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12.

Überall rührte sich der alte Feind. Die Fälle von Typhus im Lager und die Fälle zu Heckenbroich waren der Anfang; andere folgten nach in den Dörfern, die wie Oasen, grünen Tellern gleich, im roten Heidemeer schwimmen. Noch war es keine Epidemie, wie sie zu früheren Zeiten wohl geherrscht hatte, aber doch ging ein Grausen durch alle Gemüter.

Der Kreisphysikus erstattete Bericht nach Aachen; der Landrat runzelte die Stirn.

Bei der schönen Helene im »Weißen Schwan« kamen die Herren zusammen; sie waren ganz ein und derselben Meinung, auf Leykuhlen wurde viel geschimpft. Dieser dickschädelige Bauernbürgermeister! Es war kaum zu glauben, daß ein sonst doch ganz intelligenter Mann sich so gegen alle Neuerungen verschloß! Der Kreisphysikus kannte die Bauern: natürlich soffen sie aus den geschlossenen Brunnen. Am grünen Klee, wo das Wasser am schlechtesten war, war ja auch der erste Fall gewesen. Diese unvernünftigen Leute konnten es eben nicht lassen, nachts wurde geschöpft, weil es am Tage des Verbotes wegen nicht möglich war, und der Bürgermeister, der doch sicher drum wußte, drückte nicht nur ein Auge, nein, alle beide zu.

Es war an einem heißen Vormittag, als Kreisphysikus und Landrat beim Frühschoppen im »Schwan« saßen und durchs geöffnete Fenster drüben auf der anderen Gassenseite den Bürgermeister von Heckenbroich vorübergehen sahen. Er ging langsam mit gesenktem Kopf.

Helene mit ihren Luchsaugen war die erste gewesen, die ihn erspäht hatte. Sie machte »pst!« und winkte ihm mit dem Finger. Er mußte das wohl bemerkt haben, aber er tat, als hätte er nicht Auge noch Ohr. Erst als der Landrat ans Fenster trat, und auch der Kreisphysikus diesem über die Schulter weg rief: »Hela, Leykuhlen! Guten Morgen! Hören Sie denn nicht?« blickte er zum »Schwan« hinüber.

Die Herren winkten; nun konnte er nicht anders. Unwillkürlich hob er den Kopf: nein, das sollten sie nicht denken, daß er ihnen auswich! Mit ein paar großen Schritten war er über der Gasse; nun stand er unter dem Fenster: »Tag zusammen!«

»Kommen Sie denn nicht herein?«

»Ich bin et nit jewohnt, hier 'ne Frühschoppe zu trinken!« Aber wenn die Herren ihm etwas zu sagen hatten, kam er schon herein. Er trat ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

Der schönen Wirtin Augen funkelten; sie machte sich am Büfett zu schaffen und räumte, was sie sonst nie tat, zwischen den Gläsern auf. Das wollte sie doch auch gern mal hören, wie die den Bürgermeister zwischennahmen. Das gönnte sie ihm. Es regte sich etwas wie instinktiver Haß in ihr gegen diesen Mann, der ihr abgeneigt war; und daß er das war, das fühlte sie seit langem schon. Was hatte sie ihm eigentlich getan? Er war doch ein stattlicher, ansehnlicher Mann – warum war er denn so eklig gegen sie? Eine starke Röte stieg ihr in die weiße Stirn: der, der hätte am liebsten alle abgehalten, hier herunter zu kommen. Der, der war gar am Ende dran schuld, daß der arme Junge, der Abeking, geschaßt worden war! Ob er sie und Abeking wohl auf dem Gaul hatte reiten sehen als verliebtes Pärchen in der Mondscheinnacht? Mit unsicheren Blicken lauerte sie zu ihm herüber.

Leykuhlen saß das Gesicht ihr zugekehrt, aber er achtete ihrer gar nicht. Das war sie nicht gewohnt, das erboste sie gewaltig. Wenn sie ihm nur ordentlich die Hölle heißmachten! Sie hob sich unwillkürlich auf den Zehenspitzen und reckte den Hals lang: aha, jetzt kriegte er's aber mal!

Der Landrat hatte gesprochen: »Wie steht's bei Ihnen oben, Bürgermeister? Noch sind mir keine neuen Fälle gemeldet worden, aber mit dem einen Ihrer Erkrankten soll's ja sehr schlecht stehen. Ist dem so?«

»In der Tat!« Leykuhlen saß nun da, ohne Lehne kerzengerade. Aha, ein Verhör! »In der Tat, Herr Landrat, dem Mechernich wird et wohl an den Kragen jehen!« Er tat gleichgültig, aber die Stimme konnte seine innere Erschütterung nicht verhehlen.

»Das ist der Fall am grünen Klee, da, wo die Brunnen besonders schlecht sind, Herr Landrat«, erklärte der Kreisphysikus.

»Ja ja, ich weiß, ich weiß, ich bin ganz genau orientiert!« Der Landrat zog die Brauen hoch. »Es ist sehr bedauerlich. Das brauchte nicht zu sein. Die Familie brauchte nicht des Ernährers beraubt zu werden!« Er wechselte einen raschen Blick mit dem Kreisphysikus und neigte sich dann mit einer impulsiven Bewegung zu Leykuhlen hinüber: »Bürgermeister, Bürgermeister, warum habt ihr nicht längst eine Wasserleitung gebaut?! Nun heißt es wieder: Venn, Venn, Sumpf – aber das schlimmere, viel schlimmere Übel ist eure Verbohrtheit. Ohne gesundes Wasser keine gesunde Bevölkerung. Und Licht, Luft in die Häuser! Die Hecken nieder, die Fenster auf, und Wasserleitung in jedes Haus!«

»Und ein Krankenhaus an den Ort«, ergänzte der Physikus. »Wie oft ist unser städtisches Spital überfüllt, so überfüllt, daß wir unbarmherzig abweisen müssen!«

»Und –« der Landrat wollte noch etwas sagen, um wiederum den Kreisphysikus zu ergänzen, aber der Bürgermeister schnitt ihm gegen alle Regeln der Höflichkeit die Rede ab.

»Ich denke, wenn wir Wasserleitung hätten, wären wir all so gesund, dat wir kein Krankenhaus mehr gebrauchten«, sagte er ohne allen Hohn, aber mit Nachdruck. Und dann stand er auf: »Nun weiß ich ja Bescheid, nun kann ich wohl jehen, meine Herren!« Er reckte sich in seiner ganzen Größe; dann ließ er seine blauen, jetzt so feurigen Augen rasch nach dem Büfett hinblitzen: wer hatte da gekichert?

Die schöne Helene wurde dunkelrot. Ein Blick der Verachtung hatte sie getroffen, einer so sprechenden, einer so deutlichen Verachtung, daß ihre Knie zu beben anfingen. Sie stahl sich zum Türchen hinaus. Draußen im kleinen Gang, der zu ihrem Privatgemach führte, stand sie, zitternd vor Wut, und preßte doch die Fäuste gegen den Mund, um nicht laut herauszuweinen. Sie schämte sich auf einmal so – warum? Sie wußte es selber nicht. Unklare Empfindungen stürmten auf sie ein. –

Die drei Männer am Stammtisch waren aufgestanden. Es war eine gewisse Kühle in dem Händedruck, mit dem die beiden Herren Leykuhlen verabschiedeten. Er fühlte die Kälte. Den Nacken hielt er steif. Nun noch das Letzte gesagt! Und er sagte mit einem tief geschöpften Atemzug, ohne mit der Wimper zu zucken: »Nu will ich Ihnen auch noch wat sagen, Herr Landrat, und Ihnen, Herr Kreisphysikus! Ich bin herunterjekommen, weil seit heut morgen auch ein Knabe vom Weber Huesgen erkrankt ist. Es wird wohl auch Typhus sein.«

Er ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie riefen ihn auch nicht zurück. Sie standen ein paar Augenblicke da und sahen sich stumm an, und dann setzten sie sich stumm wieder nieder zu ihrem Wein. Aber er schmeckte ihnen nicht mehr.

Bleiern lastete der Himmel über der Gasse. Unter dem bleiernen Himmel schritt Leykuhlen hin. Solange er noch in der Stadt war, behielt er seine aufrechte Haltung bei; aber nun, da die hochgegiebelten Schieferdächer hinter der Felsnase des Burgfelsens untergetaucht waren, veränderte sich seine Haltung. An der steinernen Brüstung der Straße, hinter der große, rundgewaschene Felstrümmer das Flußbett füllen, stand er still. Ein Zittern war in seine starken Knie gekommen, er lehnte sich gegen das Steinmäuerchen. Sie hatten ihn nicht klein gesehen, aber kein Triumph war in seinem Innern – denn hier war er allein. Und hier war er, ach, so klein!

Einen schweren Blick ließ er rundum gleiten. Da war die liebliche Au, und über die Tannen der Höh guckten die Leyen. Aber heute atmete er hier nicht auf, heute dünkte ihn der Sommertag unerträglich. Diese Hitze! Hier unten gaben die Talwände noch einigen Schatten, oben waren die Wiesen längst vertrocknet. Und wenn die Regierung auch aushalf, wie in anderen futterarmen Jahren, viel Vieh würde doch verkauft werden müssen, losgeschlagen um jeden Preis. Zu helfen stand nicht in Menschenmacht – einzig helfen konnte nur der, der da droben.

Er richtete seine Augen zum Himmel. Wenn der regnen lassen wollte! Tagelang, nächtelang, daß sich der vertrocknete Boden vollsog, daß die Wurzeln noch einmal ausschlugen, daß die Weiden sich neue begrünten, daß die geborstene Erde ihr durstig geöffnetes Maul schloß. Nur Regen, Gott im Himmel, nur Regen!

Die Sonne hatte sich für wenige Augenblicke hinter bleierne Wolken verzogen. Ha, da war sie schon wieder! In geradezu quälender Helle strahlte sie nieder. Es schwamm Leykuhlen vor den Augen: und wie sollte es mit der Krankheit werden? In dieser Luft wurde es damit nicht besser. Nun war der Knabe erkrankt, der Dores – war es auch Typhus? Noch wußte man es nicht bestimmt; aber die völlige Bewußtlosigkeit, in der das Kind lag, ließ wohl kaum eine andere Deutung zu. Der blöde Knabe kroch überall herum, wer weiß, was er sich in den Mund gestopft hatte. Mariechen war gleich zu den Huesgen gelaufen. Ach, es war doch eine Wohltat, sich wenigstens in etwas zu betätigen! Zuviel, allzuviel hatte er schon versäumt – konnte er es je wieder einbringen?

