einen Brunnenmeister. Da hatte der Adams vom grünen Klee doch nicht das Herz, der Kommission den Zutritt auf seinen Hof zu verwehren. Und sein Kamerad, der Zumstädtchen, sagte auch kein Wort mehr.
»Es ist eine Schande«, sagte der Wasserbauinspektor zum Kreisphysikus, »daß die Leute hier keine Wasserleitung anlegen – doch so ein großes Dorf und eine ganz wohlhabende Gemeinde!«
»Sie haben erst kürzlich die Kirche gebaut!« Der Kreisphysikus zuckte die Achseln.
»Alles in Ehren«, sagte der andere wieder, »die Kirche – hm – aber eine Wasserleitung hätte nötiger getan. Acht Brunnen haben wir nun schon als verdächtig geschlossen; ein Brunnen genügte schon, um die ganze Gegend zu verseuchen. Ich würde hier kein Wasser trinken; nicht 'nen Tropfen!«
»Ich auch nicht!« Die Herren hatten sich in ihrem Wagen das Frühstück mitgebracht, er hielt beim Wirtshaus. Sie gingen dorthin zurück, aber das dünne Bier, das die Bauern am Sonntag trinken, mundete ihnen nicht, sie beschlossen, beim Bürgermeister anzuklopfen.
Leykuhlen schien sie erwartet zu haben, die Frau kam schon mit Gläsern. »Nun?« fragte er gespannt.
»Schon so viele!« Der Kreisphysikus hielt acht Finger in die Höhe.
»Wie?!« Leykuhlen wurde rot. »Haben Sie denn wirklich schlechtes Wasser jefunden?«
»Genaues läßt sich jetzt noch nicht feststellen, das wird erst die Untersuchung ergeben. Aber verdächtig, immerhin sehr verdächtig – nicht wahr, Herr Wasserbauinspektor?«
Der Wasserbauinspektor machte ein ernstes Gesicht. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Bürgermeister, daß Ihre Gemeinde in einer ernstlichen Gefahr schwebt. Der Herr Kreisphysikus hat mir mitgeteilt, daß Sie hier im vergangenen Herbst zwei Typhusfälle hatten, das Jahr vorher sogar drei. Hier sind ganz unzulässige, gesundheitswidrige Einrichtungen. Beim Bauer Adams am grünen Klee läuft entschieden von den Abflüssen der Ställe in den Brunnen. Das ist da alles so dicht beisammen, und die Erde ist durchlässig, es ist gar nicht anders möglich. Und so in vielen Fällen. Sagen Sie mal, Herr Bürgermeister, was würden Sie denn machen, wenn wir Ihnen nun hier sämtliche Brunnen schlössen?«
»Wir würden aus unsern Bächen Wasser schöpfen«, sagte Leykuhlen gelassen. Ihm war plötzlich eine Verachtung dieser Besserwisser gekommen. »Menschenweisheit und Menschenhand können doch nicht allem vorbeugen!«
Der Kreisphysikus lachte hell auf: »Das muß mich aber doch von Ihnen wundern, Leykuhlen, daß Sie so was sagen. Natürlich, wenn so ein dummer Bauer das sagt!«
»Ich bin auch 'ne Bauer, Herr Kreisphysikus! Wir haben seit Jahren und Jahren aus unseren Brunnen jetrunken und sind jesund geblieben; warum sollten wir nit auch aus unseren Bächen trinken, wenn't sein müßt? Ich weiß wohl, wat Sie sagen wollen«, fuhr er fort, ohne sich unterbrechen zu lassen, »Vennwasser is Vennwasser, – ich warne ja auch davor – aber im jeheimsten Winkel meines Herzens denk ich: wer jesund bleiben soll, bleibt doch jesund. Wir stehen all in Jottes Hand!«
Die Herren wechselten einen Blick: der war in der Tat ein Bauer, kein Jota aufgeklärter!
Leykuhlen sah und verstand den Blick, aber er ärgerte sich nicht darüber. In ihm war eine große Ruhe: mochten sie reden, was sie wollten! Er stieß mit den Herren an: »Auf jute Jesundheit!«
In diesem Augenblick rasselte draußen jenseits der Hecke ein Wagen und hielt an. Frau Mariechen ging hinaus und kam gleich wieder mit einem roten Kopf. Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu.
