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1.

In die Enge der Gassen war die Sonne noch nicht hinabgedrungen. Denn tief unten im Talspalt liegt die Stadt neben den Fluß gequetscht, ein Haufe altersgedunkelter Schieferdächer. Finster blickt ein verfallener Wachtturm auf Kirche und Apotheke am Markt nieder. Und von der anderen Seite am jenseitigen Berghang schaut die alte Burg herunter in den Alltag der Bürgerhäuser und der klingenden Ladentürchen, der rauchenden Fabrikschlöte und der gellenden Dampfpfeife, des gemütlichen Schwatzens der Skatbrüder beim Schoppen, des Weibergeträtsches und des Sporenklirrens der Herren vom Schießplatz, die ihre freie Zeit benützen zu einer Flasche Sekt und einem guten Diner bei der schönen Helene im »Weißen Schwan«.

Der »Weiße Schwan« war heute so wie immer der Sammelplatz. Vor seiner verschnörkelten Barocktür, darüber ein Schwan schon ein Jahrhundert sich schaukelt, drängten sich die Herren. Alle in Zylinder und schwarzen Röcken; doch auch einige Uniformen waren unter dem feierlichen Schwarz. Der Wirt vom »Schwan« war gestorben.

»Armer Kerl«, sagte Adjutant von Scheffler, der eigens vom Platz herunterbeordert worden war, das Offizierkorps zu vertreten. »War immer höchst fidel. Und engherzig in keiner Weise – nee, wahrhaftig nicht!« Er lächelte flüchtig.

Der junge Leutnant Abeking lächelte auch; er konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das ihm kam, wenn er der vorigen Sonntagnacht gedachte, in der die schöne Helene vom »Schwan« bei einer fröhlichen Bowle ihm Blicke zugeworfen hatte – Blicke! Und ihr Fuß hatte den seinen gesucht, und dicht neben ihn war sie gerückt. Noch jetzt fühlte er, wie der Strom Leben, der von ihr ausging, ihm durch den Körper rieselte. Und ihr dicker Wilhelm hatte sein behagliches Lachen dazu gelacht und listig geblinzelt und noch an kein Arg gedacht. Daß er so schnell hatte sterben müssen!

Ein plötzlicher Schauer überrann den jungen Offizier. Scheußlich, so aus dem vollen Leben und von einem so famosen Weibe weg zu müssen!

»Am Suff ist er gestorben«, sagte jetzt plötzlich jemand ganz laut. Das war der Tierarzt. Verschiedene lächelnde Gesichter wendeten sich dem zu: natürlich, der Dreiborn konnte wieder seinen Mund nicht halten! Aber diesmal hatte er recht.

Und nun wußte der Apotheker auch Näheres: Herz und Nieren waren längst krank gewesen, der Doktor hatte ihm immer schon Wein und Bier verboten, aber der dicke Wilhelm hatte eben weiter getrunken.

»Pardon«, der junge Leutnant trat näher, hat jemand von den Herren sie schon gesprochen? Ob sie sehr unglücklich ist?«

»Unglücklich?!« Der Tierarzt ließ ein Lachen vernehmen, so laut, daß Abeking zusammenzuckte. Er sah sich verlegen um, aber heute schien der Tierarzt keinen Anstoß zu erregen. Man unterhielt sich zwanglos. Nur als jetzt der Landrat eilig über die Gasse schwenkte, zusammen mit dem Bezirkskommandeur, legten sich die Gesichter in ernstere Falten. Man grüßte.

Der Landrat dankte verbindlich. Aber sein kluges, vornehmgeschnittenes Gesicht zeigte einiges Unbehagen. Eine recht mißliche Geschichte, zu diesem Leichenbegängnis zu gehen. Der Landrat hinter dem Sarg eines notorischen Säufers! Aber die schöne Helene würde ihm sein Fernbleiben nie verzeihen, und dann – sie waren ja alle gekommen! Der Kreisphysikus und der zweite Arzt, der Bürgermeister, der Notar, der Amtsrichter, der Bauinspektor, der Apotheker und so weiter – ah, sieh da, selbst Schmölder von der Tuchfabrik! Und dann die Herren vom Militär.

Das gab ihm Sicherheit. Er richtete flüchtig ein paar Worte an die Herren, um dann mit dem Fabrikanten, dem reichsten Mann des Orts, ein paar Schritte zur Seite zu treten. Sie mußten lange warten.