Die Augen groß und starr geradeaus gerichtet, schritt der Bürgermeister bergan. Ein Kummer war in seiner Seele und ein Verzagen.

Die Sonne gloste ob seinem Haupt, wie ein tiefgefärbtes blaues Tuch spannte sich der Himmel, kein Regen war in Sicht über Heckenbroich; ausgedorrt alles Land, so weit das sehende Auge reichte. Wie stickiger Dunst stieg's empor vom Venn, ein Brodern kroch übers Moorland; schwer und befangend legte er sich auf Gemüt und Körper. Müdes Schweigen zwischen Himmel und Erde. Da plötzlich ein Läuten – horch, das »Angelus«!

Der Wanderer hielt an. Sieh, da war ja der Turm von Heckenbroich! Und sieh, da war sie auf einmal ganz da, sie, die Kirche, die man noch nicht hatte sehen können vorm letzten Aufstieg! Zwischen hohen Tannen ragte sie, schöner noch, und viel höher als diese. Vom Dorf war noch nichts zu entdecken, das lag versunken hinter den Hecken, aber hier, im Ausschnitt der Tannen, stand die Kirche von Heckenbroich, klar und deutlich auf dem Goldgrund der ewigen Sonne und grüßte weit übers Hochland hin.

Mit einem tiefen Aufatmen nahm der vom raschen Aufstieg Keuchende den Hut ab. Er neigte den Kopf; ein Aufleuchten ging dabei über sein bekümmertes Gesicht: da war sie ja, die Kirche, die neue Kirche von Heckenbroich, der Eifler Dom!

*

Es war am Tage des ewigen Gebetes. Feierabend – Mitternacht – die ganze Nacht hindurch das gleiche murmelnde Beten.

Sie füllten das dämmernde Schiff der Kirche, sie knieten auf den schmalen Betbänken, die Hände mit dem Rosenkranz an die leis sich bewegenden Lippen gehoben, und beteten das Gebet der Bittwoche: »Heilige Maria, du Hilfe der Christen, bitte für uns! Ihr Heiligen insgesamt, flehet für uns am Throne Gottes!«

Auf seiner Betbank kniete der Bürgermeister. Wenn die anderen einmal wieder sich niedersetzten, um auszuruhen, kniete er immer noch. Ohne Unterlaß betete er auf dem bretternen Bänkchen, das viel zu schmal war für seine Knie und viel zu niedrig für seine Größe. Er fühlte nicht, daß die gekrümmten Füße ihm abstarben, und daß seine Knie steif wurden. Das Gesicht hielt er in die Hände gedrückt, in seiner Seele schrie es:

»Der du ins Verborgene siehest,
der du deine Sonne aufgehen lassest über Gute und Böse,
der du regnen lassest über Gerechte und Ungerechte,
du unsere einzige Zuflucht und Hoffnung, sei uns gnädig!«

Seine Augen schmerzten. Er hob das Gesicht aus den Händen, er bohrte den brennenden Blick durchs Dämmerlicht der Kirche, bis er haftete auf dem Fenster überm Hochaltar, durch dessen Glas die Gestirne hereinleuchteten in unumwölkter Klarheit.

Am Dach der Kirche stand der Mond, nicht silbern, wie sonst, nein, rund und voll und rot, eine zweite Sonne, die die Sonne des Tages ablöst auf ihrer Bahn. Und um sie her stand der Chor der Sterne, flinzelnd vor blankem Glanze, wie sonst nur in eiskalter Winternacht.

»Schöpfer und Herr der Natur,
alles zittert, alles dienet dir.
Du machst die Wolken zu deinem Wagen
und fährest auf den Flügeln der Winde.«

*

In das Murmeln der Gemeinde mischte der Bürgermeister laut seine Stimme:

»Herr, strafe uns nicht in deinem Zorn –
Herrgott, laß regnen, laß regnen!« – – –

Er wußte nicht, daß es nicht nur die Worte mehr waren, wie sie vorgeschrieben stehen im Andachtsbuch; er fügte Eigenes hinzu in der Bedrängnis seines Herzens.

Es trieb ihn um bei Tag und Nacht. Es litt ihn nicht im Bett, er konnte ja doch nicht schlafen; vor Morgengrauen schon war er aufgestanden und war hinausgeschritten auf die Höhe des Venns und hatte nach Osten gestarrt, wo die Wolken sich in leuchtendem Purpur färbten. Wenn sie doch, ach, wenn sie doch endlich, endlich einmal nicht mehr so strahlend erstünde, die unbarmherzige Sonne!

Alle Quellen waren versiegt. In den tiefsten Brunnen stand nur noch ein Pfützchen trüben, schlecht riechenden, fauligen Wassers. Kaum daß man das Vieh tränken konnte, es verschmachtete; denn auch kein Hälmchen saftigen Grüns war mehr zu finden. Und in den beiden Torfarbeiterhäusern lagen die Männer noch immer und quälten sich in wilden Delirien. Es war der Krankheit noch gar kein Absehen.

Das Dorf lag geduckt wie unter einem dräuenden Alp. Alles atmete beklommen. Soviel gebetet war noch kaum je worden zu Heckenbroich. Aber beklommener denn alle atmete Leykuhlen, er fühlte sich in tiefster Seele betroffen. Mariechen hatte viel zu reden, viel zu ermutigen: »Was kannst du dafür? Unser Herrjott schickt die Trockenheit und die Krankheit; wir müssen sie nehmen aus seiner Hand!« Aber heimlich kränkte sie sich: wie die Undankbaren ihren Mann verkannten! Und er hatte doch alles zu ihrem Besten getan! In heimlicher Sorge ging sie umher, und nachts tat sie, als ob sie schliefe; aber sie schlief nicht, sie horchte auf ihres Mannes rastloses Wälzen und unruhiges Atmen, und wußte dann nichts anderes zu tun, als inbrünstig bei sich zu beten. Gestern hatte jemand ganz laut draußen vor der Hecke auf den Bürgermeister geschimpft – wer war's gewesen? Das war gleichgültig – wenn nur er, er es nicht gehört hatte!

Besorgte Blicke warf die Frau auf ihren Mann, der stundenlang jetzt in der Kanapee-Ecke saß, und sich die Zeitung so vorhielt, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Es wollte ihr dünken, als sei das leichte Blatt zu schwer für seine starke Hand. Jesus Maria, wenn er wüßte, daß ihr, als sie gegangen war, die Kranken zu besuchen, ein Rudel Kinder nachgerannt kam, erst mit schüchternem Gekicher, dann mit dreisterem Lachen, zuletzt mit ungezogenen Redensarten. Das waren freilich nur unverständige Kinder, aber sie sprachen das nach, was die Erwachsenen sagten. Wenn es nur regnen wollte, endlich regnen, barmherzig, erquicklich, dann würden sie im Dorf auch einsichtiger werden.

Die Bürgermeisterin kannte ihre Heckenbroicher gar nicht mehr wieder. – – –

Es war eine Nacht, so drückend heiß, daß niemand Schlaf finden konnte. Hinter den Hecken brütete die Schwüle. Leykuhlen und seine Frau saßen noch unten in der Wohnstube beisammen; er saß in der einen Ecke des Kanapees, sie in der anderen. Die Lampe hatten sie nicht angezündet, selbst dies bißchen Licht war zuviel, man hatte nach all der Blendung des Tages eine Sehnsucht, fast eine Gier nach der Dunkelheit. Ach, daß doch Wolken hängen möchten, tief herab, und sich entladen mit Donner und Blitz! Und sei es ein Ungewitter mit heulendem Sturm, wenn nur Regen dabei war, erlösender Regen! Schwül genug war es.

Aber wie sie die Ohren auch spitzten, kein Rauschen war draußen vernehmbar auf den Blättern der Hecke, nicht einmal ein Tröpfeln. Der Himmel war verschlossen. So ging es nun schon an die zwei Monate. Es gab auf der Welt keinen Regen mehr.

»Hörste nichts, Bärtes?« sagte die Frau plötzlich und neigte sich gegen den Mann. »Wär et am End doch am regnen?!«

Sie irrte sich. Es war wohl ein Rauschen hörbar im Blattwerk der Hecke, aber so tat kein Regenguß. Das waren Hände, Arme, Füße, die sich durcharbeiteten durchs raschelnde Laubwerk, Körper, die sich durchwanden durchs dichte Gefüge. Von der Seite her brach es ans Haus heran.

Wenn jemand was wollte, warum ging er denn nicht vorne herum, offen und ehrlich durchs Heckentor?!

»Still, Mariechen«, sagte der Mann und legte der Frau die Hand auf den Mund. Sie hatte aufschreien wollen in plötzlichem Schreck.

Ein Stein krachte oben gegen das Giebelfenster, das vom Mondschein hell beglänzt wie ein Auge über die Hecke lugte. Die Scheibe brach und klirrte. Und nun klatschte es dumpf. Sie warfen mit Kuhdung, mit Dreckfladen, mit allerlei Schmutz und Unrat. Und ein Gequäk und Gekrächz erhob sich, ein Gewieher und Gegrunze, ein Gemauze und Geknauze, als sei die ganze Tierwelt lebendig geworden. Ein Hund bellte, eine Katze miaute, ein Ochse brüllte, ein Esel iate. Eine Höllenmusik.

Mit beiden Armen hielt Frau Leykuhlen ihren Bärtes umfangen; sie preßte ihn fest an sich: oh, daß sie seine Ohren doch zuhalten könnte, verstopfen, daß er nichts hörte von dem abscheulichen Konzert. Sie brachten ihm eine Katzenmusik, wie man sie nur dem bringt, der sich Ungebührliches hat zu schulden kommen lassen. Dieses entehrende Ständchen ihm, dem Bürgermeister, von seinen Heckenbroichern selber dargebracht! Die Frau zitterte, sie hätte in Tränen ausbrechen mögen. »O Bärtes, Bärtes, mach dir nichts draus!«

»Still, Mariechen«, sagte er wieder wie vorhin. Er war ganz ruhig. Seine Stimme klang nicht einmal zornig, nur traurig, als er jetzt das Fenster aufriß und in die Nacht hinausrief: »Jetzt is dat aber jenug! Nu laßt die Dummheiten!«

Einen Augenblick war es still; dann raschelte es wieder in der Hecke. Liefen sie hastig fort, hatten sie es doch mit der Angst bekommen?!