Leykuhlen stand langsam auf: »Der Landrat!«
Mühlenbrink hatte es sich nicht versagen können, selber nachzusehen. Nun triumphierte er: aha, wer hatte nun recht gehabt?! Hatte er's nicht hier dem verehrten Freund schon mehr als ein dutzendmal gesagt: eine Wasserleitung muß gebaut werden! »Ein schöner Kreis, ein interessanter Kreis! Aber wie vieles noch im argen!« Er seufzte. »Den Typhus werden wir hierzulande nie ganz los, die Verdummung der Leute geht eben über die Hutschnur. Als ich aus meinem früheren Kreis, aus Ostpreußen, hierherkam, war ich ganz paff. Ich bin doch auch ein gläubiger Christ, aber so etwas wie hier ist mir denn doch noch nicht vorgekommen. Das ist schon verbohrt!«
»Und wir werden doch nit die Wasserleitung bauen, und wenn uns die Regierung sojar die Hälfte dazu jeben würd«, sagte Leykuhlen plötzlich energisch und reckte sich unwillkürlich. Alles, was in ihm war, empörte sich: dieser junge Mann, dieser Hans in allen Gassen, dieser nannte sich einen rechtgläubigen Christen und wagte es doch, so zu sprechen?! »Ich will Ihnen wat sagen, Herr Landrat –« und der Trotz, der sich in ihm rührte, gab seinem Ton Schärfe – »Sie haben ja jar keine Ahnung, wat unser Bauer bedarf und wat er nit bedarf. Dat muß ich besser wissen. Sein Jlaube macht ihn jlücklich und zufrieden, Ihre Wasserleitung kann ihn weder jlücklich noch zufrieden machen. Ich pfeif auf Ihre Wasserleitung und auf all dat, wat drum und dran hängt!«
Das war stark! Ein saugrober Eifler! Die Herren sahen sich einen Moment ganz verdutzt an.
Der Landrat wurde blutrot, aber dann faßte er sich gewandt: nur es nicht mit dem Mann verderben, der war doch zu wichtig! Einlenkend legte er dem Erregten die Hand auf den Ärmel: »Lieber Herr Bürgermeister, Sie scheinen zu glauben, daß mir das Wohl und Wehe des Bauern hierzulande nicht ebenso am Herzen liegt, wie Ihnen? Da sind Sie sehr im Irrtum. Ich denke Tag und Nacht darüber nach, wie man glückliche Wandlungen schaffen könnte. Es ist nötig, glauben Sie's nur! Sie selbst sind doch von einer viel zu hohen Intelligenz, um nicht einzusehen, daß der Eifler nicht so fortwirtschaften kann wie vor dreißig Jahren. Um Gottes willen, nur keine Mißverständnisse, lieber Leykuhlen!« Er nahm sein Glas und führte es an das Glas des anderen. »Wir alle sind hier ja Pioniere, Apostel, wie Sie's nennen wollen, wir alle wollen das Beste bringen. Das öde Venn, es wandle sich in fruchtbarere Gefilde! Prosit! Auf unser Vennland!«
Der Bürgermeister konnte nicht anders, er mußte anstoßen. Er war blaß geworden und biß sich auf die Lippen. »Herr Landrat«, sagte er, aber man spürte in seinem Ton noch den Groll, »Sie sind redegewandter als ich, Sie wissen Ihre Worte zu setzen. Herr Landrat, aber janz herausreden können Sie sich doch nit. Jewiß, Sie mögen et jut meinen, Sie denken darüber nach, wat besser sein könnte hier – vieles, dat sag ich auch. Aber wir hängen nu mal am Hergebrachten, dat hängt auch viel zu sehr mit dem zusammen, wat unser Teuerstes ausmacht. Sie sagen, Sie lieben unser Land – jut, Herr Landrat, Sie lieben es, aber mit dem Verstand. Ich, Herr Landrat«, – er schlug sich auf die Brust mit Heftigkeit – »ich aber lieb es mit der Seele. Und darin liegt der Unterschied. Und darum versteh ich Sie manchmal nit und Sie mich nit. Nix für unjut, Herr Landrat!« Ein Beben war in seine starke Stimme gekommen; er streckte, sich selber überwindend, dem soviel jüngeren Manne die Hand hin.