»Jeht et denn noch nicht bald los?« fragte plötzlich laut der Fabrikant. »Zum Donnerwetter, nu hab' ich't aber bald satt!«

»St!«

In diesem Augenblick fingen die Glocken der Kirche dumpf an zu läuten. Es öffnete sich die verschnörkelte Barocktür, von innen drang ein Schluchzen heraus auf die Gasse. Wie sich die Helene hatte!

Hinter der Geistlichkeit, die mit Kreuz und Weihrauchduft die Stufen des »Schwans« hinabschritt, schleppten die Träger den schweren Sarg heraus. Die vier, die ihn trugen, blickten schier bänglich: würden sie's schaffen, bis vier andere sie ablösten? Sie hoben den Sarg auf die Bahre, der Zug setzte sich in Bewegung, Kinder mit Kränzen vorauf. Dicht hinter dem Sarg trug der Deputierte des Schützenvereins das Kissen mit sämtlichen Preisen und Ehrenzeichen; Wilhelm aus dem »Schwan« war, ehe noch seine Hand so zitterte, ein berühmter Schütze gewesen. – – –

»Gegrüßet seist du, Maria,
Gebenedeite unter den Weibern« – – –
»Heilige Maria, bitte für uns,
Jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Unablässig, sich immer wieder erneuernd, klang das murmelnde Beten. Die Glocke dröhnte mächtig dazu. Vor einer langen Reihe schwarzgekleideter Frauen her wankte die Witwe. Man konnte ihr Gesicht nicht sehen; sie hielt es verborgen hinter dem schwarzgeränderten Taschentuch, und hinter dem dichten Kreppschleier, der lang bis zum Saum des schleppenden Kleides niederfiel.

Sie schien wirklich aufrichtig betrübt! Der kleine Leutnant machte einen langen Hals, aber er konnte nichts von ihr erblicken, als über der Pelzboa ein Streifchen der Haut im Nacken, die trotz des schwarzen Schleiers weiß schimmerte.

»Heilige Maria, bitte für uns,
Jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Die Chorknaben schwangen den Weihrauchkessel. Der Sonnenglast drückte nieder, es war trotz früher Jahreszeit eine schwere Luft in der Gasse.

An allen Scheiben Neugierige. Über Töpfe mit blühenden Zimmerblumen weg reckten sich Mädchenköpfe aus geöffneten Fenstern: »Ha, 'ne feine Leichezug!« Wer da alles mitging! Sie machten sich gegenseitig aufmerksam auf den und jenen: »Jesses Maria, auch der Landrat!« Ein hübscher Herr und sehr vornehm, der von Mühlenbrink! Ein schöner Mann, beinahe so schön wie der von Scheffler mit dem aufgedrehten Schnurrbart. Der kleine Leutnant konnte dagegen nicht an.

Als fühlte Landrat von Mühlenbrink alle auf ihn gerichteten Blicke, so ging er; er sah nicht auf. Es genierte ihn doch etwas, hinter diesem Sarge herzugehen. Aber was tut man nicht! Hier hieß es, mit den Wölfen heulen, und des war er sicher, heute würde seine Popularität erheblich steigen. Ein Landrat, der in seinem Kreise populär ist, ist wie ein König. Und dieser Kreis war interessant genug, er stellte Anforderungen, er brauchte eine ganze Kraft. Und war er denn nicht diese Kraft? Gewiß! Sonst hätte man ihn doch nicht hierhergesetzt. Er war noch jung, es war eine Auszeichnung – einen so großen Kreis! Es gab hier vieles zu schaffen; vorerst galt es einmal mit dem alten Schlendrian aufzuräumen, in diese verdummte Bäuerischkeit Licht und Luft zu bringen. Wenn es erst hieß: »das hat unser Landrat ins Leben gerufen, das haben wir dem zu verdanken – unser Landrat, unser Landrat« – ah, was ließ sich auf diesem so lange verabsäumten Boden nicht noch alles schaffen, ins Leben rufen! Unwillkürlich reckte er sich: nein, er vergab sich nichts, hinter diesem Sarge herzuschreiten; das schafft Vertrauen, und Vertrauen muß sich einer erwerben, der wirken will. Sie gingen ja auch alle mit – wahrhaftig, da hinten ja auch der Bürgermeister von Heckenbroich!

Den mußte er doch gleich nachher einmal abfassen; der machte sich ja so rar hier unten!