Die Frau, die sich neben ihren Mann ins Fenster gezwängt hatte, fuhr plötzlich zurück – klatsch! Ihr Bärtes, oh, ihr Bärtes! Eine Ladung Kot war ihm ins Gesicht geflogen, sie wurde noch mit davon bespritzt. Und eine Stimme äffte ihm nach: »Laßt de Dummheiten!« Ein wieherndes Lachen erscholl – wieder ein hastiges Rauschen und Rascheln – die Nachtbuben rannten davon.

»Jesus Maria!« Entsetzt drückte die Frau den Kopf an ihres Mannes Brust. Jetzt konnte sie nicht anders, sie mußte laut weinen: daß man ihn so kränkte, ihn!

Er strich ihr über den Scheitel: »Laß sie schreien. Wer kann sich an so wat kehren!«

War er wirklich so ruhig, wollte er nicht hinter ihnen drein rennen, sehen, wer es gewesen war?! Sie forschte angstvoll in seinem Gesicht. Es war zu dunkel, sie konnte seine Züge nicht erkennen, sie fühlte nur seine Hand, eiskalt trotz der Hitze, schwer auf ihrem Scheitel liegen.

»Jeh nach oben, Mariechen, jeh! Kuck nach, wat die Nixnutze da anjericht haben!«

Er machte nicht Miene, mit ihr hinaufzusteigen in die Giebelstube. Sie zögerte; aber sein Ton wurde heftig: »Jeh, jeh!« Da ging sie.

Mit zitternden Händen schaffte sie oben Ordnung, bis auf die Betten waren die Glassplitter geflogen, Boden, Wände beschmutzt; die Buben hatten gut gezielt durch das im Mondschein spiegelnde Fenster. Sie kehrte und wischte. Eine tiefe Scham kam über die Bürgermeisterin; sie konnte nichts sehen vor bitteren, gekränkten Tränen, die ihr unaufhaltsam über das Gesicht rollten. Ach, ach, das waren keine Kinderstreiche mehr, keine Dummheiten, das waren Niederträchtigkeiten! Ihr ganzes Leben war im Dorf verflossen – viele Jahre – und nie hatte sie in all dieser Zeit geglaubt, es könnte hier einer sein, der sie so kränkte. Nicht sie – ach nein, es war um seinetwillen, daß sie weinte. Was er wohl denken mochte, so ganz allein unten?!

Sie rannte hinab, die angezündete Lampe hochgehoben in der Hand. Einen Augenblick zögerte sie vor der Stubentür – drinnen war's noch dunkel, sie hörte keinen Laut – war er nicht mehr da?! Behutsam drückte sie die Klinke nieder, leuchtet in die dunkle Stube hinein.

Da lag er auf den Knien vor dem Tisch, hatte die gefalteten Hände auf den Tischrand gelegt und sein Gesicht auf die Hände.

Da zog sie sich leise zurück.

In dieser Nacht schliefen sie nicht. Aber auch nur wenige um Dorf schliefen. In den Häusern, eingeschlossen hinter den Hainbuchenhecken, war die Luft dick und schwül. Mit offenen Mäulern lagen die Menschen auf ihren Betten und schnappten nach Luft. Die Kinder greinten, selbst sie fanden keinen Schlaf. Da und dort blinzelte Lämpchenschein, man hörte Stimmen, die Mutter vertröstete die Kleinen. In den dunstigen Ställen brüllte heiser das durstige Vieh. Der und jener schlich vor sein Heckentor und schaute prüfend den Himmel an: zog da nichts auf von Gewölk im Westen? Das harte Bauerngesicht erhellte sich für Augenblicke wie von einem Hoffnungsstrahl; aber enttäuscht sank der Blick gleich wieder: nein, das war kein Gewölk, das Regen brachte. Das war nur ein Rauch, ein Dunst, als sei die Erde ein Feuerherd und pustete den Dampf ihrer Glut zum Himmel.

Es war keine Nacht zum Schlafen. Es war eine Nacht, um wach zu liegen, sich zu wälzen in banger Sorge. – –

Eine müde, überwachte Stille lag mit dem neuen Tag über Heckenbroich. Feurig ging die Sonne im Osten auf, als es auf der Straße bimmelte. Das klang ja, als schellte der Meßner vorm Priester her, der den Leib des Herrn über die Straße trägt.

Was – wer – wo? Wer sollte versehen werden? Der Bürgermeister riß die Augen weit auf, er starrte. Da schritt der junge Hilfsgeistliche, das Röcklein übergeworfen. Vor ihm her schlorrte der Küster, ungewaschen, ungekämmt, wie einer, den man eilig aus dem Bette geholt hat. Er klingelte mit dem allbekannten Glöcklein.

Mit einem Arm das Fensterkreuz umschlingend, beugte der Bürgermeister sich weit, weit über die Hecke hinüber. Mit Blicken, die seine Augen fast aus den Höhlen drängten, folgte er den Dahinziehenden. Da gingen sie hin, Priester und Meßner – klingling – leise tönte das silberne Schellchen. Da gingen sie und brachten einer scheidenden Seele die letzte Wegzehrung.

Aber wo gingen sie hin – zu wem?! Leykuhlen wollte rufen und konnte nicht, der Mund war ihm wie zugehalten.

Nun waren sie am Eckhaus. Gingen sie nun geradeaus, die Hauptstraße zu Ende, oder schwenkten sie links ab zum grünen Klee? Sie schwenkten links ab.

Am grünen Klee lag der Mechernich, mit dem war es schon gestern sehr schlecht gewesen; nun reichten sie ihm die heiligen Sterbesakramente, daß er in Frieden abfahren konnte von dieser Welt. Aber ein verlassenes Weib schrie hinter ihm her, eine Schar kleiner Kinder weinte nach Brot. Ein Schauer überrieselte den Bürgermeister. Und daran sollte er, wirklich er, schuld sein? Wasserleitung – eine Wasserleitung anstatt der Kirche – ohne gesundes Wasser keine gesunde Bevölkerung – die Brunnen taugen nichts! Er hatte es zugegeben, daß sie doch daraus tranken. Gott im Himmel, wie sollte er sich verantworten vor dem höchsten Richterstuhl?!

Gedanke auf Gedanke wälzte sich heran, Vorwurf auf Vorwurf. Der Mann war erdrückt, wie zu Boden geschmettert; mit beiden Händen faßte er sich nach der glühenden Stirn und stöhnte auf: oh, wer sagte ihm, hatte er recht getan oder unrecht?!

Er krampfte die Hände ineinander, der kalte Schweiß perlte ihm auf der Stirn: »Herr, erbarme dich – gib ein Zeichen! Tu deinen Himmel auf, laß regnen! Vater unser – – – gegrüßet seist du, Maria – – – laß regnen, gib mir ein Zeichen – – – Herr, erbarme dich!«

 

Der Himmel glühte über Heckenbroich. Und das Venn flammte weit hinaus im leuchtenden Rot seiner höchsten Blüte. Die Luft stand still überm staubbedeckten Scheitel der sonnenflimmernden Dorfstraße. Heute war Sonntag, der Tag des Herrn.

Langsam, wie matte Fliegen, krochen die Menschen zum Hochamt; sie waren in Sonntagskleidern, aber Sonntagsmienen zeigten sie nicht. Niedergeschlagene Gesichter, ohne Hoffnung, ohne Freudigkeit. In einer stumpfen Resignation schleppte man sich zur Kirche. Nun hatte man schon so viele Rosenkränze gebetet, Kerzen gestiftet, Wallfahrten gelobt, und alles sollte umsonst sein?! Die Weiden waren hart wie Tennen, nie mehr konnte das Gras sprossen. Und der Mechernich lag im Sterben. Ein ängstliches Raunen ging von Mund zu Mund: die Sterbesakramente hatte er bereits empfangen. Wie lange noch, und mit den anderen Erkrankten ging es ebenso. Wer kam dann an die Reihe? Und morgen früh wurde der Dores begraben, der kleine Junge vom Huesgen-Jörres. Da ging der Vater!

Den Kopf gesenkt, den Blick auf die gefalteten Hände niedergeschlagen, schritt Weber Huesgen zur Kirche. Aber es war nicht der Tod des Kindes allein, der sein Haupt senkte. Eine Woche voll rastloser Arbeit in grenzenloser Hitze lag hinter ihm; neue Runen waren zu denen seines arbeitsverfurchten Gesichts noch hinzugekommen. Regen, ach, nur Regen, Erlösung, Regen! Es trieb ihn in die Kirche, in dem dämmerig gehaltenen hochgekuppelten Raume war's noch am erträglichsten; daheim weinte das Weib, und die Geschwister schauten mit erschreckten Augen auf die Leiche des Dores, die im Tannensärgelchen auf zwei Schemeln im Schuppen stand, mit einer Girlande geschmückt, die das Kathrinchen gewunden hatte aus Schlangenmoos und blühendem Heidekraut. Der Dores war nicht am Typhus gestorben, den hatte er gar nicht gehabt; die Hitze hatte ihn mitgenommen. Die hatte er nie gut vertragen können. Seit die Sonne aber alles verbrannte, war auch er verbrannt wie ein flackerndes Lichtlein. Nun war das wächserne Gesichtchen freundlich, die welken Händchen auf der Brust umfaßten das Kruzifixchen, das man ihnen zu halten gegeben hatte.

Ein Kind weniger! Der Weber seufzte. Er war ein liebevoller Vater; aber daß der Herrgott den Dores zu sich genommen hatte, das war mehr eine Gnade als eine Heimsuchung zu nennen, wenn die Annelies auch jetzt noch bitterlich weinte. Sie würde sich trösten. Sie hatte nun einen Engel im Himmel, der Fürbitte tat. Aber warum die Bärb sich so arg anstellte? Ordentlich ärgerlich war Jörres Huesgen auf seine Älteste. Statt der Mutter zur Hand zu sein, kniete sie immer bei der Leiche, starrte sie an mit vom Weinen verschwollenen Augen und schluchzte dann auf, so heftig, daß es ihr fast das Herz abstieß. Freilich, Leben und Sterben ist ein ernstes Ding – wurde das die Bärb erst jetzt gewahr?