Die Debatte war geschlossen, aber eine angenehme Unterhaltung wollte doch nicht in Fluß kommen. Die Herren tranken aus und empfahlen sich. – – – – –
Es wurden mehr Brunnen im Dorfe geschlossen, als man anfänglich vermutet hatte; gut die Hälfte der vorhandenen. Die Heckenbroicher waren außer sich: nun mußten sie Gott weiß wie weit laufen und die schweren Eimer Wasser schleppen, während sie es sonst so bequem gehabt hatten, gleich hinter dem Stall.
Die Höfen, die halbblinde Witwe, fiel den Bürgermeister förmlich an, als sie gerade einen Eimer Wasser hinter ihre Hecke schleppte. Da hatte der Gendarm ihr gestern einen Brief ins Haus gebracht: »Maria Jusep! So 'n Unjlöck, so 'n Unjlöck!« Nun sollte sie ihren Brunnen ausschachten lassen und ummauern, sonst blieb er für immer geschlossen und sie durfte nie, nie mehr daraus trinken. Ihr Brunnen! Ihr Josef selig hatte das Wasser immer so gerühmt, ihre Mutter selig hatte daraus getrunken, ihr Sohn, ihre Tochter, die Lieben alle, die sie auf dem Kirchhof liegen hatte. Und nun sollte sie nicht mehr daraus trinken? Aus ihren erblindenden Augen flossen Tränen.
Es erbarmte Leykuhlen. Aber was sollte er machen? Überall der gleiche Verdruß. Es gingen ihn die Besitzer an, er sollte doch machen, daß die Sperre aufgehoben würde. Man brauchte das Wasser, jetzt, da Pfingsten so nahe war, doppelt, man wollte waschen und scheuern und Brotteig einmachen, man hatte zu tun und konnte das Wasser nicht so von weither schleppen.
Aber der Landrat blieb fest: »Mein lieber Bürgermeister, dabei kann ich gar nichts machen, so gern ich Ihnen auch gefällig sein möchte.«
Der Bürgermeister war sehr verstimmt; er hatte sogar Stunden, in denen er sich Vorwürfe machte, doch nicht lieber die Wasserleitung statt der Kirche gebaut zu haben. Aber wenn er sie dann aus dem Giebelfenster seines Hauses wieder ansah, war es ihm, als habe er in seinen Gedanken ein Unrecht begangen. Das Geläut der Glocken dröhnte ihm wie eine Mahnung, sie läuteten ihm Friede und Freude ins Herz.
Sie läuteten das heilige Pfingstfest ein. Überall war geschmückt mit Maien. Am Kircheneingang standen zwei ganze Bäume.
Birken gab's ja genug auf den Ödländereien von Heckenbroich, auf hungrigem Boden, wo kein anderer Baum mehr fortkommen wollte. Nach dem Schießplatz zu waren ganze Trupps zu finden, die ihre langen Haare im streichenden Winde wehen ließen.
Etwas erhöht, auf einer Erdwelle stand eine besonders große Birke, ganz einsam, weit hinragend, hoch wie eine Stange. Den einzigen starken Ast, der sich vom Wipfel abkrümmte wie ein gebogener Arm, streckte sie weit von sich. Hier war immer der Platz des Kommandierenden, wenn auf der weiten Heidefläche sich die Parada entwickelte, und die verschiedenen Truppenkörper in ihren verschiedenen Uniformen die endlose Monotonie belebten. Und hier, »am krummen Ast«, stand auch oft Hans Abeking, am Abend des großen Schießens, wenn seine Leute das Gelände nach verlorenen Geschossen und auf Blindgänger absuchten.
Er starrte träumerisch in den sinkenden Sonnenball. Von hier aus gesehen war die Heide ein Meer mit Wellen und Wellchen, und die Sonne tauchte unter wie ins große Wasser, die ganze Flut rotfärbend mit ihrer Glut. Die Augen gingen ihm über. Heut dacht er an seine Mutter und an seine Schwester, die mit einem ebenso jungen Leutnant, wie er einer war, verlobt war, und er ärgerte sich, daß er unten bei Helene so viel Geld ausgab, sich gänzlich verausgabte und doch noch Schulden hatte bei seinem Freund Scheffler und sogar bei dem dicken Stabsarzt. Das war scheußlich! Die Mutter knappte sich die Zulage ab, er machte sich die größten Vorwürfe: wahrhaftig, er war es wert, an diesem krummen Ast aufgehängt zu werden! Mit verschleierten Blicken maß er den einsamen Baum.