Der Zug, unter Gebet und Glockengeläut, war jetzt zur Stelle gelangt, wo der Weg sich teilt. Rechts steigt das Gäßchen zum Kirchhof hinan, links eine Straße zum Bahnhof hinauf. Hier, wo die Träger wechseln, pflegen die abzuschwenken, die der Höflichkeitspflicht Genüge getan haben. Schon drückte sich da einer und dort einer; man pflegte das meist heimlich zu tun, aber heute verstellte ein Trupp Männer die rettende Ecke.

Fünfzehn Männer in Drillichkitteln; einer wie der andere mit geschorenem Kopf. Und bei ihnen, mit dem Falkenauge sie überwachend, ein schwarzer Kerl in Militärhosen und mit einem Karabiner über dem Rücken. Das war der Aufseher, und das waren die Gefangenen.

Der Landrat kniff die Augen halb zu und trat dann rasch näher. Aha, da war ja der avisierte Kolonisationstrupp! Schon? Er hatte die Leute eigentlich erst im April erwartet; aber es konnte immerhin begonnen werden! Mit der Miene des Vorgesetzten musterte er den Aufseher. Der Mann gab ruhig seinen Blick zurück.

Mühlenbrink räusperte sich. »Ich bin der Landrat! Wie heißen Sie?«

»Bräuer.«

»Sie kommen soeben mit dem Morgenzug von Aachen?«

»Ich habe mich bei der Polizeibehörde zu melden.« Eine gewisse Unlust knurrte in des schwarzen Mannes Stimme.

»Ich bin die Behörde«, sagte der Landrat scharf. Er ärgerte sich über die knappe Antwort dieses Menschen und winkte hochmütig ab: »Sie können jetzt gehen. Ich werde mich bald davon überzeugen, wie die Sache vorangeht!«

»Zu Befehl!« Des Schwarzen Auge, scharf wie bei einem Falken, flog über die Drillichkittel; mit einem einzigen Blick umfaßte er sie alle: »Marsch!«

Trapp, trapp. Hart klapperten die groben Schuhe der Fünfzehn auf dem Steinpflaster.

Wie ein bissiger Hund, der seine Herde bewacht, lief der Aufseher nebenher. Finster waren die Blicke, die er auf neugierige Gaffer in der Straße schoß. Was blieben sie denn stehen und glotzten ihn und seine Kerls an? Es lief mancher Halunke noch frei in der Welt herum, der eigentlich hier zwischen die Drillichkittel gehörte! »Voran, marsch!« sagte er noch einmal und schlug einen noch schärferen Trab an.

»Stramme Kerls, was?« sagte der Platzkommandant und stellte sich neben dem Landrat auf. »Und gedrillt wie Rekruten. Der Schwarze ist natürlich Unteroffizier gewesen; merkt man gleich, noch gute militärische Zucht drin!«

»Ein sackgrober Kerl!« Es war etwas Gereiztes in Mühlenbrinks Ton.

Der andere lachte. »Alle Unteroffiziere sind grob, müssen grob sein, sonst sind sie nicht zu gebrauchen. Ich gehe jetzt zum Frühschoppen, kommen Sie mit? Sie sind ja heute so schlechter Laune, Mühlenbrink, was ist denn los?«

»Geschäfte!« Der Landrat krauste die Stirn.

»Äh, was, Geschäfte!« Der alte Major schwenkte hinüber in das andere Gasthaus, dessen Wirt sich für heute, da der »Schwan« geschlossen blieb, viel Zuspruch erhoffte.

Einer der Leidtragenden nach dem anderen verschwand im Bierlokal. Nur der, auf den Mühlenbrink wartete, spazierte noch immer nicht in die Wirtshaustür. Wo steckte denn der Bürgermeister von Heckenbroich? War er am Ende mit bis zum Kirchhof hinaufgegangen?

Der Landrat hatte schon ein paarmal ungeduldig den Weg emporgesehen, der, teils in Treppenstufen, teils über schieferige Platten führend, zur Kirchhofsley ansteigt.

Mit rüstigem Schritt, den rauhhaarigen Zylinder in der Hand tragend, kam jetzt der Bürgermeister von Heckenbroich von oben herunter.

»Endlich! Na, wo stecken Sie denn solange, lieber Herr Bürgermeister?«

»Ich hab' dem Wilhelm noch die letzte Ehr' erwiesen«, sagte ernst Bartholomäus Leykuhlen.