Der Weber seufzte, als er beim Summen der Orgel auf der Betbank niederkniete, und trocknete sich mit dem roten Sacktuch den Schweiß ab. War das eine Hitze! Selbst hier war heut nicht die Kühle zu finden, die so wohltat wie in einem tiefen Keller, wenn draußen die Sonne glühte. Auch in die Kirche war die Schwüle gedrungen. Ein erstickender Dunst lastete im Raum, dessen Wölbung heute niedriger schien.

Und um den Weber seufzten und schwitzten noch viele; die Leiber der knienden Andächtigen dampften. Matt die Stimme des Priesters am Altar, fast erstickt durch die dicke Luft, matt die Responsorien des Dieners, matt der Gesang vom Orgelchor, kraftlos, ohne Frische und Fülle, und matt auch die Gebete. Hier schlief eine, dort schlief einer. Geknickten Blumen gleich hingen die buntbetuchten Köpfe der Frauen. Jetzt wurde eine gar ohnmächtig, es gab für Minuten ein Scharren, ein Poltern, man schaffte sie hinaus. Dann wieder die vorige bleierne, lähmende Stille.

Der alte Pastor bestieg die Kanzel, heute ließ er es sich nicht nehmen, selber in der Predigt zu seiner Gemeinde zu sprechen; es war eine schwere Zeit. Er redete mit zitternder Stimme von der weisen Anordnung Gottes, die alles, was da lebt, mit Segen erfüllt, die zur Zeit Regen und Sonnenschein gibt, die aber mit Entziehung des Segens heimsucht, wo sie Reue erwecken will und bußfertige Gesinnung.

Die Gemeinde hatte das Bußlied gesungen:

»O Gott, streck aus deine milde Hand,
Erfüll mit Segen Leut und Land,
Halt ab in gütger Vaterhuld
Die Strafen für die Sündenschuld!«

Der Bürgermeister neigte sein Haupt tiefer und tiefer.

Es brauste vor seinen Ohren, es hämmerte in seinen Schläfen, es siedete ihm in den Adern. Er hörte nichts mehr von dem, was der Pastor noch weiter sagte, er hörte nur immer das Schellchen des Meßners, der vor dem Priester her zum Sterbenden schritt. Mußte der Mechernich wirklich sterben? War er am Ende schon tot?! Zwischen dem Tönen des Schellchens vernahm er die Sterbeseufzer, das Jammern des Weibes, das Weinen der Kinder. Ströme von Schweiß rannen Leykuhlen über den Leib. Von einem Schwindel gepackt, wollte er die Augen schließen, aber es riß sie ihm wieder auf, er mußte sehen, alles das sehen, was er, er angerichtet hatte. – – –

– – »Ich begreife nicht, wie ein sonst so intelligenter Mensch sich gegen alle Neuerungen verschließen kann« – »Eine Wasserleitung ist das Allernotwendigste, wir werden den Typhus sonst hier nie los« – so, oder ähnlich hatten sie gesprochen. Schon lange, ach lange schon waren sie an ihm. Aber er hatte die Kirche gebaut. Er hatte die Gemeinde dazu bewogen – sein, ja sein war die Schuld!

Als Leykuhlen mit seiner Frau nach dem Hochamt aus der Kirche trat, bemerkte er nicht, daß die Grüße, die ihm sonst ehrerbietig und willig zuteil wurden, heute ganz anders waren. Man grüßte, weil es eben sein mußte; keine Freundlichkeit erhellte diese Grüße.

Die reichen Bauern, der Adams und der Zumstädtchen, kamen jetzt zusammen an ihm vorüber; sie taten, als sähen sie den Bürgermeister nicht. Sie gingen stracks hinüber auf die andere Straßenseite und sprachen so eifrig aufeinander ein, als hätten sie den wichtigsten Handel zu bereden. Sie waren grimmig. Nun hatten sie schon ein paarmal den Dreiborn zum Vieh nach oben holen müssen – was das kostet! – und andere im Dorfe hatten ihn auch holen müssen.

Der Tierarzt war noch röter geworden als sonst und hatte noch mehr mit den Augen gekugelt als gewöhnlich, und hatte noch mehr räsonniert, als zu anderer Zeit: was verlangten sie denn, wie sollte das unvernünftige Vieh gesund bleiben, wenn der vernünftige Mensch sich krank säuft? Er ereiferte sich sehr: weiß der Himmel, er wollte lieber Kaffern und Hottentotten kurieren, als Eifler Vieh. Was nutzte ihm alles, was er gelernt hatte, was war überhaupt die ganze Wissenschaft nutze, wenn ihr hier eine solche Borniertheit entgegengesetzt wurde! »Ihr seid schwarz, schwarz bis in die Knochen – dat is euer Malheur!« Zu anderen Zeiten hätten die Bauern über ihn gelacht: was ereiferte sich der Viehdoktor denn so?! Oder sie hätten sich auch geärgert: so einer, der doch auch aus der Eifel stammte und nun in keine Kirche mehr ging, so einer, der seinen ganzen Glauben verloren hatte überm Studieren! Aber in der Stimmung, in der sie jetzt waren, hörten sie ihn an; sie verstanden ihn nicht ganz, aber das hörten sie doch heraus, daß der Dreiborn, der immerhin ein kluger Mann war, und ums Vieh gut Bescheid wußte, nicht zufrieden war mit dem, wie es so war. Nein, sie auch nicht. Ganz und gar nicht!

Völlig erschöpft kam Leykuhlen heim. Schwer ließ er sich in seine Kanapee-Ecke fallen und stützte den Arm auf. Als die Frau ihn etwas fragte, schüttelte er nur den Kopf verneinend; weitere Antwort gab er nicht.

Ihr Mann wurde doch am Ende nicht auch krank? Mit tränenden Augen stand die Bürgermeisterin in der Küche und blies das Feuer an. Die Küche war voll von Rauch und vom brenzlichen Gestank des langsam schwelenden Torfes. Immer wieder stocherte die Frau im Feuerloch, ganz mechanisch, ihre Gedanken waren nicht bei diesem Werk. Sie merkte es nicht einmal, daß sie in eine Wolke von beißendem Dampf gehüllt stand. »Jesus«, seufzte sie aus tiefster Seele, »Jesus Christus erbarm dich!«

Da wurde hastig die Tür aufgerissen. Der, um den ihre Gedanken kreisten in unablässiger Sorge, war plötzlich bei ihr mit zwei Schritten, mit seinen alten, kräftigen Schritten. Er faßte sie um den Leib. »Mariechen, Jott sei Dank!« Es war wieder etwas in seiner Stimme von frischem Klang. »Denk an, Mariechen, mit dem Mechernich steht et besser. Es war die Krisis. ›Den kriegen wir durch‹, sagt der Doktor. Eben war er bei mir. Haste ihn nit jehört?«

Sie hatte nichts gehört, keinen Wagen, keinen fremden Schritt im Flur, sie war so ganz in ihren Sorgen befangen gewesen. »Wahrhaftig?« fragte sie, noch ungläubig, und blinzelte ihren Mann an.

»Mit Jottes Hilf«, sagte er ernst. Aber dann drückte er sie an sich in einer jähen Aufwallung des Gefühls: »Jott sei jelobt, Mariechen, ich kann et dir nit sagen, wie jlücklich ich bin! Wenn der Mechernich durchkömmt, dann« – er lächelte sie an – »Mariechen, dann stift ich die Uhr, 'ne jroße Uhr, das einzige, das noch fehlt an der Kirche!«

*

Seit der Mechernich am grünen Klee die Letzte Ölung empfangen hatte, war es besser geworden mit ihm. Merkwürdig, und doch nicht merkwürdig! Vor dem Häuschen des Torfarbeiters standen die Leute und besprachen den Fall mit einer von ihrer sonstigen Verschlossenheit und Ruhe stark abstechenden Lebhaftigkeit. Ja, als das heilige Öl seine Stirn salbte, da hatte er die Augen, die er geschlossen gehalten hatte seit Tagen schon, auf einmal wieder aufgemacht. Und er hatte gesprochen, ganz vernünftig, gar nicht mehr wirres Zeug. Er hatte die Frau erkannt und die Kinder und hatte ihnen die Hand gegeben – nicht zum Abschied, nein, zum Willkommen. Und gesagt hatte er, daß er wohl gewußt hätte, es sei nicht gut, im Venn von dem Wasser zu trinken, daß sie aber einen so argen Durst gekriegt hätten beim Torfaufsetzen in der großen Hitze, und daß sie gedacht hätten, es würde ihnen schon nicht schaden; die Soldaten hätten ja auch getrunken, oft schon da oben im Venn.

Also die Brunnen waren doch gut! An denen hatte es nicht gelegen, daß der Mechernich und der Peter krank geworden waren. Venn-Wasser hatten sie getrunken, von dem rostigbraunen, mit Schaumblasen bedeckten, das oben in den Gräben steht. Ei, wer nicht hören will, muß fühlen. Recht war ihnen geschehen, ganz recht, warum hörten sie nicht auf das, was ihnen gesagt wurde? Aber dem Leykuhlen war Unrecht geschehen. Die Brunnen waren doch gut – gutes, reines, gesundes Wasser! Sie fühlten alle Scham. Wozu denn auch eine Wasserleitung? Das Geld für die brauchte man wahrlich nicht herauszuschmeißen, wenn man selber so gute Brunnen im Dorfe hatte!

Als die Bürgermeisterin am Nachmittag aus der Vesper kam, fühlte sie, wie schnell sich die allgemeine Gesinnung geändert hatte. Die Grüße waren ehrerbietig, fast ehrfurchtsvoll. Wieder streiften sie viele Blicke, aber jetzt waren sie nicht unfreundlich, es war wieder etwas von der alten vertraulichen Zuneigung in ihnen. Ein befreiender Windstoß war in die bange Schwüle gefahren: die Brunnen waren gut, das Wasser von Heckenbroich war gesund, der Bürgermeister hatte doch recht getan. Wer jetzt noch von Wasserleitung redete, sprach dummes Zeug!