Aber dann sah er hinüber zum Lager, dessen Wellblechbaracken jetzt im sinkenden Licht all ihre Nüchternheit verloren hatten. Die platten Dächer sprühten nicht mehr Funken wie unter'm erbarmungslosen Mittagsstrahl, sie erglänzten jetzt gleich mattem Silber, und freundlich aus den paar Tannen heraus blinkte das weiße Kasino. Bei aller Knappheit war es doch famos, Offizier zu sein! Abeking seufzte auf: nein, er hätte sich doch in keinen anderen Beruf hineindenken können. Sein verstorbener Vater war Militär gewesen, Großpapa auch – und Schulden würden sie auch gehabt haben – überhaupt, was machte das, so ein paar kleine Schulden? Es ging gar nicht anders.
Sein Blick strahlte auf: morgen, Pfingstsonntag, fuhren sie wieder hinunter. In Helenens Zimmer wurde zuweilen ein Spielchen gemacht, ein höchst harmloses; aber man konnte doch höllisch dabei verlieren. Helene gewann immer; sie setzte oft da und dort, geschwind hineinguckend und sich für ein paar Augenblicke über die Schulter dieses und jenes Herren beugend. Aber an seiner Schulter hatte sie doch am längsten gelehnt! Noch glaubte er den Schlag ihres warmen Herzens zu fühlen. Sie war so ganz beim Spiel, sie hatte gar nicht acht, daß sie ihn fast zerdrückte mit ihrer weichen Fülle – aber – ah, es war sehr schön so gewesen!
Der junge Mann seufzte wieder: nein, morgen würde er doch nicht mittun! Und wenn es nur zehn Mark waren, die man verlieren konnte. Die Feiertage würden ohnehin viel verschlingen. Lieber Gott, man konnte doch das Fest nicht hier in der Heide vertrauern! Es war ja nicht immer die Stunde des Sonnenuntergangs, die alles verklärte, und in dieser Öde, in der sie alle seufzten, Bilder zeigte, so reizvoll-lockend, wie den Wandrern der Wüste die Fata Morgana.
Röter und röter erglühte die Heide. Ihr Braun ward jetzt tiefpurpurn, von einer solchen Kraft des Leuchtens, daß der Himmel blaß und farblos dagegen erschien. Von dem Sonnenball war nichts mehr zu sehen, er war gesunken; aber röter, noch immer röter flammte das Heidekraut, und alle Lachen im Venn flammten mit. Wie in einem gewaltigen Brand lohte das ganze Moorland.
Der Leutnant gab das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt war die geeignetste Stunde, sich das Fieber zu holen. Teufel, wie schneidend kalt es auf einmal war!
Fröstelnd, unwillkürlich in einen starken Trab verfallend, trottete die Kolonne der Soldaten in die Baracken zurück.
*
Es war Nacht. Eine Nacht, so bitterkalt, daß man kaum glauben konnte, im Juni zu sein. Als könnte es frieren, so hellweiß schimmerte der Mondenschein. Wie grausame Augen, unbarmherzig, spähten die Sterne herab auf den Hahnheister Busch und auf das Haus, das todeinsam und gemieden wie ein Pesthaus zu mittelalterlicher Zeit vor den struppigen Kusseln des Buschrandes liegt.
Das Venn fror es nicht, und weder das saure Gras noch seine Blumen, die gelbe Narzisse, die weiße Maiglocke, die rote Orchis mit den schwarzen Flecken und die zarten rosa und weißen Glöckchen der Venn-Erika froren; sie waren froh, überhaupt erblühen zu können, und hart gewohnt.
Nur die Menschen fror es unter dem Ziegeldach des einsamen Hauses. Das heißt, Simon Bräuer fror es nicht, der war ins Dorf gegangen, sein Weib war heute im Wirtshaus von Heckenbroich abgestiegen. Nun ging er, sie zu küssen. Sie war gekommen für die paar Feiertage; es gab dann weniger Arbeit für ihn, ein Hilfsaufseher konnte ihn vertreten, und im übrigen schloß er seine vierzig ein.