»Eine halbe Stunde warte ich auf Sie. Sie machen sich ja so rar! Ich wollte Ihnen einmal guten Tag sagen.«

»Zuviel Ehr' für mich!« Der bäuerliche Mann wischte sich ruhig mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und setzte dann den altmodischen Zylinder wieder auf. »Darf ich fragen, was der Herr Landrat von mir wissen möcht?« In den klaren Augen, die den anderen frei ansahen, konnte man nur eine gewisse erstaunte Frage bemerken, aber nichts von der Ironie, die doch das mißtrauische Ohr aus dem Ton der Stimme zu hören geneigt war.

»Ich – ich? Wissen?« Mühlenbrink lachte ein wenig nervös. »Gar nichts. Aber wie steht's eigentlich bei Ihnen oben? Was denken Sie, wird es viel Futter geben, dies Jahr? Und wie ist der Gesundheitszustand?«

»Da wollen Sie ja doch wat wissen!« Leykuhlen lachte ungeniert. »Und wat viel auf einmal, Herr Landrat, aber dat weiß nur der Himmel. Dat Frühjahr läßt sich trocken an, wird wohl knapp mit Wasser werden dies Jahr!«

»Aha, sehen Sie, lieber Freund! Sagte ich's Ihnen nicht längst? Wasserleitung müßten Sie anlegen!«

»Wasserleitung – wat soll die wohl unserm Jras nützen?! Ob wir viel Futter kriegen oder wenig, da ändert keine Wasserleitung wat dran.«

»Aber für den Gesundheitszustand ist es doch höchst wichtig. Ich bitte Sie, lieber Freund, diese veralteten Brunnen! Eine Wasserleitung bauen, schleunigst!«

»Wir haben kein Jeld«, sagte trocken der Bürgermeister.

»Sie haben aber doch eine so große Kirche gebaut – ein Dorf solche Kirche, schöner Unsinn! Für die hundertfünfundsiebzigtausend Mark – wieviel war es doch gleich, was die Gemeinde vom Militärfiskus für Abtretung des Weidelandes bekommen hat? – konnte die Gemeinde auf einen grünen Zweig kommen. Statt dessen – zu dumm, zu dumm!«

»Sie waren eben damals noch nit unser Landrat, Herr von Mühlenbrink«, sagte Bartholomäus Leykuhlen mit einem Lächeln. Übrigens ist die Kirch nit von dem Jeld jebaut, Sie irren, Herr Landrat! Aus freiwilligen Beiträgen ist sie erbaut. Et ist uns Herzenssach jewesen. Dat Jeld vom Militärfiskus haben wir noch.«

»Sie sind wirklich der einzige vernünftige Mensch hier!« Der Landrat legte vertraulich dem großen Mann seine Hand auf den groben Tuchrockärmel. »Kommen Sie ein bißchen mit mir, wir trinken ein Glas Wein bei mir zu Haus. Hier wird einem ja aus jedem Fenster zugehört!«

»Ich danke, Herr Landrat!« Leykuhlen lüftete den Zylinder. »Ich bin heut zu sehr pressiert. Die beste Kuh will kalben, da muß man selber zu Haus sein. Empfehle mich!«

Wieder ausgewichen! Eine Röte stieg dem Landrat in die Stirn. Ein eingebildeter Patron – wenn man ihn nur nicht so nötig brauchte! Kein Mensch hier, bei dem man sich bessere Informationen über Land und Leute holen konnte. Und keiner, der soviel Einfluß hätte bei diesen Bauern. Man mußte ihn für die Wasserleitung zu gewinnen suchen. Das Geld hatte die Gemeinde also doch noch nicht ganz verplempert – es wäre wirklich ein kolossaler Erfolg, könnte man die Wasserleitung durchsetzen!

Mit starken Schritten weit ausholend hatte Bartholomäus Leykuhlen das Pflaster bald hinter sich. Gott sei Dank, da war er in der Au! Noch einmal schaute er zurück, wie etwas Unangenehmem glücklich entronnen.

Er schlug den Fußweg nach Heckenbroich ein. Zwischen gewaltigen Tannen, an deren Ästen lange Bärte von Moos hängen, führte der steinige Pfad jäh bergan. Unten im engen Tal, in einem Felskessel eingepreßt, blieb das Städtchen zurück mit seiner überragenden Burg, mit seinen Treppen und Treppchen, seinen Winkeln und Gäßchen, mit seinen hoch an den Felsen hängenden, auf Ziegenpfaden nur erreichbaren Gartenfleckchen, mit seiner ganzen mittelalterlichen grauen Aufeinandergebautheit.