Es war ein Sonntagnachmittag, wie ein solcher lange nicht zu Heckenbroich gewesen war. Die Bauern schritten wieder ihre Weiden ab; sie hatten bisher nicht den Mut dazu gefunden. Am Ende stand's doch nicht ganz so schlimm, wer weiß, wenn man jetzt bald Regen bekam, schlugen die verdorrten Wurzeln doch noch einmal aus. Viele prüfende und sehnsüchtige Blicke richteten sich zum Himmel auf; alle Wetterkundigen ließen sich vernehmen. Aber noch war kein Regen in Sicht. Wie immer versank die Sonne flammend im roten Venn, der Himmel glühte bis zum fernsten Streifen mit Rosen- und Goldgewinden. Purpurne Dämmerung sank nieder auf Heckenbroich.

Es kam die Nacht, heiß, unerquicklich, heute vielleicht noch dunstiger als all die Nächte vorher. Und doch schliefen die Leute von Heckenbroich. Eine Ermattung war übers Dorf gekommen, die Ermattung der Beruhigung: wenigstens das Wasser war gesund, wenigstens die Brunnen waren tauglich!

Auch Leykuhlen schlief, nach vielen schlaflosen Nächten von einer tiefen Ermüdung befallen. Als Mariechen das Licht ausblies, hatte er noch mit ihr sprechen wollen, aber die Worte verloren sich ihm.

Es war ein köstlicher Traum, der seine Gedanken verwirrte – ah, wie es rauschte, so sanft und lind! Himmlische Musik! Es rauschte, als wollte es regnen. Er schlief, erquicklich wie lange nicht, von feuchtkühlenden Lüften bestrichen; vom gleichmäßigen Rauschen war sein Ohr umschmeichelt. Er lag und atmete tief und gleichmäßig, die Stirn glatt und erhellt im beglückenden Traum. Er hörte nichts vom hellen Ausruf seiner Frau; erst als sie ihn kräftig rüttelte, wachte er auf. War es schon Morgen?!

»Bärtes, et regent! Hör, wie et am Regnen is!«

Da war er mit gleichen Füßen auch schon aus dem Bett. Das war kein Traum. Es rauschte nicht nur in den Lüften, als wollte es regnen, nein, es regnete wirklich schon rauschend nieder in gleichmäßig-eindringlichem Fluß. Kein Donner und Blitz, kein plötzlicher Guß, der rasch wieder aufhört, wie er gekommen: das war Landregen. Der Himmel ohne Licht, alle Sterne verkrochen. Regen, Regen, Erlösung, Segen!

Beide Arme in den Regen hinausstreckend, gab der Mann seine offene Brust den schweren Tropfen und den kühlenden Lüften preis. Was nutzt alle Wetterkunde? Die Wetterkundigen hatten noch lange keinen Regen prophezeit, und nun war er doch da, ungeahnt gekommen über Nacht, weil er, der die Wolken macht zu seinem Wagen und dahinfährt auf den Flügeln der Winde, weil er geboten hatte, und siehe, es geschah!

Leykuhlens Blick flog hinüber zu den dunklen Umrissen der Kirche. Schimmerte da nicht schon ein Glanz? Nein, es war nur das Dämmern der Ewigen Lampe, die rötlich durchs schwarze Fensterglas glimmte!

Er fuhr in die Kleider. Auf der Straße war es schon lebendig. Das war ein Geschwatz und Gelächter, ein Rufen und Laufen, ein Rappeln, ein Schleppen mit Kübeln und Fässern im Morgengrauen. Die Leute fingen den Regen auf. Nur notdürftig waren sie bekleidet, aber mit Wonne ließen sich Männer und Weiber naß regnen bis auf die Haut. Das war ein Genuß. So hell hatten die Stimmen lange nicht geklungen. Man patschte durch die dunklen Regenpfützen, man öffnete die Stalltüren, ließ auch dem Vieh von der köstlichen Luft zukommen. Trat einer in eine der Pfützen, die sich mit Zauberschnelle gesammelt hatten, so daß sie hoch aufspritzte, wurde sein Gelächter erst recht hell.

Ein Bann war gelöst. Die Dürre, die so lange Zeit mit eisernem Reifen Land und Leute umspannt hatte, war gewichen. Wie befreit dehnte sich die Brust und das Herz in ihr. Es regnete, es regnete!

Als Leykuhlen hinter seiner Hecke hervortrat, bemerkten sie ihn gleich: der Burjermeester, der Burjermeester! Sie umringten ihn. »Et rejnet, Hähr Burjermeester, et rejnet!« In den rauhen Stimmen war's wie ein Jauchzen. Die Männer schüttelten ihm die Hände, die Weiber schwatzten auf ihn ein, es war ihnen allen die Zunge gelöst. Daß sie ihm noch am gestrigen Tage ernstlich gegrollt hatten, das wußte kein Mensch mehr. Sie sahen ihn an, als sei er der, der den Regen gemacht hatte.

Leykuhlen stand unbedeckten Hauptes inmitten seiner Getreuen. Der Regenwind schnob daher und spielte mit seinen Haaren. Es überrieselte ihn, er empfand die Kühle wie einen heiligen Schauer. Sein Herz war übervoll einer gewaltigen Freude: da war ja der Regen! Und das Zeichen, das er begehrt hatte. Über ihn rann der Guß und badete ihm Gesicht und Seele. Er mußte an sich halten, sonst hätte er laut herausgeschrien wie ein Knabe, in höchstem Jubel: die Brunnen waren doch gut, und er hatte doch recht getan! Gott sei Dank! Er neigte die Stirn, die der Regen wusch; er fühlte den Finger Gottes.

Zur Kirche! Schon läutete es zur Messe. Die Fenster wurden hell vom ersten scheuen Morgenschein, der das feuchtdampfende Land, die triefenden Hecken, die getränkten Matten nun noch deutlicher zeigte. Wie mit freundlichen Augen lugte die Kirche von Heckenbroich; ihre Türen öffneten sich weit. Es eilten die Männer, die Frauen, die Alten und die Jungen, das ganze Dorf strömte herbei.

Weit ins morgendämmernde Land hinaus durchs offengebliebene Portal brauste Orgelklang. Der Bürgermeister hatte nicht erst beim Pastor angefragt, eigenmächtig hatte er den Lehrer auf den Chor hinaufbeordert, der Bälgetreter mußte eilends herbei, nun hieß es, alle Register gezogen. Es rauschte und brauste mit Jubelgetön: Gott den Dank, allen Heiligen den Preis. Der Bürgermeister selber mit all seiner Lungenkraft intonierte das Te deum laudamus:

»Großer Gott, wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Stärke!«

*

Bürgermeister Leykuhlen hatte immer ein gutes Ansehen in Heckenbroich und Umgegend genossen, aber nun war es doch noch anders geworden. Er war in den Augen der Leute noch gewachsen. Man hätte sich kaum mehr getraut, etwas zu tun, ohne ihn zu befragen; er war der Klügste und ein gottesfürchtiger Mann dazu. Die Mützen flogen von den Köpfen.

»Der König von Heckenbroich!« Das hatte der Tierarzt mit einem gewissen Spott aufgebracht, und andere sprachen es nach. Der Landrat nicht ohne Ärger. Da war er mit all seinem Eifer, mit all seinem guten Willen und seiner Betriebsamkeit nicht halb so weit gekommen, wie dieser Bauernbürgermeister mit seiner Einseitigkeit. Weiß Gott, wenn's wieder zu den Wahlen kam, stellten sie ihn noch als Abgeordneten für den Kreis auf! »Da sei Gott vor!« schrie Dreiborn in einem Entsetzen, das so komisch war, daß seine Zuhörer lachten. Aber ihm selber war's nicht komisch, ihm war ernst dabei zu Mut. Er hatte auch das Land lieb, auf seine Weise. Wenn doch einer käme, der den Leuten ein Licht aufsteckte! So geriet man ja immer tiefer ins Mittelalter hinein! Und doch konnte er dem Betbruder eine gewisse Anerkennung nicht versagen: dieser Pfaffenknecht tat auf seine Weise das Beste – aber eben auf seine Weise!

Leykuhlen hatte keine Ahnung davon, daß in der Kreisstadt viel über ihn gesprochen wurde. Das Te Deum, das er so ganz aus eigener Machtvollkommenheit nach Anbruch des großen Regens in der Kirche von Heckenbroich hatte singen lassen, konnte nicht unbesprochen bleiben. So etwas war noch nicht dagewesen.

Auch Heinrich Schmölder erzählte davon zu Hause. Ihm war es im Grunde ganz gleichgültig, er hatte den Kopf voll mit eigenen Angelegenheiten: sollte er Hedwigs Mitgift nicht lieber doch noch in Händen behalten und dem jungen Paar nur eine Rente geben? Aber Lenchen hatte so lange gespöttelt und auf den da oben gehetzt, bis auch er von »Betbruder« sprach. Dem Gatten so wenig als möglich zu widersprechen, war einer der Grundsätze von Frau Schmölder; aber jetzt echauffierte sie sich doch: wie konnte Heinrich so etwas sagen? Man könnte wirklich annehmen, er wäre kein guter Christ. Und was sollte der Bräutigam davon denken, der mit am Tische saß?

Aber Scheffler lächelte nur verbindlich; er hatte kaum hingehört, was der Schwiegervater sagte, er tändelte mit der Braut. Hedwigs Hand in der seinen haltend, zog er ihr spielend den goldenen Reif vom Finger und schob ihn ihr wieder auf. Das war ihnen beiden sehr unterhaltsam.

Josef saß dabei und biß sich auf die Lippen; in seinem Gesicht vibrierte es nervös. Nun hielt er nicht mehr an sich; dies verliebte läppische Getändel alle und alle Tage mit anzusehen, das war zuviel. Gereizt fuhr er auf: »Leykuhlen ist durchaus kein Betbruder, und auch kein Pfaffenknecht, wie ihn gewisse Leute zu nennen belieben. Er ist ein Mann, ein ganzer Mann, der genau weiß, was er zu tun hat. Ich wollte, ich wäre so einer!«

»No, und was dann?« fragte der Vetter mit seinem breiten Lächeln.