In langen, ungeduldigen Sätzen sprang der Mann in der gradesten Richtung durchs eiskalt betaute Kraut. Und wenn er es auch sonst nicht so zeigte, er liebte sie doch. Und gerade weil er sie so lange hatte entbehren müssen, liebte er sie doppelt. Er glaubte es jetzt kaum länger ertragen zu können, von ihr getrennt zu sein. Es half nichts, sie mußte her! Bei der Höfen wäre Platz zu finden, die blinde Witwe brauchte nur ein Stübchen vom Haus, da konnte die Therese gut unterkommen mit den Kindern. Ach ja, die Kinder! Ein weiches Gefühl faßte den Dahinstürmenden: wie lange hatten sie den Vater entbehrt! Der Vater, der sie zwar streng hielt und oftmals prügelte, und dem sie doch teurer waren als sein Herzblut. Ob das Johannchen auch brav lesen und schreiben lernte in der Schul'? Ob der Anna Zöpfchen schon ein Stück länger gewachsen war? Ob das Peterchen schon die ersten Hosen anhatte? Und ob das Kleine, das ganz Kleine, etwa schon »Pappa« sagen konnte?
Im einsamen Venn, in der eiskalten Nacht, glaubte der Vater ein lallendes Stimmchen zu hören.
Hätten die Sträflinge jetzt Simon Bräuers Gesicht gesehen, sie hätten sich nicht mehr geduckt in hündischer Furcht; jetzt war er einer, dessen Mund lächelte. – –
Im Schlafsaal, dem langgestreckten Schuppenanbau, wälzten sich die vierzig unterm tief hängenden Dach. Seine Ziegel schlossen nicht fest aufeinander, sie ließen Hitze und Kälte gleich ungehindert durch. Die vierzig konnten nicht Ruhe finden, obgleich sie todmüde waren. Der Aufseher hatte heut mehr denn je kommandiert. Sie hatten das neue Haus scheuern müssen vom obersten Dachsparren herab bis zur untersten Stufe des Eingangs. Sie hatten alle weidlich geschafft. Einen Kalender hatten sie nicht, aber an der verdoppelten Arbeit hatten sie gemerkt, daß morgen Pfingsten war. Den Weg, den sie begonnen hatten, hatten sie noch vollends geschwind abstechen müssen und ausschaufeln und festtreten vom Haus bis nach der Chaussee hin. Eine Pferdearbeit war das gewesen im beschleunigten Tempo; am Mittag hatte die Sonne auf den Buckel geprickelt wie mit Nadeln, morgens und abends hatten die steifen Finger kaum Spaten und Hacke regieren können.
Und all das für das Fraumensch, das er erwartete! Sie hatten wohl gehört, was der eilfertige Bote, der Hütejunge, gestammelt hatte: »Se is nu da!« Sie hatten das glühende Rot gesehen, das über sein Bronzegesicht schoß. In den Schlafsaal hatte er sie früher denn je getrieben, sie da eingesperrt ganz ohne Licht; nur der Mond, der durch die Ziegel fiel und durch die Ritzen zwischen den rohbehauenen Steinen, gab ein wenig Helle. Er selber war davongerannt. Wie grinsende Affen hinter Käfigstäben hatten sie am Gitter des Fensterchens ihm nachgeglotzt. Wie er rannte, wie er rannte! Er konnte es nicht abwarten, bis er bei seinem Frauensmensch war!
Mit höhnischem Lachen drehte Jacobs, der Rotfuchs, sich vom Fenster ab und hüstelte heiser. Er war hier oben immer erkältet, die Vennluft tat ihm nicht gut und auch nicht die Landarbeit. Er war seines Zeichens Kunsttischler. Drei Jahre hatte er gekriegt – viel, viel zu viel! Was hatte er denn der Trine groß getan, die er antraf, als er die Landstraße auf Köln zutippelte? Sie war am Rübenausziehen im Feld. Verwünschtes Weibsbild! In den Graben hatte er sie geworfen. Erst hatte sie sich gar nicht gemuckt, dann aber hatte sie geschrien, ganz mörderlich. Es war ihm blutrot vor den Augen geworden. Er hatte gefühlt, wie es in seinen Händen zuckte, wie es ihn hinriß gegen seinen Willen – ha, zupacken, zudrücken, die kalten, zitternden Hände um die weiße Kehle klammern! Fest – noch fester – warum schrie die Trina auch so?! So –! Sie würde das verdammte Schreien jetzt wohl sein lassen! – – – Aber er hatte sie ja gar nicht gewürgt. Leute waren hinzugekommen, er hatte sich auf die Flucht gemacht, aber laufen konnte er nicht so rasch wie die Verfolger, der Atem war ihm ausgegangen. Sie griffen ihn. Und er hatte seine drei Jahre gekriegt. Es wären nicht drei geworden, wäre ihm nicht eine ähnliche Geschichte schon einmal früher passiert. Daß der Teufel all das Weiberpack hole! Hier oben, Gott sei Dank, hier gab's keine Weiberröcke! Hier war er sicher vor Weibervolk. Wahrhaftig, und wenn's auch entsetzlich hier oben war, man war doch sicher – bis jetzt!