Der Landmann schüttelte den Kopf: wie man das nur schön finden konnte und malerisch! Wenn es nicht des Wilhelms wegen gewesen wäre, weiß Gott, er wäre heut nicht heruntergekrochen. An so einem lichten Tag erst recht nicht.

Der grauhaarige Mann fing an zu pfeifen wie ein Knabe. Wie warm das schon war! Und immer klarer der Sonnenschein, je weiter man von dem Neste abkam. Leidiges Pflaster! Was dem Mühlenbrink nun schon wieder einfiel! Leykuhlens Stirn umwölkte sich: Gesundheitszustand – veraltete Brunnen – ja wohl! Leykuhlen lachte auf und fing dann an, laut zu sprechen: »Wat de sich denkt! So dumm sind wir nit, unser jut Jeld so eraus zu schmeißen! Wasserleitung – ha, ha! Der is wohl jeck! Unsere Brunnen sind jut; Wasser drin kalt und klar. Un wenn et emal knapp is – no, Wasserleitungswasser würd doch kein Bauer trinken. Jesundheitszustand, Jesundheitszustand – jesund un krank, dat steht in Jottes Hand!«

Der Bürgermeister von Heckenbroich blieb stehen: wie schön war dieses Land, diese mißachtete Eifel! Und auch gesund. Fünfzig Jahre stand er nun schon auf dieser Erde, hatte die langen Winter und die noch längeren Regenzeiten über sich hingehen lassen, hatte als Kind vom einsamen Hof täglich eine Stunde Marsch zur Dorfschule gehabt und eine wieder zurück, war tropfnaß geworden und wieder trocken, und war doch alle Zeit gesund gewesen bis auf den heutigen Tag. Er streckte den Arm aus und schlug sich dann auf die Brust: das war ein Brustkasten! Und der Arm hier konnte frei in der Schwebe an die hundert Pfund halten ohne zu zittern.

»Sie machen wohl Freiübungen?« sagte plötzlich eine Stimme.

Leykuhlen sah auf.

Hinter einem großen Felsbrocken sprang ein Mann jetzt lebhaft auf: »Tag, Leykuhlen! Kennen Sie mich noch? Ich habe Sie schon von weitem erkannt!«

»Tag, Josef!« Leykuhlen streckte seine Hand hin. »Biste wieder hier? Ich hat et als jehört.«

Der andere blickte einen Augenblick verwundert, das »Du« war ihm doch ungewohnt, nachdem man sich so viele Jahre nicht gesehen hatte. Aber er fand sich in den Ton. »Bärtes«, sagte er herzlich, und ein liebenswürdiges Lächeln verschönte sein Gesicht, »das ist wahrhaftig nett von dir, daß du mich noch kennst. Mich haben nicht viele hier gekannt – oder sie wollten mich nicht kennen.« Das letzte sagte er mit einiger Verbissenheit. »Es ist eine verflucht schwere Situation, der Vetter eines reichen Mannes zu sein und selber kein Geld zu haben!« Er starrte zur Seite hinunter in das Tal, wo zwischen dem weißen Band der Chaussee und dem Bach die Tuchfabrik aufragte. »Da hat der Heinrich nun mit seinem Kasten das schöne Tal schimpfiert – der Banause! Sieh an, Bärtes, wie der Schornstein sich frech gegen die Tannen reckt! Und der Rauch stinkt – stinkt nach Lumpen, pfui!« Er spuckte aus. »Und nach Geld!«

Leykuhlen nickte. »Dat is wahr, zur Verschönerung trägt die Fabrik jrad nit bei. Aber mer darf doch nix sagen –« er zuckte die Achseln – »so wat jibt Brot!«

»Brot, Brot – trauriges Brot das! Morgens um sieben anfangen, abends um sieben aufhören – Lumpen, Gestank, erstickender Rauch – nicht mal Zeit am Mittag, was Warmes essen zu gehen. Ich habe zugesehen von hier oben, schon seit ein paar Tagen lungere ich hier herum. Siehst du, Bärtes?« Aufgeregt ergriff er den anderen beim Ärmel und zerrte ihn bis dicht zum Rand.

Gerade unter ihnen lag die Fabrik. Es hatte eben Mittag geläutet. Die Türe des Saales hatte sich geöffnet, heraus strömte ein ganzer Schwarm, ein Summen drang bis zu ihnen herauf.