»Dann stünde ich auf und schöbe den Stuhl unter den Tisch: prost Mahlzeit«, stieß der andere heftig heraus. Er sprang auf. »Ihr habt ja gar keine Ahnung von Größe; keinen Schimmer! Wenn ihr nur eueren guten Tag lebt, damit basta. Aber der Mann da oben, der hat selbstlose Ideen. Der ist wohl auch der Berufene, der Einzige vielleicht, der geeignet ist, Kreis und Land zu vertreten. Klug, kräftig, männlich, geradezu, unerschrocken –«

»Und dazu noch 'ne jute Portion Selbstbewußtsein«, setzte, halb tadelnd, halb anerkennend, der Fabrikant hinzu. »Kreisphysikus und Landrat können ein Lied davon singen.«

Josef schob seinen Stuhl unter den Tisch. »Gesegnete Mahlzeit«, sagte er kurz. Seiner Kusine nickte er zu: »Dein Diner war sehr gut, Sophie, ausgezeichnet wie immer; danke. Aber ich äße lieber Brot und Kartoffeln oben auf der Fangeuse!« Und damit ging er zur Tür hinaus.

»Was hat er denn nun schon wieder?« fragte Frau Schmölder ganz erschrocken. »Rebhühner ißt er doch sonst so gern. Er war ja so ungemütlich!«

»Verrückt«, sagte Heinrich, zuckte die Achseln und lachte.

Dann sprachen sie von etwas anderem. Es war so selbstverständlich, daß das junge Paar die neuen Reitpferde, die Egon sich als demnächstiger Hauptmann anschaffen würde, auch einfahren ließ. Nur in welcher Farbe der Wagen ausgeschlagen werden sollte, oder ob ein Selbstfahrer eleganter wäre, darüber war man sich noch nicht einig.

Josef stürmte hinaus. Er war ingrimmig, alles widerte ihn an; und doch sagte ihm der eigene Verstand, daß er eigentlich gar keine Berechtigung habe, so aufgebracht zu sein, kein Mensch hatte ihm ja etwas getan. Aber er konnte sein Gleichgewicht nicht wiederfinden, wie sehr er auch bergauf und bergab rannte. Er spazierte ziellos umher den ganzen Nachmittag, lief in sich gekehrt, mit gerunzelter Stirn; schon war er todmüde, aber er mochte doch noch nicht zurückkehren. Endlich fand er sich, oberhalb der Au, am Fuß der großen Tanne, zwischen deren Wurzeln er einmal so sanft geruht hatte in einer Mondscheinnacht. Heute war noch Sommerabendsonne, die Landschaft nicht so traumhaft verklärt wie damals im Mondschein, wirklicher, leibhaftiger, kräftiger in den Farben, aber doch auch schön und vor allem beruhigend. Dunkel, so dunkel der Tannenwald, saftgrün das Wiesental. Schon schwebte ein leiser, silberiger Duft über Grund und Hängen, der Hauch des Herbstes. Bald würden die wenigen Laubkronen, die zwischen den dunklen Tannen verstreut waren, sich rostbraun färben, und dann –?! Es packte ihn noch einmal wieder: Himmel, der Herbst so nahe, und noch einmal ein Winter da unten – entsetzlich!

Harte Tritte klapperten. Da kamen sie herauf, die müden Arbeiterinnen, die, nun die Dampfpfeife gepfiffen und das Glöckchen oben im Türmchen der Fabrik gebimmelt hatte, matt und hungrig den Heimweg antraten. Arme Dinger! Er sah ihnen entgegen, wie sie den Fußpfad heraufstiegen. Alle trugen ein Körbchen am Arm, alle neigten die glattgestrählten Köpfe nieder auf das Strickzeug, dessen grobe Nadeln in ihren Händen rasselten. Selbst jetzt noch fleißig! Er bewunderte sie. Sie sprachen miteinander, mitunter sagten auch ein paar das »Gegrüßet seist du«, her. Als sie bei ihm vorüberkamen, sagte er »Guten Abend«. Sie stießen sich an und kicherten: der Herr, der da auf dem Boden lag und sie zuerst gegrüßt hatte, erregte ihre Heiterkeit. Sie beguckten ihn rasch von der Seite, und dann lachten sie noch im Weitergehen.

Es war ihm peinlich. Warum lachten sie denn so? Dumme Dinger! Er sprang auf und kroch die Berglehne etwas höher hinan und lagerte sich dort hinter ein Brombeergestrüpp. Nun konnte er sehen, ohne selber gesehen zu werden. Ganz hübsche Mädchen, sahen nur alle älter aus, als sie wohl sein mochten! Der Schönheitskenner rümpfte die Nase. Aber da, da kam eine hintennach, die war wirklich noch hübsch, vollkommen hübsch! So taufrisch, gänzlich unberührt.

Es war Bärb. Sie kam als allerletzte. Wie sehr müde ging sie; ein großer Abstand blieb zwischen ihr und den übrigen Mädchen. Sie strickte auch nicht wie jene, sie betete auch nicht, obgleich sie die Hände vor sich gefaltet hielt. Ihr schwerer Blick starrte geradeaus, weit, weit weg in den dämmernden Abend.

»Hela!« Es reizte Josef, sie anzurufen.

Sie erschrak heftig. Als sie nach ihm hinsah, erkannte er sie: ah, dieses hübsche Mädchen war ja die Huesgen! Schon einmal hatte er sie so erschreckt, oben vor der Kirche – war er denn so schrecklich? Schnell rutschte er den Hang hinunter und stand mit einem Scherzwort vor ihr. Sie sagte »Juten Abend«; er merkte, daß auch sie ihn erkannte, aber sie lächelte nicht. Ihr mattes Gelblichweiß errötete nicht, sie sah an ihm vorbei mit einem verlorenen, traurigen Ausdruck.

Nun, die machte ja ein unglückliches Gesicht? Warum denn? War ihr der Schatz untreu geworden? Er fragte es sie scherzend.

Da schoß ihr das Blut jäh ins blasse Gesicht, und seine Hand fortstoßend, die ihr unters Kinn greifen wollte, sagte sie hastig: »Ich hab keinen Schatz. Ich will auch keinen – uns Dores is dot – vorletzte Sonndag hammer ihn bejraben!« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und fing an, herzbrechend zu weinen.

Josef war betroffen. Also der kleine Dores war tot? Er erinnerte sich des Kindes noch ganz genau. Aber war das denn so ein Jammer um den blöden Knaben? Was sollte er sagen?

Sie hielt sich die harten braunen Finger vors Gesicht, und er sah die Tränen zwischen ihnen durchrinnen. Er begann, ihr freundlich zuzureden. Sie weinte in einem fort, sie hörte nicht auf das, was er ihr zum Trost sagte; aber als er sie nach der Wurzel der großen Tanne hinzog, die wie eine Bank, mit Moos gepolstert, herausstand, ließ sie sich willenlos ziehen.

Er sprach recht väterlich. Er war fast erstaunt, wie gut er das konnte. Im stillen machte er sich über sich lustig, aber zugleich rührte ihn dieses bitterliche Weinen, diese ganze Hilflosigkeit, die sich in der geknickten Mädchengestalt offenbarte. Und um den blöden Jungen weinte sie so? Oder war da noch ein anderer Kummer?!

Der leise spöttelnde Zug, der seine Mundwinkel herabgezogen hatte, schwand; es war herzliches Mitgefühl in seinem Ton: »Warum weinst du denn so? Kannst du es nicht sagen?«

Da hob sie das verweinte Gesicht aus den Händen. Ein Blick traf ihn aus den dunklen Augen, vor dem er stutzte. »Nee«, stieß sie schluchzend hervor. Ihr blasses Gesicht wurde flammendrot bis unter das schwarze, an den Schläfen ein wenig wellige Haar. »Nee – ich kann et nit sagen – nee!« Sie schüttelte sich wie in einem inneren Krampf und warf den Oberkörper vornüber. Ihr Gesicht lag auf ihren Knien. Die Arme schlang sie um die Knie und preßte sie fest, als müsse sie sich so zusammenhalten, um nicht zu zerspringen vor heftigem Schluchzen.

Und alles dies um den blöden Jungen? Das war ja kaum möglich! Aber wenn sie es denn nicht sagen wollte, wollte er sie auch nicht weiter ausfragen. Was ging's ihn auch an?! Aber er blieb doch noch neben ihr sitzen. Mit leichter Hand strich er ihr über den gebeugten Kopf: »Wein dich aus, Anna, Maria, Lenchen – na, Mädchen, wie heißt du doch gleich?«

»Bärb«, flüsterte sie, kaum hörbar.

»Nun, Bärb, wein dich aus! So –« er klopfte ihr den Rücken – »das tut wohl. Wenn man noch so weinen kann wie du, Kind, dann wird man auch bald wieder froh!«

»Och, Herr?!« Sie hob den Kopf und sah ihn angstvollfragend, ungläubig an.

Er nickte lächelnd: »Ja, auf mein Wort!«

Einen Augenblick huschte es wie ein Hoffnungsschimmer erhellend über ihr Gesicht, dann wurde es wieder trüb. »Ich jlaub dat nit«, murmelte sie und ließ den Kopf wieder hängen. »Nee, nee!« In ausbrechendem Jammer, nicht mehr achtend, daß ein Herr, ein Fremder neben ihr saß, warf sie den Kopf wieder auf ihre Knie und schluchzte aufs neue.

Was sollte er tun? Zu sagen war da nichts, er kannte ja auch nicht ihren Kummer. Aber sie dauerte ihn: armes, geplagtes Fabrikmädchen, gewiß hatte sie es auch schlecht zu Hause! Stumm legte er den Arm um ihre Schulter. Er fühlte ihre ganze Wärme. War das ein kräftiger junger Körper, trotz all der mageren Schlankheit. »Tröste dich!« Er drückte sie leicht.

Da richtete sie sich hastig auf. Jetzt erst ward sie sich ihrer Unschicklichkeit bewußt. Errötend, den Blick erschrocken niederschlagend, sprang sie auf die Füße. Oh, was sollte der Herr wohl von ihr denken?!