Er erzitterte. Ein Gedanke war ihm plötzlich gekommen, der ihn packte und schüttelte und ihn nicht locker ließ – – wie der Aufseher rannte, rannte! Er stellte sich alles vor, er dachte sich alles aus. Wie er sie umhalste! Wie das Frauenzimmer ihm in die Arme fiel!
Ein Grausen schüttelte ihn. Wie die Meute den Eber, den sie hetzt und stellt und von allen Seiten umkläfft, so fielen ihn gierige Gedanken an. Da half kein Wehren.
Der bleiche Mensch, der auf der harten Eisenbettstatt lag, stöhnte auf; ihn fror trotz der härenen Decke, er zog sie sich zitternd höher an den Hals. Mit feuchten Händen strich er sich über Stirn und Augen – Teufel, könnte er doch aufwachen wie aus einem bösen Traum! In seinen Schläfen stach und hämmerte es, vor seinen Augen tanzte es rot im Dunkeln. Er fühlte sich sterbenselend, rasend über sich selber und doch rasend vor Verlangen. Wieder stöhnte er auf.
Der »Ganeff« Dieb., der im Bett dicht über ihm lag, schob vorsichtig seinen Kopf über den Bettrand und blinzelte zu ihm herunter. Auch der »Süßchenbäcker« Pferdeschlächter., der rechts im Nebenbett lag, und der »Betnoster« Betbruder. zur Linken wurden aufmerksam. Sie flüsterten. Sie waren so an das Flüstern gewöhnt, daß sie selbst heute, wo sie den Aufseher fort wußten, wo nichts um sie war als die Nacht und das Venn, daß sie selbst jetzt kein lautes Wort wagten. »Was ist los?«
»Nix«, sagte Jacobs heiser und unterdrückte sein Stöhnen.
Der Rotfuchs war immer unfreundlich und borstig wie seine Haare, sie mochten ihn alle nicht, aber die Kameradschaft regte sich jetzt doch in ihnen. Der Rotfuchs sah immer elend aus, war der am Ende krank geworden?
»Was haste für'n Schlamassel?« fragte leise der Dieb von oben herunter.
»Kümmer dich um deine eignen Masematten«, war die verbissene Antwort.
Aber der alte Landstreicher, der Betnoster, wie sie ihn nannten, weil er morgens und abends und mittags sich bekreuzte und betete, fragte treuherzig: »Haste Hunger, mein Sohn?« Ihm schmeckten Suppe und schwarzes Brot immer köstlich, er hatte sonst niemals so satt gekriegt. »Da!« Er zog aus seinem Strohsack einen Kanten Brot hervor und langte ihn dem anderen herüber. »Iß, dann kriegste neue Kurasch!«
Der Rote nahm die Gabe nicht: Hunger war nichts gegen das, was ihn quälte! Er dankte nicht einmal. Was wollte der »Achelpeter«? Fresser. Ohne Laut stierte er geradeaus, die Knie hochgezogen im Bett sitzend, die Ellenbogen aufgestemmt, den Kopf zwischen die Fäuste gequetscht wie zwischen eiserne Schrauben. In der falben Helle, die ein Mondstrahl warf, schimmerte sein Gesicht totenbleich. Er knirschte mit den Zähnen.
Der Ganeff und der Süßchenbäcker gaben das Fragen auf: wenn der nicht reden wollte, sollte er's bleiben lassen, ihnen war es egal! Aber sie waren nun einmal in eine Art von Unterhaltung gekommen; am Tag draußen bei der Arbeit redeten sie kein Wort, jetzt konnte man sich ja ein bißchen besprechen. Von Bett zu Bett fing ein Tuscheln an, ein Raunen und Lispeln. Auch andere nahmen bald teil daran, erst die zunächst Liegenden, dann auch die Ferneren.