»Siehst du, Bärtes, siehst du die Mädchen mit den roten Kattuntüchern um die Köpfe? Da – eine, zweie, dreie! Da sitzen sie nun auf den Lumpenballen, und mit denselben Fingern, die eben noch Lumpen sortiert haben – fremde Lumpen, Gott weiß woher, Lumpen, an denen die Pest sitzt, Tuberkulose, Krebs, was weiß ich – mit diesen selben Fingern brechen nun die armen Dinger ihr Brot. Ich habe zu Heinrich gesagt: ›Du bist ein Volksvergifter!‹ Da hat er mich ausgelacht: ›Volksbeglücker, willst du sagen. Was sollten die Leute denn anfangen, wenn sie meine Fabrik nicht hätten? Aus allen Ortschaften, drei Stunden weit, kommen die Mädchen gerannt, sie reißen sich um den Verdienst. Laß sie sich doch waschen, wenn ihnen meine Lumpen nicht rein genug sind, ein Brunnen steht im Hof, und im Bach ist Wasser genug.‹ So spricht mein Vetter – was sagst du dazu, Bärtes?!«

»Ja« – Leykuhlens heiteres Gesicht war ernst geworden – »dat is freilich mit den Lumpen en schmierige Sach, un an Waschen sind die Leut nit recht dran zu kriegen. Sie sind eben jewöhnt, mit Arbeitshänden ihr Brot zu essen. Und der Heinrich hat auch recht, wenn er sagt, dat seine Fabrik Verdienst in die Dörfer bringt, un doch wär et besser, sie ständ nit da. Et is auch wahr, nit alle können zu Haus bleiben, Kinder und Alte sin jenug da, um Vieh zu hüten. Aber mögen die Jungens jehen, in die Fabriken nach Aachen, Düren und über die Jrenz nach Verviers – um die Mädchens, um die is et mir leid!«

»Die Schwindsucht rennen sie sich an den Hals«, rief der andere heftig. »Sieh dir die Mädchen hier an, sehen die etwa stark aus? Spitznasig, schmalwangig, engbrüstig. Nicht wie Landmädchen, deren Wangen leuchten sollen wie rote Äpfel, deren Brüste das Mieder schwellen sollen, fest und rund!«

»No, no!« lächelnd klopfte ihm Leykuhlen auf die Schulter. »Biste noch immer der alte, Josef? Immer noch derselbe Hitzkopp? Haben dich zwanzig Jahr noch nit klein jekriegt? Hübsche Mädchens haben wir trotz der Fabriksarbeit, aber wat sie da lernen, dat is dat Schlimme! Keine jute Sitt!«

»Sitte hin, Sitte her! Aber sind das Mädel, die kräftige Kinder gebären können, die einem neuen Geschlecht das Leben geben sollen?«

»Och, Kinder haben wir jenug im Dorf. Beruhig dich, Josef! Besuch uns bald emal, da sollste wat zu sehen kriegen. In jedem Haus ihrer fünf, sechs – mindestens. Da is der Jörres Huesgen, der Weber, der hat en janze Heck voll. Acht Stück; un dat neunte is unterwegs!«

»Um Gottes willen!«

»No siehste! Die Eifel stirbt so bald noch nit aus. Die Mädchens haben fast all 'ne Schatz und –«

»Genug davon, Bärtes!« Josef Schmölder legte ihm hastig die Hand auf den Mund. »Es beelendet mich. Überall das gleiche. Und ich dachte, hier würde es anders sein – besser. Hier auf dieser Höhe, der der Himmel so nahe ist!« Mit Schwärmerei im Blick sah er sich um und breitete dann plötzlich beide Arme aus: »Mensch, was hast du es so gut, hier oben immer gelebt zu haben! Wie schön, wie unbeschreiblich schön!«

Sie hielten auf einer Lichtung, deren trockene Heidegräser versilbert standen in einer Flut von Licht. Kein Haus, kein höherer Berg hemmten hier die Aussicht. Da lagen unendliche Züge einsamer Heide mit schweigenden Tannenwäldern und tief einschneidenden Schluchten; im Grunde der Schluchten flossen Bäche, man sah nicht bis zu ihnen hinab, aber man sah den von der Sonne vergoldeten Duft, der von ihnen zu den Schluchträndern aufstieg. Noch zeigten die Matten von Heckenbroich nicht ihr saftiges Sommergrün, noch stieß der braune Rücken des Venns schwer und tot gegen die Helle des Horizonts, aber doch regte sich schon heimlich neues Leben, die Wellenlinie des Hochlands zeigte ein tieferes, wärmeres, besonntes Blauen. Die Weidenbüsche an den Moorlachen trugen weiche, grausilberige Kätzchen.