Josef lächelte flüchtig: die Kleine sah so allerliebst aus in ihrer Beschämung. Aber dann wurde er ernst. Ein Gedanke war ihm plötzlich durch den Kopf geschossen, der sich seiner ganz und gar bemächtigte, wie ein brennender Wunsch. Wenn die mit ihm ginge! Sie schien ja unglücklich hier zu sein, vielleicht, daß sie gern auf die Fangeuse hinauf zöge!

*

Es war nun ausgemachte Sache, daß Josef Schmölder die Fangeuse bezog. Heinrich Schmölder schüttelte den Kopf: was der Josef doch für einen Dusel bei den Weibern hatte, trotz seiner angegrauten Haare! Fand wahrhaftig eine, die mit ihm da hinaufzog, noch dazu eine, die blutjung war und die hübscheste von allen in der Fabrik. Na, wenn das nur gut ging! Aber dem Josef war ja nicht zu raten, der hörte doch nicht. Übrigens, für ihn selber war es ja auch angenehm, wenn in den Jagdtagen ein so hübsches Mädchen ihm das Bett machte und den Kaffee kochte.

Josef rüstete in fieberhafter Ungeduld; der frühere Hüter der Fangeuse war zum August bereits abgezogen. Und nun färbten sich schon die einzelnen Laubbäume gelb, und Astern und Georginen blühten im Garten. Wenn man jetzt nicht eilte, entging einem der Herbst da oben, der köstliche Herbst mit seinen Nebelmorgen und den um so leuchtenderen Mittagen und dem lichten Himmel, der sich so leicht über die Erde spannt. Er lachte seine Kusine aus, die von wollenen Hemden sprach und eine ganze Ausrüstung für ihn zusammenstellte. Wirklich nett von Sophie. Als ob man nicht jeden Augenblick herunterkommen könnte, wenn man etwas gebrauchte – aber man würde nicht kommen.

Endlich war es erlangt, wonach er sich immer gesehnt hatte! Endlich würde er allein sein, endlich einmal ohne das Geschwätz des Alltags, das ihn nervös und traurig machte! Um ihn würde nur die Natur sein, die er so unendlich liebte. Josef war in einer gehobenen Stimmung, er pfiff und trällerte den ganzen Tag.

»Wie'n Lerch«, sagte Heinrich mit Spott. Frau Schmölder aber war ganz betrübt, daß der Vetter hinaufzog, er war immer galant. »Erkälte dich nur nicht, du weißt, du bist nicht der Stärkste. Es ist rauh im Venn – huh, ich möchte im Winter nicht da oben sein!«

Sie schauderte und sah ihn besorgt an. Es würde ja nun hier unten viel friedlicher sein, es war immer so peinlich, wenn Heinrich und Josef sich zankten. Aber wenn er sich nur nichts holte da oben, das Venn wäre nicht zum Spaßen.

Nein, es war auch nicht zum Spaßen. Aber zum Bewundern. Stumm saß Josef Schmölder auf dem Bock neben dem Kutscher des Karrens der ihn hinauffuhr. Hintenauf saß Bärb mit ihrer Lade und hielt noch ein Bündel auf dem Schoß.

Ihr Gesicht war ruhig und zufrieden. Die Mutter hatte zwar geweint beim Abschied und ihr noch viele Ermahnungen mitgegeben. Die Eltern hatten überhaupt anfänglich nichts davon wissen wollen, daß sie zu einem einzelnen Herrn zog, und der Herr Pastor war auch dagegen gewesen; aber Bärb hatte es durchgesetzt. Ja, sie wollte fort! Gern. Es war ihr, als müßte sie fliehen vor Erinnerungen. Und war der Herr Josef denn nicht schon ein alter Mann, zudem der Vetter vom Herrn Schmölder? Bürgermeister und Bürgermeisterin hatten auch die Eltern beruhigt. Und Bärb lachte: was sollte es ihr wohl da oben zu einsam sein? So stieg sie wohlgemut auf den Wagen, der vor der Hecke der Eltern anhielt.

Auch bei Leykuhlens hatte Josef noch halten lassen. Der Bürgermeister aber war gestern nach Mariawald gegangen; das tat er alle Jahr vor Winters, um im Trappistenkloster zu beichten. Die Bürgermeisterin versprach, daß ihr Bärtes bald hinaufkommen würde, den Herrn Josef besuchen. »Aber werden Sie es da auch aushalten können?« fragte sie. »Bald kömmt der Schnee!«

Da lachte er sie aus. Und jetzt saß er und staunte mit großen Augen. So hatte er das Venn noch nicht gesehen. So doch noch nicht! Immer nur war er nicht weit über Heckenbroich hinausgekommen. Jetzt aber breitete sich die Moorfläche in ihrer ganzen Unabsehbarkeit aus; vor ihm, hinter ihm, rechts und links. Das letzte Haus, was sie sahen, war das der Strafkolonie; nun verschwand das auch hinter einer Erdwelle. Das rote, im klaren Herbstlicht weithin leuchtende Dach war plötzlich weg, als sei es gar nicht da. Immer frischer wurde die Luft; Winde standen auf einmal auf aus der bräunlichen Heide, warfen den Pferden die Mähnen durcheinander und bliesen den Menschen ins Gesicht.

»Et is schon kalt hier oben, Herr Schmölder«, sagte der Kutscher.

Die Decke war nun doch ganz gut, die Sophie mitgegeben hatte. »Brauch ich nicht, brauch ich nicht«, hatte Josef zwar gesagt; nun breitete er sie aber doch über seine Knie und ließ sie sich von dem Kutscher an den Füßen einstopfen.

Es wehte. Hier oben weht es immer. Vom Meer her, von der Nordsee über Belgien weg, viele, viele Meilen weit kommen die Lüfte; sie haben ihre ganze salzige Frische behalten. »Hah«, sagte Josef tiefaufatmend und zog den starken Duft schlürfend ein wie einen köstlichen Wein. Man hatte förmlich den Geschmack auf der Zunge.

Jenseits der Chaussee arbeiteten die Gefangenen, sie standen bis an die Knie im Heidegestrüpp, hackten und schaufelten, gruben und rodeten wie immer, wie alle Tage, wie seit Wochen und Monaten, ob es regnete, ob die Sonne prallte. Für ein paar Augenblicke ließen sie ihr Handwerkszeug sinken und starrten. Auch Simon Bräuer, der bei ihnen stand mit seiner Flinte, drehte den Kopf. Er kam dann langsam, aber mit ein paar weitausholenden Schritten, die mehr schafften, als viele hurtige, zum Wagen heran.

»Schön hier oben«, sagte Josef.

»O ja!« Der Aufseher ließ für einen Augenblick in einem grimmigen Lächeln seine weißen Zähne aufblitzen. »Aber nit für jeden!« Mit finsterem Ausdruck starrte er dann wieder drein.

Ja, da hatte der Mann wohl recht: für die da sicher nicht! Josef hatte den Sträflingen, deren Leinenkittel sich im Winde blähten, zugenickt, aber sie hatten seinen Gruß nicht erwidert. Sie starrten nur stumm.

»En schlechte Nachbarschaft, Herr Schmölder«, hatte der Knecht gemeint, als sie dann außer Hörweite waren. »Do muß mer sich vor in acht nehmen.«

Aber Josef drehte sich noch einmal um und blickte nach den Sträflingen zurück. Wieder dünkten sie ihn wie damals: Schafe, die in der Irre wandern. Und die sollte er fürchten?! Er hielt dem Kutscher eine ordentliche Strafpredigt. Aber dann mochte er nicht mehr sprechen. Je weiter sie ins Venn hineinkamen, desto stummer wurde er; auch der Kutscher schwieg und das Mädchen hinten auf dem Wagen. Die schweigende Landschaft hieß alle schweigen.

Wie ein Meer mit Wellen und Wellchen, eine Flut, endlos, ohne Ufer, ohne Begrenzung dehnt sich das Venn, und der Wagen fährt wie ein winziger Nachen in die Unendlichkeit. Noch war das Heidekraut nicht verblüht, aber sein Purpur war blaß geworden, gebleicht vom Brand des Mittags und vom Reif der Nächte. Es schwärmten nicht Tausende von Bienen mehr, matt nur taumelten noch einige; hier stürzte schon eine und sank verklammt hin ins Kraut.

Simon Bräuer, der dem Wagen nachgeschaut hatte, lange, lange, ganz verloren in eigenen Gedanken, sah sie fallen. Nun war der Sommer dahin, und Thereschen war doch nicht gekommen! Nun würde sie auch nicht mehr kommen; und wenn er es gut mit ihr meinte, durfte er sie auch jetzt nicht mehr kommen heißen. Sein eisernes Gesicht wurde noch eiserner, er kniff die Lippen aufeinander, als wollte er einen Seufzer nicht herauslassen, der sie öffnen wollte. Verdammt! Erst die Hitze, die Dürre, der Mangel an Wasser, die Krankheitsgefahr – wie hätte er sie, die er liebte, herrufen können? Und jetzt?! Er sah rundum. Sein scharfes Auge, gegen das der Wind anpustete, als wolle er es zwingen, sich zu schließen, äugte in die Ferne. Weit, weit dort niederwärts in dem tiefblauen Duft, in dem die Täler liegen und die Stätten der Menschen, da wohnte sie! Ob sie auch an ihn dachte, bei Tag, bei Nacht, stündlich – immer?! Ach, sie hatte ja an so vieles zu denken: an die Kinder, an die Verwandten, an die Bekannten, an die Nachbarn rechts und links – er aber, er hatte nur sie!

Wenn er hier auf dem Venn stand, die Flinte im Arm, und in die ewige Weite starrte, dann hatte er Muße genug, an die Frau zu denken; viel zuviel Muße. Ragend wie ein einsamer Baum, von allen Seiten sichtbar, brauchte er nicht bange zu sein, daß ihm einer aus der Horde ausbrach. Wenn seine Kerls ihn nur von weitem sahen, dann war's schon genug. Sie taten ihre Arbeit jetzt wie Maschinen; selten, daß er noch einen einsperren mußte oder den Stock gebrauchen. Sie hatten parieren gelernt. Sie wußten, er setzte seinen Willen ein wie die eiserne Pflugschar, die unbarmherzig ins öde Brachland Furchen reißt. Aber hernach sät man doch auch Samen ins aufgerissene Land, auf daß dereinst eine Ernte zu erhoffen ist. Langsam ging das freilich, langsam. Aber wer hätte überhaupt je früher daran gedacht: ein Erntefeld auf dem hohen Venn?! Selbst diese armen Teufel, die nichts von dem genießen würden, was sie hier säten, hatten doch eine gewisse Freude daran, eine Art Stolz.