Im bleichen Mond saßen sie aufrecht in ihren Betten, mit struppigen Haaren und verdunsenen Gesichtern; die Mücken des Venns, die erbarmungslosen Quälgeister, hatten sie weidlich zerstochen. Hier huschte ein Mondenstrahl und dort einer – bläulich schimmerten tätowierte Brüste – es tauchte für Augenblicke wieder ein neues verquollenes Gesicht auf mit struppigen Haaren und stieren Augen.
Sonst waren sie stumm, die heutige Nacht hatte sie beredt gemacht. Sie dachten alle an den Aufseher, der nun bei seiner Frau war. Und sie beneideten ihn, die Ledigen sowohl wie die Verheirateten. Der Roßschlächter sagte roh: »Ich hab' auch 'n Frau zu Haus, mer sollt den Kerl abstechen wie 'ne Sau!«
»Der hat schon mal einen totgeschlagen«, flüsterte es aus der entferntesten Ecke ganz leise. Aber der Roßschlächter hatte es doch gehört, er brüllte: »Jickesjackes, totjeschlagen! Redt keinen Stuß. Anjetippt hab' ich ihn nur in der Besoffenheit, da war er jleich Mus. Wat kann ich dafor? Wenn dat wat Schlimmes jewesen wär, hätt mich der Zwicker Henker. schon um 'ne Kopp kürzer jemacht. Et hat noch emal jut jegangen!« Er lachte auf. »Bald bin ich raus. Wie lang habt ihr dann noch?«
Der Landstreicher rieb sich schmunzelnd die Hände; er wollte gar nicht fort, es gefiel ihm ja so gut hier. Wenn man auch arbeiten mußte, man hatte doch immer satt, und Sattessen war das beste.
»'ne komische Kauz«, sagte lachend einer, der nicht weit von ihm lag. Aber dann fuhr er wild auf: »Lieber acht Tag hungern, als in't Kittchen – nur nit in't Kittchen!« Er wollte die Fäuste recken: frei sein, nur frei! Aber unsanft stieß er gegen das obere Bett, das, wie in einer Schiffskoje, dicht über dem seinen war. Mit einem Fluch legte er sich wieder hin.
»He«, sagte der Roßschlächter, »wie heißt du?«
»Ohligs!«
»Von welcher Sort?«
»Schuster!«
»Äh, du Pechhengst, so mein ich dat ja nit! Aber du sagst, ›nur frei sein‹ – komm, lassen wir zwei Schibes machen!« auskneifen.
»Süßchenbäcker, biste meschugge?« sagte irgendwoher eine Stimme, »dat is nit so leicht!«
Aber der Bäcker nahm den Mund voll, er prahlte gewaltig: »Ich bin stark, stärker wie'n Pferd, zehnmal stärker als der Bräuer; den schmeiß ich um. Und dann rennen wir auf und dervon. Zwei Kochemer Schlaue. wie wir, dufte Jungens, kommen überall durch. In 'ner Stund oder zwei sind wir über der Grenz, wir drehen den Blauen en lange Nas', wir sind frei, frei!« Er dehnte den gewaltigen Körper.
»Dann kannste nie mehr nach Haus«, sagte eintönig der Landstreicher. »Tu dat nit, ich rat dir!«
»Ach wat, armer Pracher! Du Schnorrer, halt deine Brotlad! Mund. Die beiden Kerls lachten roh.
»Wandern, immer wandern, dat is en schlecht Jeschäft!« Der Landstreicher schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann en Lied dervon singen. Hätt ich dazumal en Stück Brot jehabt, da hätt ich beim Bauer die Eier nit aus dem Stall zu holen jebraucht und wär nit trinken jegangen an die Kuh. Den ganzen Sommer hab' ich nahbei im Feld jeschlafen, en Höhl hatt ich da. Aber hätt ich dat Jlück nit jehabt, dat der Grüne mich jekriegt hätt, ich hätt doch wieder Land auf, Land ab streichen müssen, wenn der Winter kam un meine Höhl zujefroren war im Feld. Nee, Jungens, nee, frei sein is nur schön, wenn mer auch wat zu acheln hat un nit immer zu tippeln braucht, von Städtchen zu Städtchen, von Dorf zu Dorf!«
»Du Schlemihl, du Schaute!« Sie lachten ihn aus; aber sie sprachen nicht mehr vom Freisein. Die Unterhaltung, die lauter geworden war im Eifer, verstummte wieder; nun flüsterten sie nur noch, scheuängstlich. Wie Windesgelispel und wie Geseufz ging's durch den wüsten Raum unterm nackten Sparrengebälk.