»Et will lenzen!« sprach der Landmann froh.

Josef Schmölder seufzte. Er stand in sich gekehrt.

»Du hast heut keinen juten Dag«, sagte Leykuhlen teilnahmvoll. Ihn faßte plötzlich ein Mitleiden, als er den anderen betrachtete, der, vornübergeneigt, mit grauem Gesicht und gegen den Wind hüstelnd, neben ihm stand. Arg mitgenommen sah der Josef aus, aber was sie im Städtchen über ihn klatschten, daß er sein Leben verludert, und daß er dem reichen Vetter recht zum Possen heimgekehrt sei, nein, das glaubte er nicht! Dem alten Kameraden, mit dem er ein paar Jahre unten in der Lateinschule zusammengesessen hatte, die Hand auf die Schulter legend, sprach er herzlich: »Wenn sie dir unten zuviel Fisematenten machen, dann kömmste herauf zu uns. Du bist herzlich willkommen, Josef. Mariechen wird sich auch sehr freuen!«

»Danke, danke!« Josef Schmölder drückte Leykuhlen die Hand, aber kein Lächeln der Freude erhellte sein abgespanntes, von vielen feinen Kritzchen verfältetes Gesicht. »Du bist ein guter Kerl, Bärtes! Aber ich glaube an Freundschaft nicht mehr. Ich habe viele Freunde in meinem Leben gehabt – wo sind sie?!« Er spitzte den Mund und blies in die Luft, wie man ein Stäubchen fortbläst. »Es mag an mir liegen. Ich tauge eben zu nichts. Ich möchte alles anders haben, als es ist, besser, schöner – nenn es Egoismus, nenn es Menschenliebe, wie du willst. Jedenfalls gefällt es mir nicht auf der Welt. Ich habe mich da und dort versucht. Erst war ich in London, dann in New York, sollte Propaganda machen für Schmölder und Kompagnie, aber ich konnte den Leuten nicht das Lumpentuch anschmieren. Tuch aus Lumpen gemacht! 's ist nichts wert – ich glaube, das habe ich gesagt!«

Leykuhlen sah ihn ganz verdutzt an. »Aber, Josef, sie machen doch gar kein Hehl draus, dat sie Lumpen zur Fabrikation verwenden! Ihre Tuche sind eben darum billiger.«

»Lug und Trug, darin wie in allem!« Heftig stampfte Josef Schmölder mit dem Fuß auf. »Ich tauge nicht zum Kaufmann. Gelernt hab' ich nichts anderes, Talente hab' ich auch weiter nicht, meine Gesundheit ist zum Teufel, nervös bin ich, ha, so nervös!« Er faßte sich an den Kopf mit beiden Händen. »Geld habe ich keins, nie habe ich was in der Tasche halten können, die Finger haben mich gejuckt, bis es 'raus war. Nun bin ich untergekrochen. Nun esse ich das Gnadenbrot.« Er lachte bitter. »Wenig stolz, wirst du sagen, hast recht, ich bin ein Lump, ein Feigling, ein – ein« – er suchte noch nach einem stärkeren Ausdruck, fand ihn aber nicht und sagte dann kleinlaut: »Ein gänzlich reduzierter Mensch!«

Also, es war doch wahr, was sie unten sagten? Verjuxt hatte der Josef alles, und nun war er heimgekommen. Heinrich Schmölder nicht zu verdenken, daß er ein schiefes Gesicht zog. Aber schlecht war der Josef nicht, nein, wahrhaftig nicht! Und sich selber in seiner ganzen bäuerischen Kraft reckend schrie Leykuhlen laut: »Jung, du machst dich viel schlechter als du bist! Du bist kein Lump und auch kein Feigling, dir fehlt nur dat, wat uns stark macht, und frei und aufrecht. Du hast kein rechtes Zuhaus. Siehste, ich sag et ja immer: en eigen Haus, en eigen Stück Land – un sei et noch so jering – dat jibt 'ne Stolz: hier steh ich auf meinem Jrund, nur Jott über mir!« Er hatte sich in Feuer geredet. Es war etwas Leidenschaftliches über den ruhigen Mann gekommen; man sah es an seinen Augen, es sprühte darin. Er schlug dem Jugendfreund mit einem so kräftigen Schlag auf die Schulter, daß diesem fast die Knie einknickten: »Besuch mich nächsten Sonntag. Da hab' ich Zeit. Da wollen wir weiter über die Sach reden. Et interessiert mich, wat du derjegen zu sagen hast!«