Simon Bräuer zuckte die Achseln: nein, ganz schlimm waren sie nicht, seine Kerle! Wenn nur das Thereschen hier wäre! Wenn er die nur hätte, dann wäre alles gut. Seit Pfingsten hatte er die nicht mehr gesehen. Ob sie wohl ins Ehebett nun das Kleinste zu sich genommen hatte? Daran dachte er, wenn er abends auf der schmalen eisernen Bettstatt den Schlaf suchte und den Traum. Kotz Kuckuck, es war ein hartes Stück für einen verheirateten Mann, hier oben so allein zu sitzen! Das halte einer auf die Dauer mal aus – er nicht!

Mit einem Ruck richtete sich der Aufseher aus seiner nachdenklichen Stellung auf. Mit so großen Schritten stapfte er im Kraut hin und her, so unruhig wie ein Gefangener, trotz aller freien Weite, daß die Sträflinge verstohlen nach ihm guckten. Wenn er so war, dann mußte man sich hüten, von der Arbeit aufzusehen! Sie grinsten in sich hinein, sie verstanden das wohl: er dachte an das Weib. War es nicht eine Hübsche, Junge, die ihn geherzt hatte? Es war schon lange her.

Simon Bräuer hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen. Das grimmige Lächeln, in dem er vorhin, bei der Bewunderung des Herrn, seine blitzenden Zähne gezeigt hatte, zuckte wieder auf. Ja, schön war es schon hier, mehr als schön! Es hatte ihm ja auch so wohl hier gefallen, daß er all die Jahre nicht hatte das Venn vergessen können, sich ohne Zaudern, ohne Bedenken förmlich dazu gedrängt hatte, hierherauf zu kommen. Nun war er wieder hier. Noch war es dieselbe Weite, derselbe Himmel mit den fliehenden Wolken daran, nach dem er immer gesucht hatte unten in der Enge der Städte. Noch war es derselbe starke Duft nach Moor, nach Heide, nach Wacholder, nach Tannenharz, nach der herben Preißelbeere. Und wieder war er hier Hüter wie dazumal, als er seine Peitsche über dem Vieh schwang. Was war es nur, das es nun so anders machte, warum litt es ihn nicht mehr hier oben? Noch liebte er dieses Venn ebenso sehr; er fühlte das, indem es ihm schwer wie ein Stein auf die Brust fiel, bei dem Gedanken, es zu lassen. Jenes Dach hatte er errichtet, das Haus gebaut, darin sie wohnten, Wege hatte er gebahnt, Äcker eingeteilt und Gartenland gerichtet, Hecken hatte er angepflanzt, sogar einen Fliederbusch, und doch mußte er fortgehen. Man zögerte, ihm ein Haus für seine Familie zu bauen, man wollte damit noch warten. Nun wohl, dann mochten sie sich einen anderen suchen! Ob sie einen fanden, der dazu taugte? Simon Bräuer war kein Bescheidener, er wußte, was er wert war. Wieder lachte er sein grimmiges Lachen, sein Raubvogelauge blitzte dabei. Sie kriegten nie einen solchen wieder. Wer kannte das Venn so wie er? Und wer liebte es so wie er?!

Sein greller Blick wurde milder, verschleierter; er sah trübe rund umher und auf die weißen Kittel, die im Vennwind flatterten. Die Kerle würden ihn auch vermissen. Gerecht war Simon Bräuer immer gewesen, streng, sie hatten ihre Strafe gekriegt, aber auch ihr Recht. Ob sie's wieder so kriegten? Und doch würde er gehen. Und wenn sie ihm auch für seine Frau ein Haus bauen würden hier oben, durfte er sie denn hier heraufnehmen, sie und die Kinder? Sie waren nicht Vennland und Vennluft gewöhnt.

Der Schweiß brach ihm aus. Wohin er sah, er fand keinen Ausweg. Er sah nur klar den Weg, auf dem es hinging zu ihr. Und den mußte er gehen; er hielt es nicht mehr aus ohne sie.

Es war ein bitteres Gefühl, mit dem Simon Bräuer sich nachts auf seine Lagerstatt streckte. Soweit hatte er's nun gebracht, sehr weit schon – was hatte ihm vor ein paar Tagen der Landrat nicht alles für Komplimente gesagt, ganz erstaunt war der gewesen und voller Lob, wie hier alles voranging – und doch reichte seine Kraft nicht weiter mehr.

In der einsamen Dunkelheit seiner Lagerstatt stöhnte Simon Bräuer und ballte die Fäuste in einem Zorn über sich selber.

*

Und noch ein anderer unter dem roten Dach, das tief übers rohe Sparrenwerk herunterhängt, stöhnte und wendete sich in ruheloser Qual. Alles schlief im scheunenartigen Raum. Ein Schnarchen, rauh wie das unablässige Schnarren und Schnurren eines Sägewerks, vereinigte alle Schläfer. Mit glühenden trockenen Augen starrte der einzig Wachende im Schlafsaal in die tiefe Dunkelheit.

Heute schien kein Mond draußen, der seine Strahlen wie blinkende Schwerter durchs Gebälk stach; finster war es. Aber der Sträfling mit seinen brennenden, sich ins Finstere bohrenden Blicken sah das Venn draußen und hinter jedem Busch das Kind. Das Kind, das da hockte, das ihm zulächelte, den Kopf rasch vorstreckte und ihm winkte, ihm nickte, so oft er mit seinem Spaten in die Nähe kam. Der Aufseher paßte jetzt lange nicht so scharf mehr auf wie vordem; man konnte jetzt, ohne gleich angeschrien zu werden, ruhig weiter hinausschlendern, den Karren, den man schob, ein wenig weiter hinauskarren. Oh, wie das Kathrinchen so vertraulich geworden war! Wenn er neben sie hinter dem Busch niederduckte, dann sah sie ihn immer so freundlich an mit ihren schwarzen Augen. Zum Anbeißen, zum Aufessen! Ein hübsches Dingelchen, ein Kind noch, und doch –!

Einen knurrenden, fauchenden Laut ausstoßend, wie ein in die Enge getriebenes böses Tier, packte sich der Sträfling mit beiden Fäusten ins kurzgeschorene Haar und rupfte sich die Borsten aus. Wenn er die Augen auch zudrückte, so fest zukniff, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat, er sah sie doch, immerfort. Gott im Himmel! Wenn Gott im Himmel sich wirklich um jeden einzelnen kümmerte, auch um einen, der hier in der Laubhütte saß, dann mußte er jetzt den Schutzengel schicken, den mit dem langen weißen Kleid und dem Lilienstengel in der Hand, von dem Kathrinchen ein Bildchen hatte. Sie hatte es aus der Tasche gezogen, es ihm gezeigt und es geküßt.

Die Hände ineinander faltend, sie zusammenpressend in krankhafter Hast, versuchte der Sträfling zu beten. Ah, wenn er jetzt der Schleichert, der Betbruder wäre, der konnte paternollen! Er, er verstand das nicht so gut. Er hatte zu selten gebetet, die Gebete, die er als Knabe gelernt hatte, alle vergessen. Ob er den Alten weckte? Der würde wohl mit ihm beten; sein eigenes Gebet beruhigte ihn nicht. Ha, die kleine Trine, die verstand aber noch besser zu beten; und fromme Lieder konnte man die singen hören, wenn man die Ohren spitzte. Weit, weit übers Venn klang ihr Gesang; wenn man dem nachging, konnte man sie immer finden. Sie hütete das Vieh, sie sammelte von den roten Beeren, Tag für Tag, vom Morgen früh bis zum Abend spät; bis daß es dunkelte. Bald war sie hier, bald dort. Ihr Ruheplatz aber war hinter den schwarzen Tannen, ganz im Dickicht, im Busch am Fuß der Ley. Da war es so still, so verborgen. Am Wochentag kam kein Beter hierhin, verlassen stand dann die Muttergottes im Stein. Sie war allein – so ganz allein!

Der Sträfling zuckte zusammen, er erschrak über die eigene Stimme; heiser hatte er's laut geächzt: »Ganz allein!«

Er schwitzte; der klebrige Schweiß rann ihm in Strömen am Leib herunter. Er betete wieder. Es ward ein seltsames Gebet. Brocken von einst Gelerntem fand er noch zusammen, aber mit Verwünschungen vermengte er sie. Er fluchte sich und dem da oben und dem Kind hier unten. Warum war ihm das Mädchen in den Weg gelaufen? Warum lachte es ihn immer so an?! Würde sie auch noch lachen, wenn er sie zu packen kriegte hinter diesem dichten Busch, wenn er sie – ha, schreien würde sie sicher! Schreien!

Jetzt gellte es durch die Finsternis zu ihm. Er hatte ihn ganz deutlich in den Ohren, den Schrei. Die verwünschte Trine! Er fletschte die Zähne, er biß sie dann knirschend aufeinander.

Und dann würde er ihr den Mund zuhalten: »Biste still!« Er würde sie am Halse packen – an dem kleinen, zarten Hälschen – – –

»Jesus, Jesus Christus, erbarme dich!« Erstickt schrie er auf. Er schrie den Schutzengel an, den in dem weißen Kleid: »Komm du, sei du bei ihr, sonst –!« Aber auch der konnte ihr nicht helfen, nein!

Sie war wieder da, sie, die ihn überfiel wie eine Krankheit, wie ein Krampf, gegen den er sich nicht wehren konnte. Sie, die Gier, die er auch hier nicht losgeworden war. Sie war wieder da. Und nun hielt sie ihn gepackt, fester denn je.

Die Augen rollten ihm, er bäumte sich jählings im Bett auf und wühlte sich dann wieder ein ins Stroh und richtete sich wieder auf und kauerte glühend und doch frierend, zitternd und mit den Zähnen klappernd, weinend auf seiner Bettstatt. Wann kam das Licht? Ach, helles Tageslicht! Ihm grauste in der Finsternis.


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