Selbst der Süßchenbäcker hatte sein lautes Prahlen gelassen, er hatte sich zu dem Schuster auf den Bettrand gesetzt; die Köpfe zusammensteckend, tuschelten sie ganz heimlich miteinander.
Der Landstreicher neigte sich zu Jacobs hinüber: »Rotfuchs«, sagte er, »warum bist du hier?«
»Darum!« sagte er patzig.
Aber der Alte ließ nicht locker. »Nu sag doch, sag! Haste getippelt wie ich? Haste Schlamassel jehabt in der Besoffenheit – haste einen jestochen?«
Als Antwort kam nur ein dumpfes Knurren.
»Sag! Et sind'r auch welche hier, dat sind Linker und Freischupper. Der Ohligs is wegen Meineid hier. Der hat noch Jlück jehabt – fahrlässigen Meineid – sonst säß er im Zuchthaus. Un einer is hier, de hat Wechsel jefälscht, de is janz vornehm. Jung, sag doch, warum bist du dann hier? Mir kannste et ruhig sagen!« Der alte Kunde war sehr neugierig, um so neugieriger, je hartnäckiger der andere schwieg.
»Paragraph hundertsiebenundsiebzig«, murmelte der Blasse zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er wußte selbst nicht, warum er es nun doch sagte; er hatte es nicht sagen wollen, aber der alte Kerl reizte ihn ja dazu. Was würde der zudringliche Pracher nun wohl für ein Gesicht schneiden?!
»Ah so!« Der Vagabond hatte keine Ahnung von Paragraph hundertsiebenundsiebzig, aber die Blöße wollte er sich doch nicht geben, das einzugestehen. »Ah so«, machte er noch einmal.
Der andere verwunderte sich. Wie, es graute dem Alten nicht? Und ihm graute es doch vor sich selber. Nicht immer, aber heute, heute in dieser Mondscheinnacht, in der von weit her das Quarren der Frösche kam in leidenschaftlichem Chor; in dieser Nacht, in der die Gedanken wanderten, immer hinter dem Manne her, der jetzt wohl längst schon bei dem Weibe war. Das Weibsbild – o das Weibsbild!
Der Rotfuchs hätte aufschreien mögen in Wut und Qual, er warf sich mit einem Ruck auf die andere Seite herum und unterdrückte ein Wimmern. Aber es wurde doch hörbar in der todstillen Nacht.
»Halt dein Bonum«, schrie einer, der jetzt schlafen wollte. Es polterten ein paar Holzschuhe nieder.
»Bet dich, bet dich, mein Jung«, flüsterte der alte Landstreicher, »dann kannste jut schlafen!« Er selber bekreuzte sich und legte sich dann zurecht, die Hände auf der Brust gefaltet. »Morjen is Feiertag, da krieje wir Wurst oder Speck in die Linsensupp, un nachmittags Schmalz auf 't Brot – un vielleicht 'ne Kaffee!«
Das letzte hatte er schon undeutlich gemurmelt wie in einem glücklichen Traum; nun schlief er bereits.
Aber der Rotfuchs konnte den Schlaf nicht finden; bei allen anderen war der, nur nicht bei ihm. Zitternd, frierend und doch glühend, sich schüttelnd in Fieberschauern kauerte der Sträfling unter seiner Decke.
Der Mond war weitergegangen hinter den dunklen Rand des Hahnheister Busches; nun war es stockfinster im Schlafsaal, aber der Schlaf kam und kam nicht zu Jacobs. Es packte ihn wie Verzweiflung: schlafen, schlafen, nicht mehr den Mann sehen, der über das Venn rennt! Nicht mehr das Weib sehen, das dem Mann am Halse hängt! Im Schlaf Ruhe finden, vergessen!
Aber der Schlaf kam nicht. Sollte er beten, wie der alte Paternapgacker es ihm angeraten hatte? Pah, das half ja doch nicht! Und fluchen, sich mit den Fäusten gegen die Stirn schlagen, gegen die Brust, sich mit scharfen Zähnen in die emporgestreckten Arme beißen, sich verbeißen darin wie ein wildes Tier, das half auch nicht.
Bittere Tränen fing der Ruhelose an zu weinen. Wenn doch der Morgen käme! Wurde es denn nie, niemals mehr Tag?!