»Ich habe ja gar nichts dagegen zu sagen!« Plötzlich erheitert, lachte der andere fast. Aber sein Gesicht verdüsterte sich rasch wieder. »Es ist eben nicht jedem vergönnt, auf eigener Scholle zu sitzen. Man möchte hadern gegen den Gott – wenn es einen gibt – der die Lose so ungleich verteilt hat.«

»Nu hör aber auf!« Der Bürgermeister wurde grob. »Wenn du mit Philosophieren anfängst, dann haste verspielt. Da kömmt nix bei eraus. Du bist wohl rein jeck? ›Wenn et 'ne Jott jibt‹ – da schlag doch en Donnerwetter drein – jewiß jibt et 'ne Jott, wenn wir uns ihn auch nit so vorstellen können, wie die Kinder sich ihn denken, mit langem weißen Bart auf 'nem joldnen Stuhl. Jott ist über uns, er sieht uns und kehrt bei uns ein im heiligen Sakrament. Den Jlauben soll mir keiner nehmen, nee!«

»Du Glücklicher!« Josef Schmölder lächelte trüb, und dann streckte er dem Jugendfreund die Hand hin: »Adjüs, Bärtes! Ich komme dich besuchen. Grüß deine Frau – und nichts für ungut!«

Sie wollten sich eben trennen, als sie von einem Mädchen gestreift wurden. Eiligen Schritts, fast im Lauf, stürmte die junge Person den Fußpfad herauf.

»No, Bärb«, rief Leykuhlen, »wo kommst du dann här? Jehst du dann net mehr nach der Fabrik?«

Die schwarzen Augen blickten nur rasch von der Seite. »Dag zusammen«, sagte das Mädchen atemlos.

»Wat läufst du dann den Berg herauf?« Der Bürgermeister hielt sie an. »Wülste dir de Lunge aus 'm Hals rennen?«

Das Mädchen schien das für einen Witz zu nehmen, es kicherte in sich hinein; aber dann machte es sich, ernst werdend, rasch wieder frei: »Loßt mich jonn, Hähr! Mein Motter is arg krank, seit diese Morje. Do konnt ich nit no'r Fabrik jonn. Mir hat die Frau jehollt, do sagt die: Hohlt den Dokter. Do bin ich geloofe, han en äwer nit anjetroffe, de wor no'm Begräfniß vom Hähr aus 'm ›Schwan‹. Do bin ich no'm annere jejange, de wor beim Frühschoppe, äwer de will nu diese Vormittag komme!«

»Wie is et dann mit der Mutter, Bärb? Is dat Kind schon da?«

»Jo, 'ne düchtige Jong, Hähr Burjermeester«, sagte das Mädchen mit Stolz. »Äwer mein Motter is sehr schwach. Se liegt janz still un säät nühst.«

»Wer is dann bei ihr?«

»De Tünnes on et Drückche, de Jilles on de Dores; de anneren sin no'r Schull.«

»Biste jeck?« Ganz wütend fuhr Leykuhlen das Mädchen an. »Läuft dat fort und läßt die kranke Frau mit den kleinen Kindern janz allein liegen!«

Das Mädchen brach in Tränen aus: »Wat soll ich dann maache? Mein Vatter is in Aachen, der kömmt nit bis Samstag Abend. Uns Doresche kriegte jestern die Krämpf, dadrüber hat de Motter sich so erschreckt. Sie hätt jut dabei bleibe könne, hat die Frau gesaat.«

Das war eine bedenkliche Sache! Der Bürgermeister wischte sich über die Stirn. »Lauf ens flott, Bärb, lauf! Lauf bei mein Frau, se soll jleich mit dir jehn. Und aus dem Keller soll se dir en Flasch Champagner jeben – Champagnerwein, Bärb, verstehste mich? Davon jebt der Mutter alle halbe Stund 'ne Löffel ein. Ich hol' den Doktor!«

»Laß mich ihn holen! Geh du mit dem Mädchen!« Rasch entschlossen hielt Schmölder den Freund zurück. »Ich möchte auch was tun – helfen! Ich bitte dich, geh mit ihr. In zwanzig Minuten bin ich schon unten – ich schicke ihn sofort herauf!«

Er wartete gar keine Entgegnung mehr ab. Er hörte kaum, daß der andere hinter ihm drein schrie: »Huesgen, bei Weber Huesgen, am grünen Klee!« In elastischen Sprüngen, plötzlich jünger geworden, setzte Josef den steilen Pfad hinunter.


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